Entscheidungsstichwort (Thema)

Grenze richterlicher freier Beweiswürdigung und zur Sachaufklärungspflicht

 

Orientierungssatz

Zur Grenze richterlicher freier Beweiswürdigung und zur Sachaufklärungspflicht:

1. Das Gericht überschreitet die seinem Recht der freien Beweiswürdigung gezogenen Grenzen, wenn es einem ärztlichen Zeugnis oder einem ärztlichen Gutachten eine Erklärung entnimmt, die nach seinem klaren Wortlaut nicht in ihm enthalten ist, und aus seiner irrigen Auffassung des Erklärungsinhalts einen unrichtigen Schluß auf den Beweiswert des Zeugnisses zieht (vgl BSG 1956-11-13 10 RV 370/54 = BSGE 4, 112).

2. Unter allgemeinen Einflüssen einer Inhaftierung können nur die Lebens- und Arbeitsverhältnisse verstanden werden, die gewöhnlich mit einem Freiheitsentzug verbunden sind. Zu diesen Verhältnissen kann eine jahrelange Beschäftigung an einem besonders strahlungsgefährdeten Arbeitsplatz nicht gerechnet werden.

3. Haben die ärztlichen Sachverständigen diesen besonderen Strahlungsgefahren in ihrem Gutachten keine Beachtung geschenkt, so kann das Gericht den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Arbeitseinsatz in einem Uranbergwerk und dem infolge des Prostatakrebses eingetretenen Tod nicht verneinen.

 

Normenkette

SGG §§ 103, 128 Abs. 1 S. 1; BVG § 1

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 23.05.1960)

SG Kassel (Entscheidung vom 27.11.1957)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 23. Mai 1960 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der 1888 geborene Ehemann der Klägerin W F (F.) wurde im Mai 1945 von den Tschechen interniert. Er verstarb am 18. Juli 1955 in einen Krankenhaus in P. In der Sterbeurkunde des Bezirks-Volks-Ausschusses in P sind als Todesursachen Altersschwäche und Prostatakrebs angegeben.

Seit 1951 erhielt die Klägerin vom Versorgungsamt Unterhaltsleistungen wegen der Internierung ihres Ehemannes. Im Oktober 1955 beantragte sie Witwenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Sie gab an, ihr Ehemann sei von 1945 bis zu seinem Tode in verschiedenen tschechischen Lagern inhaftiert gewesen. Da er früher nie ernstlich krank gewesen sei, sei sie der Ansicht, daß die während der Inhaftierung erlittenen Strapazen - Mißhandlungen, mangelhafte Unterkunft und Verpflegung - und die unzureichende ärztliche Betreuung seinen Tod verursacht hätten.

Das Versorgungsamt K lehnte mit Bescheid vom 22. Februar 1957 den Witwenrentenanspruch ab. Es nahm an, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Tode und den Einwirkungen der Internierung bestehe nicht. Da eine Operation der Vorsteherdrüse bereits am 14. September 1954 durchgeführt worden sei und F. diesen Eingriff um fast ein Jahr überlebt habe, sei die Geschwulst noch operabel gewesen und die sachgemäße Behandlung habe rechtzeitig eingesetzt. Bei dem bekanntermaßen nur sehr geringen Umfang der möglichen Heilung des schweren, bösartigen Krebsleidens, von dem der Verstorbene in seinem 66. Lebensjahr betroffen worden sei, könne eine Einwirkung der Internierung auf den naturgemäßen Leidensablauf nicht als gegeben angesehen werden. Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) Kassel vom 27. November 1957 wurde vom Hessischen Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 23. Mai 1960 zurückgewiesen. Das LSG führte aus, der Beklagte habe einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Tod des F. und den Einwirkungen der Internierung zu Recht verneint. Die Sachverständigen der Chirurgischen Universitätsklinik H Prof. Dr. B und Dr. S hätten in ihrem gewissenhaften Gutachten vom 30. Juli 1957 überzeugend dargelegt, daß die Ursachen eines Prostatakrebses nicht sicher bekannt seien. Über die Bedeutung exogener Faktoren könne nichts Endgültiges ausgesagt werden. Nach den ärztlichen Erfahrungen müsse mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß andere Faktoren für die Krebsentstehung verantwortlich zu machen seien als die einem Kriegsdienst oder einer Gefangenschaft eigentümliche Lebensweise. Zutreffend habe das SG in diesem Zusammenhang die Behauptung der Klägerin zurückgewiesen, das Gutachten habe sich nicht ausdrücklich mit der Frage der Einwirkung von Uranbestrahlungen, von der ihr Ehemann während seiner Arbeit im Uranbergwerk J betroffen worden sein soll, auseinandergesetzt. Auch das LSG sei davon überzeugt, die Sachverständigen hätten bei ihrem eingehenden Aktenstudium und ihren gewissenhaften Ausführungen nicht übersehen, daß der Verstorbene in einem Bergwerk in Joachimsthal gearbeitet hatte, denn die Erklärung des Anton Schindler vom 20. Januar 1953 und des Johann S vom 15. April 1956 hierüber hätten ihnen vorgelegen. Nach dem Gutachten dieser Sachverständigen sei es aber auch wenig wahrscheinlich, daß die Vorsteherdrüsenkrebsgeschwulst in Friedenszeiten wesentlich früher hätte objektiviert werden können und der Tod dadurch um mindestens ein Jahr verzögert worden wäre. Da F. am 9. August 1954 in das Krankenhaus eingewiesen und am 14. September 1954 operiert wurde, hätten die Sachverständigen angenommen, die ärztliche Behandlung sei verhältnismäßig frühzeitig vorgenommen worden, nämlich zu einem Zeitpunkt, in dem Geschwulstabsiedlungen noch nicht nachgewiesen werden konnten. Auch der Facharzt für Chirurgie ... habe angenommen, daß die sachgemäße Behandlung rechtzeitig einsetzte und der Tod, der erst zehn Monate nach der Operation eintrat, schließlich durch Tochterabsiedlungen, die der Heilung nicht zugänglich waren, herbeigeführt wurde. Wie die Krebserkrankung selbst könne auch der Fortschritt des Geschwulstleidens sowie die Abmagerung und allgemeine Körperschwäche nach der Operation den Besonderheiten der Internierung nicht zugerechnet werden. Die allgemeine Körperschwäche, Abmagerung und Auszehrung des Körpers seien nicht Ursachen, sondern Folgen der Krebsgeschwulst gewesen. Da demnach schon ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Tod und den Einwirkungen der Internierung nicht bestehe, brauche nicht mehr geprüft zu werden, ob der Ehemann der Klägerin zur Zeit seiner Erkrankung an Prostatakrebs überhaupt zu dem nach § 1 BVG geschützten Personenkreis gehörte. Diese Frage wäre zu verneinen, wenn der Verstorbene die Arbeiten im Uranbergwerk in J auf Grund eines zivilen Arbeitsverhältnisses aufgenommen hätte. Das LSG ließ die Revision nicht zu.

Mit der Revision beantragte die Klägerin, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Revision rügt Verletzung der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Das LSG sei von der Annahme ausgegangen, die Gutachter der Chirurgischen Universitätsklinik H hätten die von S und C über den Einsatz und die Verwendung des Verstorbenen abgegebenen Erklärungen und die damit auftauchende Frage der Einwirkung von Strahlungsschäden bei der ärztlichen Beurteilung des Zusammenhangs berücksichtigt. Zwar sei von diesen Ärzten zur Ätiologie eines Prostatacarcinoms Stellung genommen und darauf hingewiesen worden, daß allgemeinen Einflüssen der Internierung keine wesentliche Bedeutung zukomme. Ihr Gutachten enthalte jedoch keine Ausführungen über die durch Arbeit im Uranbergbau gegebenenfalls sich ergebenden Strahlungsschäden und deren Folgen, insbesondere darüber, ob das zum Tode führende Prostataleiden als hierdurch verursacht bzw. verschlimmert angesehen werden müsse. Die Feststellung des LSG, die ärztlichen Sachverständigen hätten die Besonderheiten des Einsatzes des Verstorbenen im Uranbergbau bei ihrer ärztlichen Stellungnahme berücksichtigt, sei im Hinblick auf den Inhalt des Gutachtens vom 30. Juli 1957 unrichtig und durch nichts bewiesen. Darin liege ein Verstoß gegen § 128 SGG. Das LSG habe daher das im wesentlichen als Grundlage seiner Entscheidung dienende Gutachten von Prof. Dr. B und Dr. S entsprechend ergänzen lassen müssen. Hierbei wäre insbesondere dazu Stellung zu nehmen gewesen, ob bei Verwendung an der Pechblendenader selbst, an Plätzen, wo Uran lagerte oder beim Transport von uranhaltigem Gestein usw. die freigewordene Strahlendosis das Prostatacarcinom hervorgerufen bzw. verschlimmert hat. Da das LSG insoweit eine Sachaufklärung unterlassen habe, sei auch § 103 SGG verletzt.

Der Beklagte beantragte, die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 23. Mai 1960 als unzulässig zu verwerfen. Er ist der Meinung, aus dem angefochtenen Urteil ergebe sich, daß das Berufungsgericht von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus keinen Anlaß zu einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts hatte. Da auch in Angelegenheiten der Sozialgerichtsbarkeit der Grundsatz der objektiven Beweislast, insbesondere der Feststellungslast gelte, habe das LSG zutreffend den ursächlichen Zusammenhang des Todes des F. mit einer Schädigung im Sinne des BVG verneint. Das LSG habe deshalb auch nicht das Recht der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Sie ist auch statthaft, weil die Klägerin wesentliche Mängel im Verfahren des Berufungsgerichts gerügt hat und diese auch vorliegen (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).

Die Klägerin macht zunächst zu Recht eine Verletzung des § 128 SGG durch das LSG geltend. Nach dieser Vorschrift hat das Gericht seine Entscheidung nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu treffen. Es überschreitet die seinem Recht der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) gezogenen Grenzen, wenn es einem ärztlichen Zeugnis eine Erklärung entnimmt, die nach seinem klaren Wortlaut nicht in ihm enthalten ist, und aus seiner irrigen Auffassung des Erklärungsinhalts einen unrichtigen Schluß auf den Beweiswert des Zeugnisses zieht (BSG 4, 112). Das gilt entsprechend für ärztliche Gutachten und trifft mithin den vorliegenden Fall.

Das LSG hat angenommen, von den gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. B und Dr. S sei nicht übersehen worden, daß F. in einem Uranbergwerk gearbeitet hatte. Dies hat das Berufungsgericht jedoch dem Gutachten dieser Sachverständigen nicht entnehmen können. Das Gutachten enthält nämlich keinen Anhalt dafür, daß die Sachverständigen den Arbeitseinsatz des Verstorbenen im Uranbergbau berücksichtigt hätten. In der Vorgeschichte des Gutachtens sind weder die Behauptungen der Klägerin wiedergegeben, daß ihr Ehemann jahrelang in einem Uranbergwerk gearbeitet hatte und dort Strahlungsschäden ausgesetzt war, noch sind die von S und C abgegebenen Erklärungen erwähnt, aus denen auf eine solche Tätigkeit geschlossen werden kann. Auch aus dem übrigen Inhalt des Gutachtens läßt sich nicht entnehmen, daß Prof. Dr. B und Dr. S von einem Arbeitseinsatz des F. in einem Uranbergwerk in J ausgegangen sind und diesen mit zum Gegenstand ihrer Beurteilung gemacht haben. Im Gutachten heißt es nur, "daß allgemeinen Einflüssen einer Inhaftierung keine wesentliche Bedeutung zugebilligt werden kann". Auf die von der Klägerin geltend gemachte Strahlenschädigung sind die Sachverständigen mit keinem Wort eingegangen. Daß sie die jahrelange Beschäftigung des F. im Uranbergbau unter die "allgemeinen Einflüsse einer Inhaftierung" einordnen wollten, versteht sich auch nicht von selbst. Unter allgemeinen Einflüssen einer Inhaftierung können nur die Lebens- und Arbeitsverhältnisse verstanden werden, die gewöhnlich mit einem Freiheitsentzug verbunden sind. Zu diesen Verhältnissen kann eine jahrelange Beschäftigung an einem besonders strahlungsgefährdeten Arbeitsplatz nicht gerechnet werden. Einen solchen Arbeitseinsatz hat eine Internierung oder Inhaftierung in der Regel nicht zur Folge. Das kann auch von den Sachverständigen nicht verkannt worden sein. Sie haben nämlich die Krebsentstehung als Folge allgemeiner Einflüsse einer Inhaftierung allein deshalb nicht für wahrscheinlich erachtet, weil bei Millionen von Soldaten, die schwerste körperliche und seelische Strapazen in der Gefangenschaft zu ertragen hatten, ein vermehrtes Vorkommen von Krebsgeschwülsten nicht zu verzeichnen war. Hieraus ergibt sich, daß sie andere Einwirkungen als körperliche und seelische Strapazen nicht zu den allgemeinen Einflüssen einer Inhaftierung gezählt haben. Daneben haben die Gutachter noch geprüft, ob Mißhandlungen als Ursache einer Krebserkrankung in Betracht kommen können. Hingegen enthält das Gutachten kein Wort von einer Strahlenschädigung. Bei dieser Sachlage kann nicht angenommen werden, daß sich Prof. Dr. B und Dr. S mit der Frage, ob Strahlungseinwirkungen bei Arbeiten in einem Uranbergwerk ein Krebsleiden hervorrufen oder verschlimmern, befaßt haben. Die von der Revision angegriffene Feststellung des LSG ist deshalb unter Verletzung des § 128 SGG zustande gekommen, weil das LSG zu Unrecht angenommen hat, die für die Entscheidung rechtserhebliche Frage einer Strahlungsschädigung des F. sei von den Gutachtern geprüft bzw. verneint worden.

Das LSG hat darüber hinaus aber auch gegen § 103 SGG verstoßen. Nach dieser Vorschrift war das Berufungsgericht verpflichtet, seine Ermittlungen auf alle von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus erheblichen Umstände zu erstrecken (BSG in SozR SGG § 103 Da 2 Nr. 7; BSG 9, 277). Dieser Verpflichtung ist das LSG nicht genügend nachgekommen. Es hätte sich gedrängt fühlen müssen, den Sachverhalt dahingehend aufzuklären, ob der Ehemann der Klägerin gesundheitsschädlichen Strahlungseinwirkungen ausgesetzt war und ob durch solche Strahlungseinwirkungen das Prostatacar einem hervorgerufen oder verschlimmert wurde. Nach seiner materiellrechtlichen Auffassung kam es für die Beurteilung des Rechtsstreits darauf an, ob die Krebserkrankung, an der F. verstarb, auf Einflüsse der Internierung bzw. Inhaftierung zurückzuführen war. Auf Grund des Gutachtens der Chirurgischen Universitätsklinik H konnte das LSG den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Arbeitseinsatz in einem Uranbergwerk in J und dem infolge des Prostatakrebses eingetretenen Tod nicht verneinen. Diese Frage ist von den Sachverständigen, wie bereits dargelegt, weder erörtert noch beurteilt worden.

Die wegen Verletzung der §§ 103, 128 SGG demnach statthafte Revision ist auch begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf diesen Gesetzesverletzungen. Es ist möglich, daß das LSG anders entschieden hätte, wenn es nicht gegen §§ 103, 128 SGG verstoßen hätte. Das angefochtene Urteil unterliegt daher der Aufhebung. Da der Senat keine eigenen tatsächlichen Feststellungen treffen kann, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird bei Bejahung eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen einer etwaigen Strahlenschädigung und dem Prostataleiden ggf. noch zu prüfen haben, ob sich F. zur damaligen Zeit in Strafhaft oder in Internierung befand und ob er hiernach zu dem Personenkreis gehörte, der nach §§ 1 ff BVG Anspruch auf Versorgung hat.

Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324832

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