Leitsatz (amtlich)
1. Die in RVO § 1255 Abs 7 S 2 enthaltene Ausnahme von dem Grundsatz, daß Beitragszeiten Vorrang vor den beitragslosen Zeiten haben, gilt auch für Beitragszeiten auf Grund versicherungspflichtiger Beschäftigung.
2. Bei der Errechnung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage bleiben Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung der Arbeiter unberücksichtigt, die während einer nach RVO § 1259 Abs 1 Nr 3 und Abs 3 als Ausfallzeit anrechenbaren Zeit der Arbeitslosigkeit auf Grund geringfügiger Beschäftigung (AVAVG § 75 Abs 2, AFG § 102) entrichtet worden sind.
3. RVO § 1255 Abs 7 S 2 ist nicht anzuwenden, wenn in demselben Monat, in dem die Ausfallzeit beginnt oder endet, ein Pflichtbeitrag geleistet worden ist.
Normenkette
RVO § 1255 Abs. 7 S. 2 Fassung: 1965-06-09, § 1259 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09, Abs. 3 Fassung: 1965-06-09; AVAVG § 75 Abs. 2; AFG § 102 Fassung: 1969-06-25
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. März 1972 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß bei der Berechnung der Rente des Klägers anstelle der Beiträge für die Zeit vom 24. Januar bis 14. Februar 1957 lediglich die Beiträge für die Zeit vom 1. bis 14. Februar 1957 unberücksichtigt bleiben.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, wie die Rente zu berechnen ist, die der Kläger wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) aus der Rentenversicherung der Arbeiter (ArV) bezieht.
Der Kläger ist, nachdem er bis dahin versicherungspflichtig beschäftigt gewesen war, in den Jahren von 1954 an wiederholt während längerer Zeiträume als Arbeitsuchender beim Arbeitsamt gemeldet gewesen und hat Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe bezogen. Innerhalb dieser - im Urteil des Landessozialgerichts (LSG) im einzelnen angegebenen - Zeiträume hat er kurzfristig und gegen geringfügiges Entgelt gearbeitet (§ 75 Abs. 2, § 66 Abs. 2 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung - AVAVG -) und sind für ihn - niedrige - Pflichtbeiträge zur ArV abgeführt worden. Die Beteiligten sind unterschiedlicher Meinung darüber, ob und in welcher Weise solche Pflichtbeiträge - geleistet innerhalb von Zeiten einer fortbestehenden Arbeitslosigkeit, die nach § 1259 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) als Ausfallzeiten anrechenbar sind - bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen sind.
Die Beklagte hat mit Bescheid vom 26. März 1971 die Rente des Klägers berechnet und dabei die während der Zeiten der Arbeitslosigkeit entrichteten Pflichtbeiträge bei der Ermittlung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage berücksichtigt. Der Kläger hat demgegenüber auf § 1255 Abs. 7 Satz 2 RVO hingewiesen und geltend gemacht, die während der Zeiten der Arbeitslosigkeit entrichteten Beiträge müßten für die persönliche Rentenbemessungsgrundlage unberücksichtigt bleiben; soweit sie für Zeiten nach dem 31. Dezember 1956 entrichtet worden seien, müßten sie nach § 1260 a RVO wie Beiträge der Höherversicherung angerechnet werden. Bei dieser Berechnung ergibt sich für den Kläger ein etwas höherer Rentenzahlbetrag.
Das Sozialgericht (SG) und das LSG sind der Rechtsauffassung des Klägers gefolgt (Urteile vom 16. November 1971 und vom 28. März 1972). Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das Urteil des LSG hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung der §§ 1250, 1255 Abs. 7, 1259 Abs. 1 Nr. 3 und 1260 a RVO.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG Niedersachsen vom 28. März 1972 sowie des SG Oldenburg vom 16. November 1971 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im wesentlichen unbegründet. Sie ist mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß bei der Berechnung der Rente des Klägers anstelle der Beiträge für die Zeit vom 24. Januar bis zum 14. Februar 1957 lediglich die Beiträge für die Zeit vom 1. bis 14. Februar 1957 unberücksichtigt bleiben.
Das LSG hat - bis auf einen geringfügigen Punkt - zutreffend entschieden, daß bei der Ermittlung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage die während der Zeiten der Arbeitslosigkeit des Klägers entrichteten Pflichtbeiträge unberücksichtigt bleiben (§ 1255 Abs. 7 Satz 2 RVO) und, soweit sie nach dem 31. Dezember 1956 entrichtet worden sind, als Beiträge der Höherversicherung anzurechnen sind (§ 1260 a RVO).
Nach § 1255 Abs. 7 Satz 2 RVO bleiben u. a. die während einer anzurechnenden Ausfallzeit entrichteten Beiträge bei der Anwendung der Absätze 1 und 3 des § 1255 RVO unberücksichtigt. Diese Vorschrift ist durch Art. 1 § 1 Nr. 19 Buchst. d) des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476) in die RVO eingefügt worden und mit Wirkung vom 1. Januar 1966 an in Kraft getreten (Art. 5 § 10 Abs. 1 d RVÄndG). Sie ist Teil der Neuordnung, die das RVÄndG zur Beseitigung aufgetretener Härten für die Bewertung der beitragslosen Zeiten gebracht hat (vgl. auch §§ 1255 a und 1260 a RVO), und hat ersichtlich den Zweck, Rentenberechtigte vor wirtschaftlichen Nachteilen zu bewahren, die ihnen bei der Rentenberechnung entstünden, wenn dabei in jedem Falle ausnahmslos die geleisteten Beiträge berücksichtigt würden (vgl. BT-Drucks. IV/2572 vom 23. September 1964, Begründung zu Nr. 12, Seite 25). Denn die Praxis hatte gezeigt - z. B. bei Pflichtbeiträgen der Berliner Studenten oder bei freiwilligen Beiträgen, die früher in Zeiten der Arbeitslosigkeit zur Erhaltung der Anwartschaft entrichtet worden sind -, daß derartige, regelmäßig niedrige Beiträge, welche die im allgemeinen höher bewerteten Ausfallzeiten verdrängten, die Rente minderten, während dies bei Versicherten, für die in Ausfallzeiten keine Beiträge entrichtet worden waren, nicht der Fall war (vgl. von Gellhorn zur Bewertung der beitragslosen Zeiten, BABl 1965, 588, hier: 591 ff; Pappai, Versicherungsjahre, 3. Ausfallzeiten, BABl 1965, 599, hier: 600 ff). Auch im vorliegenden Streitfall handelt es sich um niedrige und nur sporadisch geleistete Beiträge, die, wenn sie angerechnet werden, die Rentenbemessungsgrundlage des Klägers herabdrücken und die Rente niedriger werden lassen, als wenn die Beiträge hierbei außer Betracht bleiben und dafür die unstreitig anrechenbaren Ausfallzeiten in vollem Umfang berücksichtigt werden. Damit sind aber die Voraussetzungen für die Anwendung des § 1255 Abs. 7 Satz 2 RVO gegeben.
Die Revision der Beklagten verkennt nicht, daß das Gesetz mit § 1255 Abs. 7 Satz 2 RVO den Sinn und Zweck verbindet, ein Herabsinken der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage durch geringfügige Beiträge zu verhüten. Sie hält die Vorschrift jedoch für unanwendbar in einem Fall, in dem - wie hier - während einer fortbestehenden Arbeitslosigkeit Beiträge für eine versicherungspflichtige Beschäftigung entrichtet sind; sie will die Vorschrift insoweit nur auf freiwillig geleistete Beiträge anwenden. Nach ihrer Auffassung endet die in § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO angesprochene "Unterbrechung" der versicherungspflichtigen Beschäftigung, die das Entstehen einer Ausfallzeit zur Folge hat, mit der Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung durch den Arbeitslosen. Sie entnimmt ferner der Regelung in § 1250 Abs. 3 RVO die Auffassung, daß jeder Monat, in dem ein Pflichtbeitrag entrichtet worden ist, als voller Pflichtbeitragsmonat zu gelten hat, und zieht daraus den Schluß, daß ein solcher Monat keine Ausfallzeit sein kann. Die Revision hält es im Einzelfall auch für möglich, daß durch Pflichtbeiträge für geringfügige Beschäftigungen im Sinne von § 66 AVAVG der Vomhundertsatz eines Versicherten nicht gemindert, sondern erhöht wird und sieht Schwierigkeiten für das Problem der Grenzziehung.
Die Einwendungen der Revision sind letztlich unbegründet. Zwar hat auch das Bundessozialgericht (BSG) in seiner bisherigen Rechtsprechung den Grundsatz hervorgehoben, daß eine Zeit, während der ein Versicherter eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat und Beiträge entrichtet worden sind, nicht als Ausfallzeit anerkannt werden kann (vgl. SozR Nr. 21 zu § 1259 RVO). An diesem Grundsatz hat § 1255 Abs. 7 Satz 2 RVO nichts geändert, soweit es sich um die Anrechnung eines Pflichtbeitrags für den Monat handelt, in dem die Ausfallzeit der Arbeitslosigkeit beginnt oder endet. Durch das Wort "während" in § 1255 Abs. 7 Satz 2 RVO ist hinreichend gekennzeichnet, daß nur solche Beiträge bei Ermittlung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage ausgelassen werden sollen, die innerhalb einer anzurechnenden Ausfall- oder Zurechnungszeit geleistet worden sind, nicht aber solche Beiträge, die vorher oder nachher liegen. Wird daher für den Kalendermonat, in dem die Ausfallzeit beginnt oder in dem sie endet, ein Pflichtbeitrag entrichtet, so ist dieser bestimmend dafür, daß der betreffende Monat als Beitragszeit anzusehen ist.
Der unter der Geltung der RVO in der Fassung des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) ausgesprochene Grundsatz, daß Beitragszeiten stets den beitragslosen Zeiten vorgehen, ist aber für Beitragszeiten, die in eine nach § 1259 Abs. 3 bzw. § 1260 Satz 2 RVO anzurechnende Ausfall- oder Zurechnungszeit fallen, d. h. nach deren Beginn liegen, für die Anwendung der Absätze 1 und 3 des § 1255 RVO, d. h. für die Errechnung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage durchbrochen worden. Dabei ist in § 1255 Abs. 7 Satz 2 RVO allein von Beiträgen die Rede, die während einer anzurechnenden Ausfall- oder Zurechnungszeit entrichtet worden sind, ohne daß zwischen Beiträgen auf Grund Pflichtversicherung oder freiwilliger Versicherung unterschieden wird. Eine solche Unterscheidung und eine Anwendung der Vorschrift allein beim Vorliegen von freiwilligen Beiträgen widerspräche aber nicht nur dem Wortlaut, sondern auch dem Sinn und Zweck der Vorschrift und den damit vom Gesetzgeber verfolgten Absichten. Die Vorschrift muß, wie der Hinweis auf die Pflichtbeiträge der Berliner Studenten in den Erläuterungen von Pappai und von Gellhorn aaO zeigt, auch dann anwendbar sein, wenn Pflichtbeiträge entrichtet worden sind. Gerade in Fällen der vorliegenden Art, in denen während einer fortbestehenden, mit Unterstützungsbezug verbundenen Arbeitslosigkeit im Rahmen der sich aus § 75 Abs. 2 AVAVG (§ 102 des Arbeitsförderungsgesetzes - AFG -) ergebenden Möglichkeiten Beschäftigungen in geringfügigem Umfang stattgefunden haben und Beiträge in niedriger Höhe entrichtet worden sind, besteht ein Bedürfnis, den Versicherten die vom Gesetz beabsichtigte Vergünstigung zukommen zu lassen und ein Herabsinken ihrer Rentenbemessungsgrundlage - allein als Folge der geringfügigen Beschäftigung - zu verhüten. Gegenüber diesem mit der Sondervorschrift angestrebten Ziel müssen Erwägungen, die sich aus dem System und dem Aufbau des Gesetzes im Grundsatz ergeben, zurücktreten. Dabei kann für den vorliegenden Fall, in dem während der fortbestehenden Arbeitslosigkeit Beiträge nur in niedriger Höhe geleistet worden sind, welche die Höhe der Rente des Klägers herabdrücken, offen bleiben, ob es Fälle gibt, in denen die Anwendung der Vorschrift des § 1255 Abs. 7 Satz 2 RVO zu einer Benachteiligung des Versicherten führen kann und wie die Vorschrift in derartigen Fällen alsdann zu handhaben wäre.
Damit ergibt sich für den hier zu entscheidenden Fall:
Der Kläger war arbeitslos (Ausfallzeit gemäß § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO): vom 14. Januar 1954 bis zum 24. April 1955, vom 21. Januar 1957 bis zum 6. Mai 1957, vom 22. Mai bis zum 17. Juni 1957, vom 10. August bis zum 25. August 1957 und vom 12. April bis zum 29. August 1958. Vor oder nach diesen Ausfallzeiten sind für die Monate Januar 1954 und April 1955, Januar und Mai 1957, Juni und August 1957 sowie April 1958 Beiträge entrichtet worden. Für diese Monate sind die entsprechenden Beiträge anzurechnen; die in dieselben Monate fallenden anzurechnenden Ausfallzeiten sind bei der Ermittlung der persönlichen Bemessungsgrundlage außer Betracht zu lassen. Demnach bleiben von diesen Ausfallzeiten folgende Zeiten: vom 1. Februar 1954 bis zum 31. März 1955, vom 1. Februar bis zum 30. April 1957, vom 1. Mai bis zum 29. August 1958. Während dieser Ausfallzeiten sind Beiträge für folgende Zeiten mit folgenden Entgelten entrichtet worden:
|
Zeit |
Entgelt DM |
1. - 31.7.1954 |
32,98 |
1.9. - 22.10.1954 |
57,16 |
23.10. - 21.12.1954 |
135,16 |
1. - 14.2.1957 weniger als |
50,01 |
1. - 2.3.1957 |
34,65 |
7. - 8.3.1957 |
26,10 |
21.3.1957 |
12,- |
30.3.1957 |
6,75 |
6.5.1958 |
12,40. |
Diese für die genannten Zeiten entrichteten Beiträge sind gemäß § 1255 Abs. 7 Satz 2 RVO bei der Ermittlung der persönlichen Bemessungsgrundlage unberücksichtigt zu lassen.
Das LSG hat dies bis auf eine Zeit zutreffend erkannt. Richtigzustellen ist lediglich, daß nicht auf den Zeitraum vom 24. Januar bis zum 14. Februar 1957 mit einem Entgelt von 50,01 DM abzuheben ist, sondern auf denjenigen vom 1. bis 14. Februar 1957 mit einem niedrigeren Entgelt als 50,01 DM, da für den Monat Januar 1957 Pflichtbeiträge anzurechnen sind.
Soweit im Tatbestand des angefochtenen Urteils (Seite 3) das Entgelt für die Zeit vom 23. Oktober bis zum 21. Dezember 1954 mit 135, 16 DM angegeben ist, ist dem Berufungsgericht hier, wie der Vergleich mit der entsprechenden Eintragung in der Quittungskarte Nr. 3 (dort: 135, 60 DM) ergibt, ein gemäß § 138 SGG berichtigungsfähiger Schreibfehler unterlaufen.
Zutreffend hat schließlich das LSG entschieden, daß die nach dem 31. Dezember 1956 entrichteten Beiträge, die nach § 1255 Abs. 7 Satz 2 RVO unberücksichtigt bleiben, gemäß § 1260 a RVO als Beiträge der Höherversicherung anzurechnen sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen