Leitsatz (redaktionell)
Da das SGG über eine Terminverlegung keine Bestimmungen enthält, und grundsätzliche Unterschiede zwischen Zivilprozeß und dem Verfahren in der Sozialgerichtsbarkeit nicht bestehen, kann nach ZPO § 227 das Gericht aus erheblichen Gründen auf Antrag oder von Amts wegen einen Termin verlegen.
Der Grundsatz, daß das Verfahren möglichst in einer mündlichen Verhandlung abgeschlossen ist, kann dem Erfordernis des rechtlichen Gehörs nicht vorgehen.
Normenkette
SGG § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 227 Abs. 1 S. 1; SGG § 62 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle vom 7. Dezember 1961 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Das Versorgungsamt (VersorgA) hatte den Antrag des Ehemannes der Klägerin zu 1), Vaters des Klägers zu 2) auf Gewährung von Versorgung zunächst wegen Fristversäumnis zurückgewiesen. Auf den Widerspruch, mit dem ein von dem behandelnden Arzt - er hatte sich bereits zuvor geäußert - angefertigter Auszug aus dem Bericht des Krankenhauses Schwarmstedt vorgelegt worden war, hat das VersorgA ein versorgungsärztliches Gutachten von dem Facharzt für innere Krankheiten Dr. H... vom 3. Januar 1956, eine Äußerung des behandelnden Arztes und einen Krankheitsbericht des Krankenhauses Schwarmstedt eingeholt und hat, gestützt auf die innerfachärztliche Stellungnahme des. Dr. H... vom 11. Juni 1956, den Widerspruch zurückgewiesen, weil die geltend gemachte Nieren- und Herzerkrankung nicht Schädigungsfolge im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sei. Im Laufe des Klageverfahrens ist der Ehemann der Klägerin zu 1) gestorben. Die jetzigen Kläger, die ihn beerbt haben, haben das Verfahren fortgesetzt. Das Sozialgericht (SG) hat ein Gutachten des Privatdozenten Dr. Sch... von der Medizinischen Universitäts-Klinik Göttingen mit Nachtrag sowie eine Stellungnahme des Obermedizinalrats Dr. O... und einen Befundbericht des Krankenhauses Schwarmstedt eingeholt. Es hat die Klage abgewiesen, weil nach dem Gutachten des Privatdozenten Dr. Sch... die festgestellten Leiden nicht wahrscheinlich auf schädigende Einflüsse des Wehrdienstes bzw. der Kriegsgefangenschaft zurückgeführt werden könnten.
Die Kläger haben Berufung eingelegt und die Einholung eines Obergutachtens von Amts wegen angeregt. Der Beklagte hat das Urteil des SG für zutreffend gehalten und eine Stellungnahme des Facharztes für innere Krankheiten, Oberregierungsmedizinalrat Dr. von B., vorgelegt. Durch Verfügung des Berichterstatters vom 13. November 1961 sind die Kläger u.a. darauf hingewiesen worden, daß vorbehaltlich einer Entscheidung des Senats nicht beabsichtigt sei, von Amts wegen Beweis durch Einholung eines weiteren Gutachtens zu erheben. Der Antrag auf Einholung eines Obergutachtens werde nicht als Beweisantrag gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) angesehen. Den Klägern werde bis zum 30. November 1961 Gelegenheit gegeben, weitere vorbereitende Schriftsätze vorzulegen. Mit Schriftsatz vom 29. November 1961 haben die Kläger die Einholung eines Gutachtens gemäß § 109 SGG beantragt, sich bereiterklärt, den erforderlichen Kostenvorschuß einzuzahlen und beantragt, den zwischenzeitlich auf den 7. Dezember 1961 anberaumten Termin erst nach Eingang des Gutachtens anzuberaumen Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 7. Dezember 1961 sind die Kläger ausgeblieben. Auf Antrag des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) nach Lage der Akten entschieden und durch Urteil die Berufung zurückgewiesen. Es hat die verschiedenen, bei dem Ehemann der Klägerin zu 1) diagnostizierten Leiden und ihren Zusammenhang mit Einflüssen des Wehrdienstes und der Kriegsgefangenschaft erörtert und hat einen Zusammenhang - ebenso wie das SG - nur für möglich, nicht für wahrscheinlich erachtet. Die Einholung des Gutachtens von Amts wegen hat es für nicht erforderlich gehalten. Ein Beweisantrag, der nach § 109 SGG zu beachten gewesen wäre, habe nicht vorgelegen; denn es sei weder ein Arzt namentlich benannt noch so bezeichnet worden, daß er bestimmbar sei.
Die Kläger haben Revision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts vom 7. Dezember 1961 und unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Hannover vom 11. Februar 1960 den Klageantrage zu entsprechen.
Sie rügen mit näherer Begründung eine Verletzung der §§ 62, 103, 106, 126, 136 SGG und machen insbesondere geltend, im Hinblick auf die verschiedenen ärztlichen Unterlagen, insbesondere auf die Berichte des Krankenhauses Schwarmstedt, sei ein Obergutachten von Amts wegen erforderlich gewesen. Der Antrag auf Terminsverlegung habe seinen Sinn darin gehabt, daß ein für die Begutachtung geeigneter und bereiter Arzt gefunden werden und die Kläger für die Bereitstellung der Kosten Sorge tragen mußten. Die Entscheidung des LSG ohne zuvorige Bescheidung auf den Verlegungsantrag sei ein Mangel im Sinne des § 62 SGG.
Der Beklagte hat keine Stellungnahme abgegeben.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die Kläger haben die Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Das Rechtsmittel ist zwar vom LSG nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Es findet aber statt, weil ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 GGG gerügt wird und vorliegt (BSG 1, 150).
Zu den Grundgedanken, die das Verfahren vor den Sozialgerichten bestimmen, gehört nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG 1, 277 ff, 278) der Grundsatz der mündlichen Verhandlung (§ 124 Abs. 1 SGG). Wenn das Gericht auch im sozialgerichtlichen Verfahren den Sachverhalt von Amtswegen zu erforschen hat (§ 103 SGG), so behält die mündliche Verhandlung doch auch in diesem Verfahren die vom Gesetzgeber als wesentlich erachtete Aufgabe, den Streitstoff mit den Beteiligten erschöpfend zu erörtern. Die mündliche Verhandlung ist ein Mittel zur Verwirklichung des den Beteiligten verbürgten rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG). Die Beteiligten haben deshalb grundsätzlich ein Recht darauf, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Dieses Wesensmerkmal der mündlichen Verhandlung bestimmt auch die Voraussetzungen, welche den Antrag der Beteiligten auf Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung zu rechtfertigen vermögen.
Da das SGG über eine Terminsverlegung keine Bestimmungen enthält und grundsätzliche Unterschiede zwischen dem Zivilprozeß und dem Verfahren in der Sozialgerichtsbarkeit nicht bestehen, kann nach § 227 der Zivilprozessordnung (ZPO) in Verbindung mit § 202 SGG das Gericht aus erheblichen Gründen auf Antrag oder von Amts wegen einen Termin verlegen. Der Grundsatz, daß das Verfahren möglichst in einer mündlichen Verhandlung abzuschließen ist (§ 106 Abs. 2 SGG), kann dem Erfordernis des rechtlichen Gehörs aus rechtsstaatlichen Gründen nicht vorgehen. Wenn erhebliche Gründe vorlagen, so ist ein Termin zur Sicherung des rechtlichen Gehörs zu verlegen. Das gilt auch, wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält. Der Vortrag eines Beteiligten in der mündlichen Verhandlung kann dazu führen, daß das Gericht neue Gesichtspunkte für wesentlich erachtet.
Letzteres trifft auf den vorliegenden Fall ganz besonders zu, weil die Kläger in Schriftsatz vom 29. November 1961 zum Ausdruck gebracht haben, daß sie die Einholung eines Gutachtens gemäß § 109 SGG beabsichtigen. Infolgedessen mußte damit gerechnet werden, daß dieser Antrag noch näher begründet würde. Auch wenn er in der mündlichen Verhandlung gestellt werden wäre, so wäre er nicht verspätet gewesen, weil die Kläger erst durch die am 15. November 1961, also zwei Wochen vorher übersandte Mitteilung des Berichterstatters vom 13. November 1961 erfahren hatten, daß eine weitere Beweisaufnahme nach § 103 SGG nicht beabsichtigt sei.
Schließlich war auch zu berücksichtigen, daß der Sinn des rechtlichen Gehörs nicht nur die Aufklärung des Sachverhalts, sondern auch die Wahrung der Würde des Rechtsgenossen ist (BSG in SozR SGG § 62 Bl. Da 2 Nr. 6; BVerfG in NJW 1958, 665). Dem allen aber ist durch das Verfahren des LSG nicht Rechnung getragen, so daß der gerügte Mangel einer Verletzung des § 62 SGG durchgreift. Da bereits dieser Verfahrensmangel vorliegt, brauchte nicht geprüft zu werden, ob auch die weiteren Vorschriften des SGG, welche die Kläger in der Revisionsbegründung aufgeführt haben, verletzt sind (BSG in SozR § 162 Bl. Da 36 Nr. 122).
Die Revision ist sonach statthaft. Sie ist auch begründet, weil die Verletzung des rechtlichen Gehörs eine nochmalige Verhandlung vor dem LSG erforderlich macht. Eine Entscheidung durch den Senat ist deshalb nicht tunlich. Infolgedessen war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Da die Voraussetzungen der §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG erfüllt waren, konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.
Fundstellen