Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsatz der mündlichen Verhandlung. Antrag auf Terminsverlegung. Verletzung des rechtlichen Gehörs
Orientierungssatz
1. Wenn das Gericht auch im sozialgerichtlichen Verfahren den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen hat (§ 103 SGG), so behält die mündliche Verhandlung doch auch in diesem Verfahren die vom Gesetzgeber als wesentlich erachtete Aufgabe, den Streitstoff mit den Beteiligten erschöpfend zu erörtern. Die mündliche Verhandlung ist ein Mittel zur Verwirklichung des den Beteiligten verbürgten rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG). Die Beteiligten haben deshalb grundsätzlich ein Recht darauf, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Dieses Wesensmerkmal der mündlichen Verhandlung bestimmt auch die Voraussetzungen, welche den Antrag der Beteiligten auf Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung zu rechtfertigen vermögen.
2. § 27 ZPO iVm § 202 SGG kann das Gericht aus erheblichen Gründen auf Antrag oder von Amts wegen einen Termin verlegen. Der Grundsatz, daß das Verfahren möglichst in einer mündlichen Verhandlung abzuschließen ist (§ 106 Abs 2 SGG), kann dem Erfordernis des rechtlichen Gehörs aus rechtsstaatlichen Gründen nicht vorgehen.
Normenkette
SGG § 103 S. 1 Fassung: 1974-07-30, § 62 Fassung: 1953-09-03, § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 227; SGG § 106 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 124 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt vom 13. Dezember 1961 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Beim Kläger sind durch mehrere Bescheide verschiedene Leiden als Folgen von Schädigungen im Dienste bei der Reichswehr und im Wehrdienst zum Teil als entstanden, zum Teil als verschlimmert anerkannt und ihm Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v.H. gewährt worden. Nachdem der Widerspruch und die Klage erfolglos geblieben waren, hat der Kläger mit der Berufung die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen, insbesondere einer Trigeminusneuritis und Ohrenbeschwerden sowie die Gewährung von Rente nach einer MdE um 50 v.H. beantragt. Nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung ist dem Kläger durch Telegramm vom 11. Dezember 1961 mitgeteilt worden, sein persönliches Erscheinen sei angeordnet. Durch Schreiben vom 10. - eingegangen beim Landessozialgericht (LSG) am 12. Dezember 1961 - hatte der Kläger angezeigt, er könne wegen Erkrankung an der mündlichen Verhandlung vom 13. Dezember 1961 nicht teilnehmen und hat gebeten, sie auf Januar 1962 zu verlegen. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 13. Dezember 1961 ist der Kläger nicht erschienen. Der Beklagte hat die Anerkennung von Schädigungsfolgen dahin ergänzt, daß auch Trigeminusneuritis, verschlimmert durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), Schädigungsfolge sei. Im übrigen hat er beantragt, die Berufung zurückzuweisen und nach Aktenlage zu entscheiden. Das LSG hat beschlossen: "Nachdem der Beklagte die Trigeminusneuralgie als weitere Schädigungsfolge anerkannt hat, wird die Anordnung des persönlichen Erscheinens des Klägers aufgehoben". Es hat sodann durch Urteil die Berufung des Klägers zurückgewiesen. In den Gründen ist ausgeführt, die Anordnung über das persönliche Erscheinen des Klägers sei aufgehoben worden, deshalb habe das LSG auf dahingehenden Antrag des Beklagten auch in Abwesenheit des Klägers entscheiden können. Sachlich sei die Berufung nach Anerkennung der Trigeminusneuralgie nicht gerechtfertigt.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,
die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Hess. LSG zurückzuverweisen.
Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung der §§ 62, 110, 124, 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und 227 der Zivilprozeßordnung (ZPO), weil das LSG dem Kläger dadurch das rechtliche Gehör verkürzt habe, daß es trotz des Vertagungsantrags des Klägers verhandelt und entschieden habe.
Der Beklagte hat eine Äußerung zur Sache nicht abgegeben.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Der Kläger hat die Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Das Rechtsmittel ist zwar vom LSG nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Es findet aber statt, weil ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt wird und vorliegt (BSG 1, 150).
Zu den Grundgedanken, die das Verfahren vor den Sozialgerichten bestimmen, gehört - wie der Kläger zutreffend vorgetragen hat - nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG 1, 277 ff, 278) der Grundsatz der mündlichen Verhandlung (§ 124 Abs. 1 SGG). Wenn das Gericht auch im sozialgerichtlichen Verfahren den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen hat (§ 103 SGG), so behält die mündliche Verhandlung doch auch in diesem Verfahren die vom Gesetzgeber als wesentlich erachtete Aufgabe, den Streitstoff mit den Beteiligten erschöpfend zu erörtern. Die mündliche Verhandlung ist ein Mittel zur Verwirklichung des den Beteiligten verbürgten rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG). Die Beteiligten haben deshalb grundsätzlich ein Recht darauf, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Dieses Wesensmerkmal der mündlichen Verhandlung bestimmt auch die Voraussetzungen, welche den Antrag der Beteiligten auf Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung zu rechtfertigen vermögen.
Da das SGG über eine Terminsverlegung keine Bestimmungen enthält und grundsätzliche Unterschiede zwischen dem Zivilprozeß und dem Verfahren in der Sozialgerichtsbarkeit nicht bestehen, kann nach § 227 ZPO i.V.m. § 202 SGG das Gericht aus erheblichen Gründen auf Antrag oder von Amts wegen einen Termin verlegen. Der Grundsatz, daß das Verfahren möglichst in einer mündlichen Verhandlung abzuschließen ist (§ 106 Abs. 2 SGG), kann dem Erfordernis des rechtlichen Gehörs aus rechtsstaatlichen Gründen nicht vorgehen. Wenn erhebliche Gründe vorliegen, so ist ein Termin zur Sicherung des rechtlichen Gehörs zu verlegen. Das gilt auch, wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält. Der Vortrag eines Beteiligten in der mündlichen Verhandlung kann dazu führen, daß das Gericht neue Gesichtspunkte für wesentlich erachtet.
Der Kläger hat hier zutreffend eine Verletzung dieser Grundsätze gerügt. Durch das Schreiben vom 10. Dezember 1961 hat er - anscheinend noch in Unkenntnis des Telegramms vom 11. Dezember 1961 - mitgeteilt, daß er wegen Erkrankung am Termin zur mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen könne. Aus diesem Schreiben konnte das LSG ersehen, daß der Kläger in der mündlichen Verhandlung erscheinen und Ausführungen machen wolle. Dies alles durfte das Berufungsgericht durch das weitergehende Anerkenntnis des Beklagten in der mündlichen Verhandlung hinsichtlich der Trigeminusneuralgie nicht für überholt ansehen, zumal der Kläger hierdurch nicht klaglos gestellt war, denn er begehrte außerdem die Anerkennung von Ohrenbeschwerden und die Erhöhung der Rente auf 50 v.H.
Schließlich mußte das LSG auch beachten, daß der Sinn des rechtlichen Gehörs nicht allein darin liegt, eine allseitige Aufklärung des Sachverhalts zu ermöglichen, sondern daneben auch die persönliche Würde des Rechtsgenossen zu wahren (BSG in SozR SGG § 62 Bl. Da 2 Nr. 6; BVerfG in NJW 1958, 665). Hiergegen hat das Berufungsgericht dadurch besonders gröblich verstoßen, daß es zunächst das persönliche Erscheinen des Klägers angeordnet und, nachdem er ausgeblieben, diese Anordnung durch förmlichen Beschluß in der mündlichen Verhandlung aufgehoben hat.
Da sonach der gerügte Mangel des Verfahrens vorliegt, ist die Revision statthaft. Sie ist auch begründet, weil die Verletzung des rechtlichen Gehörs eine nochmalige Verhandlung vor dem LSG erforderlich macht. Eine Entscheidung durch den Senat ist deshalb nicht tunlich. Infolgedessen war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Da die Voraussetzungen der §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG erfüllt waren, konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.
Fundstellen