Entscheidungsstichwort (Thema)

unklares Vorbringen

 

Leitsatz (redaktionell)

Anhörung mehrerer Ärzte - unklares Vorbringen: 1. Die Beweiswürdigung nach den Regeln über den Beweis des ersten Anscheins ist in der Sozialgerichtsbarkeit nicht zulässig. Vielmehr kommt es nach BVG $ 1 darauf an, daß eine Schädigung wahrscheinlich ist. Die hierzu erforderlichen  Unterlagen hat das Gericht nach SGG § 103 von Amts wegen zu ermitteln. Es ist nicht Sache des Beklagten, den Gegenbeweis zu führen, wenn ein typischer Geschehensverlauf nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache hinweist.

2. Die Sterbeurkunde beweist nach PersStG §§ 60, 64 und 66 lediglich das Ableben, nicht auch die Todesursache. Wenn diese vermerkt ist, nimmt sie an der Beweiskraft der Urkunde nicht teil. Der Nachweis der zum Tode führenden Krankheit ist auf jede Weise möglich. Anhörung mehrerer Ärzte - unklares Vorbringen:

3. Die Benennung mehrerer Ärzte nach SGG § 109 ist nicht ausgeschlossen; bei unvollständigem und unklaren Vorbringen muß nach SGG §§ 103, 106 auf eine Ergänzung hingewirkt werden.

 

Normenkette

BVG § 1 Fassung: 1950-12-20; SGG § 103 Fassung: 1953-09-03, § 128 Fassung: 1953-09-03; BVG § 38 Fassung: 1950-12-20; PersStdG § 60 Fassung: 1937-11-03, § 64 Fassung: 1937-11-03, § 66 Fassung: 1937-11-03; SGG § 109 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 106 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 30. Juni 1955 wird aufgehoben. Die Sache wird an dieses Gericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt Witwenversorgung nach ihrem am 15. Februar 1947 verstorbenen Ehemann, da er nach den Angaben in der Sterbeurkunde an Darmtuberkulose, Darmverschluß und Kreislaufschwäche gelitten habe. Sie führt sein Ableben auf die Einflüsse des Kriegsdienstes und der Kriegsgefangenschaft zurück, die vom 13. Februar 1945 bis 26. Juni 1945 angedauert haben. - Die Versorgungsbehörden lehnten den im Jahre 1950 erhobenen Antrag der Klägerin ab, weil ausweislich der Krankengeschichte des Städtischen Krankenhauses ... in B ein Carcinom am Sigmoid vorgelegen und den Kreislauf zum Versagen gebracht habe. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Krebserkrankung und dem Kriegsdienst sowie der Kriegsgefangenschaft liege nicht vor.

Das Sozialgericht Berlin, auf das die Klage beim Versorgungsgericht mit dem 1. Januar 1954 übergegangen war, holte eine Auskunft des Chefarztes Dr. von S des Städtischen Krankenhauses ... vom 15. April 1954 ein, der seinerzeit als Oberarzt die Operation vorgenommen hatte, und wies die Klage ab, weil die zum Tode führende Krebserkrankung mit dem Kriegsdienst und der Kriegsgefangenschaft nicht zusammenhänge; selbst wenn - wie die Klägerin behauptet hat - kein Carcinom sondern Darmtuberkulose den Darmverschluß verursacht hätte, stünde keine Entschädigung zu, weil auch diese Krankheit nicht auf den Wehrdienst zurückzuführen sei.

Mit der Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts machte die Klägerin geltend - insbesondere im Schriftsatz vom 11. Oktober 1954 -, eine Tuberkulose habe zum Tode geführt, und benannte hierfür u. a. mehrere Ärzte, darunter den Röntgenarzt Dr. S der nach einem in Abschrift zur Akte gegebenen Röntgenbericht vom 3. Februar 1947 den hochresezierten Magen des Ehemannes der Klägerin röntgenologisch mit Hilfe eines Kontrastbreies untersucht und Anzeichen für eine erhebliche Passagestörung im obersten Teil des Jejunum angenommen hatte. Nach Ansicht der Klägerin haben die Ärzte bei der Operation einen oberen medianen Bauchschnitt und nicht, wie in der Krankengeschichte aufgeführt, einen unteren medianen Bauchschnitt gelegt und deshalb keine Feststellungen hinsichtlich eines Carcinoms am Sigmoid treffen können. Eine etwa an der Leiche festzustellende Verletzung durch einen unteren medianen Schnitt sei nach dem Ableben ihres Ehemannes gemacht worden. Das Landessozialgericht klärte den Sachverhalt nicht weiter auf, sondern wies die Berufung durch Urteil vom 30. Juni 1955 ab. In den Gründen ist ausgeführt, die zunächst gestellte Diagnose einer Darmtuberkulose sei unzutreffend gewesen. Vielmehr habe eine Krebserkrankung zum Ableben geführt. Diese sei weder auf die Verhältnisse des Kriegsdienstes oder der Kriegsgefangenschaft zurückzuführen noch sei sie durch die wegen dieser Verhältnisse unterbliebene Behandlung ungünstig beeinflußt worden.

Die Klägerin legt Revision ein und rügt, das Landessozialgericht habe auf ihren Antrag, verschiedene Ärzte zu hören, Ermittlungen anstellen müssen. Schon die Regeln des prima-facie Beweises hätten den ursächlichen Zusammenhang dartun müssen, weil der Ehemann der Klägerin vollkommen gesund mit einem Gewicht von nahezu zwei Zentnern im Februar 1945 zum Kriegsdienst eingezogen worden und bis zum Skelett abgemagert zurückgekehrt sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Das Landessozialgericht hat sie zwar nicht zugelassen. Sie findet aber statt, weil ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und auch vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - BSG. 1 S. 150).

In dem Schriftsatz vom 11. Oktober 1954 hat die Klägerin behauptet, ihr Ehemann habe an einer Darmtuberkulose gelitten und hat sich zum Beweise hierfür auf die Auskünfte mehrerer Ärzte bezogen. Hierin ist zwar noch kein Antrag nach § 109 SGG zu erblicken. Es kann aber nach der Sachlage angenommen werden, daß die Klägerin bei Kenntnis der Rechtslage die gutachtliche Anhörung der Ärzte nach § 109 SGG beantragt hätte. Deshalb hätte das Landessozialgericht nach §§ 103, 106 SGG auf eine Ergänzung des unvollständigen und unklaren Vorbringens hinwirken müssen, zumal die Benennung mehrerer Ärzte nach § 109 SGG nicht ausgeschlossen ist. Wie im Schrifttum (Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 109 Anm. 4, Dr. T. in "Sozialgerichtsbarkeit" 1954 S. 101) verschiedentlich vertreten wird, ist aus der Wortfassung des Gesetzes "ein bestimmter Arzt" nicht auf ein Zahlwort zu schließen. Vielmehr haben die Versicherten und Versorgungsberechtigten die Möglichkeit, mehrere Ärzte zu benennen, wenn hierfür ein vernünftiger Grund vorliegt und dies zu einer Ermittlung des Krankheitsgeschehens führt. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall gegeben. Denn die Klägerin hat die Ärzte benannt, für die Diagnose des einweisenden Arztes, für die Aufnahmediagnose im Krankenhaus und außerdem für die diagnostischen Erwägungen, die während der Operation angestellt worden sind; schließlich kommt unterstützend noch die Röntgenuntersuchung durch Dr. S hinzu, welche ebenfalls ein Krankheitsgeschehen in der Bauchhöhle betrifft. Auch wenn das Landessozialgericht die von der Klägerin gegen die Ärzte im Krankenhaus erhobenen, die Benennung anderer Ärzte motivierenden Vorwürfe einer absichtlichen Fälschung der Krankengeschichte und der Vornahme eines Schnitts am Unterbauch der Leiche - beides unternommen, um der Klägerin zu schaden -, als von vornherein unbeweisbare Prozeßbehauptungen angesehen hat, hätte es auf die Ausführungen im Schriftsatz vom 11. Oktober 1954 eingehen müssen. Jedenfalls leidet das Verfahren vor dem Landessozialgericht an einem wesentlichen Mangel, weil die Anträge auf Anhörung verschiedener Ärzte in den Entscheidungsgründen überhaupt nicht erwähnt sind. Dies muß zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen.

Bei der nunmehr gemäß § 170 Abs. 2 SGG bestehenden Möglichkeit, in der Sache selbst zu entscheiden, hat der Senat den Streitfall nicht für entscheidungsreif gehalten.

Nach § 38 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) würde der Klägerin ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente nur dann zustehen, wenn ihr Ehemann durch eine militärische Dienstverrichtung oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hätte und an ihren Folgen gestorben wäre. Nach Ansicht der Klägerin kommt als Schädigung eine Erkrankung an Tuberkulose in Betracht. Ob diese Erkrankung vorgelegen hat, ist zweifelhaft, und wird nicht durch die Sterbeurkunde bewiesen. Wie das Landessozialgericht zutreffend ausgeführt hat, beweist die Sterbeurkunde gemäß §§ 60, 64 und 66 des Personenstandsgesetzes vom 3. November 1937 lediglich das Ableben des Ehemannes der Klägerin, nicht auch die Todesursache. Wenn diese vermerkt ist, nimmt sie an der Beweiskraft der Urkunde nicht teil. Der Nachweis der zum Tode führenden Krankheit ist auf jede Weise möglich. Die Klägerin ist der Ansicht, der Nachweis einer Tuberkulose sei nach den Regeln über den Beweis des ersten Anscheins erbracht, weil ihr Mann kerngesund und in gutem Ernährungszustand eingezogen und völlig abgemagert zurückgekehrt sei. Diese Form der Beweiswürdigung ist aber in der Sozialgerichtsbarkeit nicht zulässig; vielmehr kommt es darauf an, daß eine Schädigung wahrscheinlich ist. Die hierzu erforderlichen Unterlagen hat das Gericht gemäß § 103 SGG von Amts wegen zu ermitteln. Es ist nicht etwa Sache des Beklagten, den Gegenbeweis zu führen, wenn ein typischer Geschehensablauf nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache hinweist.

Es kann hier auch nicht dahingestellt bleiben, ob eine Krebserkrankung oder eine Tuberkulose zum Ableben geführt hat. Denn für die Tuberkulose kann bei dem bisherigen Akteninhalt der ursächliche Zusammenhang mit dem Kriegsdienst oder der Kriegsgefangenschaft, obwohl beide nur fünf Monate insgesamt angedauert haben, nicht ohne weiteres ausgeschlossen werden. Die dahingehenden Bemerkungen des Sozialgerichts am Schluß seiner Entscheidung entbehren einer hinreichenden Stütze durch das Gutachten eines ärztlichen Sachverständigen.

Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt also noch von weiteren Erhebungen ab. Um sie durchführen zu können, war die Sache - wie geschehen - an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2290860

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