Leitsatz (redaktionell)

Hat ein bis dahin versicherungsfreier Beschäftigter wegen nichtarischer Abstammung in der Zeit von 1933 bis 1945 eine minderbezahlte Tätigkeit übernommen, dann können weder Ersatzzeiten noch Zeiten des Minderverdienstes nach NVG § 4 Abs 4 und 5 berücksichtigt werden, weil er bei Beibehaltung der bis 1933 verrichteten Tätigkeit ohnehin versicherungsfrei geblieben wäre.

 

Orientierungssatz

Zum Begriff "Freiheitsentziehung" iS von RVO § 1251 Abs 1 Nr 4 iVm BEG § 43.

 

Normenkette

RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; BEG § 43 Fassung: 1956-06-29; NVG § 4 Abs. 4 Fassung: 1949-08-22, Abs. 5 Fassung: 1949-08-22

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig-Holstein vom 23. August 1967 wird zurückgewiesen.

Auf die Revision der Beklagten wird das genannte Urteil aufgehoben, soweit die Beklagte verurteilt wurde, dem Kläger einen neuen Bescheid über die Gewährung des Altersruhegeldes zu erteilen; insoweit wird der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des Landessozialgerichts vorbehalten.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Altersruhegeldes des Klägers, insbesondere darüber, wie bei der Rentenberechnung Zeiten der Verfolgung zu berücksichtigen sind, der nach seinen Angaben der Kläger bis 1945 wegen seiner "nichtarischen Abstammung" ausgesetzt gewesen ist. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) handelt es sich um folgende Zeiten:

Die nicht mit Beiträgen belegten Jahre vom 1. Januar 1935 bis 31. Januar 1942, in denen der Kläger bei der Firma N einen Ausstellungsraum der Verkaufsstelle in Hamburg betreut hat, nachdem er zuvor seit 1932 für die Firma als selbständiger Vertreter tätig gewesen war,

die beitragslose Zeit vom 1. Februar 1942 bis 31. Januar 1943, in der er Geschäftsführer des Restaurants und Kaffeehauses "R" in H mit einem Gehalt von monatlich 500,- RM gewesen ist, und

die Zeit vom 1. Februar 1943 bis 8. Mai 1945, in der er nach Vermittlung durch das Arbeitsamt als Lohnbuchhalter einer Tiefbaufirma beschäftigt gewesen ist, monatlich 300,- RM verdient hat und in der Rentenversicherung der Angestellten (AnV) versichert gewesen ist.

Das Amt für Wiedergutmachung bei der Sozialbehörde in Hamburg hat dem Kläger am 22. Oktober 1963 eine Ersatzzeitenbescheinigung über folgende Zeiten erteilt:

1. Januar 1935 bis

31. Januar 1942 (Berufsschaden durch Beschränkung in der Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit)

16. Dezember 1942 bis

8. Mai 1945 (Berufsschaden durch Verdrängung aus einer unselbständigen Erwerbstätigkeit).

Die Bescheinigung besagt ferner, daß Zeiten verfolgungsbedingter Erwerbslosigkeit nicht festzustellen seien.

Die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA), an die der Kläger zuletzt Beiträge geleistet hatte, bewilligte ihm im Verlaufe des beim Sozialgericht (SG) anhängigen Klageverfahrens das Altersruhegeld vom 1. März 1964 an in Höhe von 202,50 DM monatlich (Bescheid vom 1. November 1965). Dabei rechnete sie die - nicht mit Beiträgen belegten - Zeiten von 1935 bis 31. Januar 1943 nicht, und die Zeit vom 1. Februar 1943 bis 8. Mai 1945 mit den nachgewiesenen Entgelten auf die Rente an. Das SG wies die wegen der Rentenhöhe geführte Klage ab (Urteil vom 17. März 1966). Auf die Berufung des Klägers änderte das LSG das Urteil des SG und verurteilte - unter Zurückweisung der Berufung im übrigen - die Beklagte, dem Kläger einen neuen Rentenbescheid zu erteilen, in dem die Zeit vom 1. Februar 1942 bis 31. Januar 1943 als Ersatzzeit berücksichtigt und für die Zeit vom 1. Februar 1943 bis 8. Mai 1945 bei der Berechnung der persönlichen Bemessungsgrundlage ein Brutto-Jahresarbeitsentgelt von jährlich 6.000 RM zugrunde gelegt wird: Für die Zeit vom 1. Januar 1935 bis 31. Januar 1942 sei der Anspruch des Klägers weder nach § 1251 Abs. 1 Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) noch nach § 4 Abs. 4 und Abs. 5 des Verfolgtengesetzes ( VerfolgtenG ) begründet. Einer NS-Verfolgung sei der Kläger als Mischling ersten Grades nur so lange ausgesetzt gewesen, als er wegen der Zahlung eines Kultusbeitrags an die Jüdische Gemeinde als sogenannter Geltungsjude behandelt worden sei. Dies sei erst auf Grund einer Ende 1942 ergangenen Entscheidung des Reichssippenamtes geschehen. Diese Entscheidung sei dann im Anfechtungsverfahren 1943 zugunsten des Klägers korrigiert worden; deshalb liege der Verfolgungstatbestand bei ihm nur für die Zeit von der Einleitung des Verfahrens zur Einstufung als Geltungsjude an bis zu der für ihn günstigen Beendigung dieses Verfahrens vor. Bis zum 31. Januar 1942 sei der Kläger nicht von Verfolgungsmaßnahmen betroffen gewesen. Er sei zwar wegen seiner Abstammung von der Firma N. 1935 aus dem Außendienst als Vertreter herausgezogen und im Innendienst für die Betreuung des Ausstellungsraumes verwendet worden. Dies reiche aber für die Annahme einer Verfolgung nicht aus. Auch sei durch den Tätigkeitswechsel die Rente des Klägers nicht geringer geworden als beim Fortbestehen der Außendiensttätigkeit, weil der Kläger als selbständiger Vertreter sowohl vor als auch nach dem Wechsel versicherungsfrei gewesen sei und zu keiner Zeit Beiträge entrichtet habe.

Dagegen habe für die Zeit nach dem 31. Januar 1942 der Tatbestand der Freiheitsentziehung im Sinne von § 43 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) vorgelegen; der Kläger habe insoweit glaubhaft dargetan, daß er sich zeitweise verborgen halten mußte, um sich der Verfolgung zu entziehen. Der Kläger sei damals "untergetaucht" und habe ein Leben unter haftähnlichen Bedingungen geführt. Die Zeit von der Einleitung des Verfahrens zur Feststellung als Geltungsjude bis zum 31. Januar 1943 müsse daher als Ersatzzeit angerechnet werden.

In der Zeit vom Februar 1943 bis 8. Mai 1945 habe der Kläger nach den Versicherungsunterlagen nur 300,- RM verdient. Bei dem vorausgegangenen wegen Verfolgungsmaßnahmen aufgegebenen Arbeitsverhältnis als Geschäftsführer des Kaffeehauses habe das Einkommen monatlich 500,- RM betragen. Dieser Einkommensunterschied müsse nach § 4 Abs. 4 und 5 VerfolgtenG berücksichtigt werden, auch wenn während der Beschäftigung im Kaffeehaus keine Beiträge zur Rentenversicherung abgeführt worden seien (Urteil vom 23. August 1967).

Gegen das Urteil des LSG legten sowohl der Kläger als auch die Beklagte die vom LSG zugelassene Revision ein.

Der Kläger beantragte,

die Beklagte zu verurteilen, auch die Zeit vom 1. Januar 1935 bis 31. Januar 1942 als Ersatzzeit rentensteigernd zu berücksichtigen.

Verletzt seien die Vorschriften des § 4 VerfolgtenG , des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO und der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Für die genannte Zeit habe das Amt für Wiedergutmachung in Hamburg bescheinigt, daß der Kläger rassisch verfolgt gewesen sei und einen Berufsschaden erlitten habe. Nach dem Grundsatz des § 4 Abs. 4 und 5 VerfolgtenG müsse eine verfolgungsbedingte Beeinträchtigung der Rente aus Entschädigungsgründen ausgeglichen werden. Auch für die Zeit vom 1. Januar 1935 bis 31. Januar 1942 sei ein Ausgleich dadurch zu gewähren, daß sie als Versicherungszeit mit demjenigen Durchschnittsverdienst berücksichtigt werde, den der Kläger ohne die Verfolgung erzielt haben würde. Durch den Übergang vom Außendienst in den Innendienst der Firma N. habe der Kläger einen monatlichen Verdienstausfall von durchschnittlich 250,- RM erlitten. Er sei doppelt geschädigt, einmal durch die Beendigung seiner ertragreichen Tätigkeit im Außendienst und durch das Versagen einer geordneten, mit einer Rentenversicherung verbundenen Angestelltentätigkeit. Das LSG habe seinem Urteil insoweit einen nicht erschöpfend geklärten Sachverhalt zugrunde gelegt.

Die Beklagte beantragte in ihrer Revision,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Das LSG habe bei der Urteilsfindung sowohl die Vorschrift des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO als auch die Vorschriften der §§ 103, 128 SGG verletzt. Die Zeit vom 1. Februar 1942 bis 31. Januar 1943 könne nicht als Ersatzzeit für die Erfüllung der Wartezeit, die Zeit vom 1. Februar 1943 bis 8. Mai 1945 nicht in größerem Umfang als bisher rentensteigernd berücksichtigt werden, weil die Voraussetzungen des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO nicht erfüllt seien. Die dem Urteil des LSG zugrunde liegende Behauptung des Klägers, er sei während des Verfahrens zur Einstufung als Geltungsjude untergetaucht gewesen und habe ein Leben unter haftähnlichen Bedingungen geführt, könne nicht zutreffen. Denn er habe in dieser Zeit einen Rechtsstreit geführt und sei Geschäftsführer in einem Kaffeehaus gewesen. Der offensichtliche Widerspruch hätte das LSG veranlassen müssen, den Sachverhalt weiter aufzuklären. Dann hätte sich ergeben, daß eine Freiheitsentziehung in keinem Zeitpunkt erfolgt sei. Der Begriff der Freiheitsentziehung in § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO dürfe auch nicht anders als in § 43 BEG ausgelegt werden.

Da eine Freiheitsentziehung im Sinne des Gesetzes nicht vorgelegen habe, sei es auch nicht zulässig, die Beiträge für die Zeit vom 1. Februar 1943 an aufzustocken. Denn der Minderverdienst sei nicht aus den im Gesetz genannten Verfolgungsgründen eingetreten. In der Vermittlung eines neuen Arbeitsplatzes durch das zuständige Arbeitsamt liege keine Verfolgung. Das LSG hätte sich gedrängt fühlen müssen, die Gründe für den Arbeitsplatzwechsel näher aufzuklären.

Beide Beteiligten beantragen,

die Revision des Gegners zurückzuweisen.

Die Revisionen der Beteiligten sind zulässig; jedoch ist nur die Revision der Beklagten begründet. Die Revision des Klägers muß zurückgewiesen werden; die Auffassung des LSG, daß die Zeiten vom 1. Januar 1935 bis 31. Januar 1942 weder als Ersatzzeiten angerechnet noch nach § 4 Abs. 4 und 5 VerfolgtenG berücksichtigt werden können, ist nicht zu beanstanden.

Beim Kläger ist der Versicherungsfall (§ 1248 Abs. 1 RVO) im Jahre 1964 eingetreten. Auszugehen ist daher von der Vorschrift in § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO idF des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG). Danach werden für die Erfüllung der Wartezeit als Ersatzzeiten angerechnet Zeiten der Freiheitsentziehung im Sinne des § 43 BEG, Zeiten einer anschließenden Krankheit oder unverschuldeten Arbeitslosigkeit sowie Zeiten der durch Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des genannten Gesetzes hervorgerufenen Arbeitslosigkeit oder eines Auslandsaufenthaltes bis zum 31. Dezember 1949, wenn der Versicherte Verfolgter im Sinne des § 1 BEG ist. Das Vorliegen der Verfolgteneigenschaft haben die Versicherungsträger und im Streitfall die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bei der Anwendung der Gesetze in eigener Zuständigkeit selbst zu prüfen. Sie sind dabei nicht an die Auffassung und die Feststellungen der Entschädigungsbehörden gebunden. Für die Entscheidung über die Revision des Klägers kann es jedoch auf sich beruhen, ob er - wie das LSG angenommen hat - in der Zeit bis 31. Januar 1942 keinen nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen ausgesetzt gewesen ist oder ob eine solche Verfolgung etwa schon deshalb bejaht werden muß, weil er als Mischling ersten Grades zu den sogenannten Kollektiv-Verfolgten im Sinne von § 64 Abs. 2 BEG gehört hat (vgl. RzW 1960, 30; 1965, 122, 380 und BSG 17, 283). Denn jedenfalls hat er nach den Feststellungen des LSG bis zum 31. Januar 1942 weder eine Freiheitsentziehung (Haft oder Leben unter haftähnlichen Bedingungen) im Sinn von § 43 BEG erlitten noch ist er bis dahin arbeitslos gewesen noch hat er sich im Ausland aufgehalten oder sonst Zeiten zurückgelegt, die nach § 1251 Abs. 1 RVO zur Anrechnung von Ersatzzeiten geeignet sind. Solche Sachverhalte werden für die genannte Zeit auch von der Revision nicht behauptet. Auf § 1251 Abs. 1 RVO kann daher der Kläger den Anspruch auf Anrechnung der Zeiten von 1935 bis 31. Januar 1942 als Ersatzzeiten nicht stützen.

Die Revision des Klägers kann auch keinen Erfolg haben, soweit sie für seinen Anspruch auf die Vorschriften in § 4 Abs. 4 und 5 VerfolgtenG verweist. Zwar wendet die Rechtsprechung diese Vorschriften auch auf Rentenfälle nach dem 31. Dezember 1956 sinngemäß weiter an, weil sie durch das ab 1. Januar 1957 geltende Recht nicht aufgehoben oder ersetzt worden sind (vgl. die Urteile vom 29. Juni 1967 - 4 RJ 633/64 -, vom 29. November 1967 - 4 RJ 127/64 - und vom 6. Juli 1967 - 5 RKn 72/64 -; abgedr. in SozR Nr. 11, 12 und 13 zu VerfolgtenG Allg. vom 22. August 1949). Danach soll der Verfolgte auch nach dem 31. Dezember 1956 die Möglichkeit haben, einen Schaden geltend zu machen, der durch Ausfall oder Minderung des Arbeitsentgelts während der Verfolgungszeiten entstanden ist und der sich bei der Ermittlung der für ihn geltenden Rentenbemessungsgrundlage auswirkt. Ein Ausgleich des erlittenen Schadens ist danach zu gewähren, wenn glaubhaft gemacht wird, daß der Verfolgte während der Verfolgungszeiten einen Arbeitsverdienst erzielt hätte, der seine Rentenbemessungsgrundlage und damit seine Rente erhöhen würde (SozR Nr. 11 zu VerfolgtenG Allg.) Diese Voraussetzungen sind aber, wie das LSG zutreffend entschieden hat, in der Zeit bis zum 31. Januar 1942 nicht gegeben. Denn bis dahin fehlt es schon an einem Schaden, der dem Kläger aus Verfolgungsgründen entstanden ist und der einen Ausgleich nach dem Gesetz erfordert. Selbst wenn man darin, daß er vom 1. Januar 1935 an nicht mehr als selbständiger Außenvertreter der Firma N., sondern nur noch im Innendienst dieser Firma tätig sein durfte, das Eingehenmüssen eines anderen Arbeitsverhältnisses aus den in § 1 Abs. 1 Nr. 1 VerfolgtenG genannten Gründen erblickt, so hat der Kläger durch die Maßnahmen seiner Firma keinen versicherungsrechtlichen Nachteil erlitten. Nach den Feststellungen des LSG hat er bis 1935 eine versicherungsfreie Tätigkeit als selbständiger Vertreter ausgeübt und keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet; er wäre, wenn die behauptete Verfolgungsmaßnahme nicht stattgefunden hätte, weiterhin versicherungsfrei geblieben. Der Wechsel seiner Tätigkeit zum 1. Januar 1935 berührt danach nicht die Höhe der Rente und bildet deshalb auch keinen Anlaß, ihm eine höhere Bemessungsgrundlage im Wege des Schadensausgleichs in entsprechender Anwendung des § 4 Abs. 4 und 5 VerfolgtenG zuzugestehen. Daß der Kläger in der genannten Zeit einen Minderverdienst gehabt und einen Berufsschaden erlitten hat (für den ihm die Entschädigungsbehörde einen Ausgleich gewährt hat), steht dieser Betrachtung nicht entgegen; der wegen Verdrängung aus seiner selbständigen Erwerbstätigkeit entstandene Schaden (§§ 66, 74 BEG) muß nicht auch zu einem Schaden in der Sozialversicherung (§ 138 BEG) geführt haben. Unter diesen Umständen kann es dahinstehen, ob der Kläger durch die Hereinnahme in den Innendienst der Firma N. überhaupt in ein "anderes Arbeitsverhältnis" im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 5 VerfolgtenG getreten ist.

Entgegen der Meinung der Revision kann der Kläger einen Schadensausgleich auch nicht deshalb verlangen, weil er während seiner Tätigkeit im Innendienst der Firma N. - wie er erstmals in der Revision vorträgt - zu Unrecht nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert gewesen ist, obwohl für ihn bei richtiger Behandlung Pflichtbeiträge abzuführen gewesen wären. Mit diesem Vorbringen setzt sich der Kläger in Widerspruch zu seinem eigenen, in den Gründen des angefochtenen Urteils wiedergegebenen früheren Vortrag, er sei bei seiner Tätigkeit im Innendienst der Firma selbständig gewesen. Hiervon abgesehen bieten die Vorschriften in § 4 Abs. 4 und 5 VerfolgtenG , die den aus Verdienstausfall und Minderverdienst in der Sozialversicherung erwachsenen Schaden eines Verfolgten ausgleichen sollen, auch keine Handhabe für eine Erhöhung der Rentenbemessungsgrundlage, wenn der Schaden - wie hier - aus anderen Gründen (Nichtabführung von Pflichtbeiträgen) eingetreten ist. Auch die Anrechnung einer Ersatzzeit ist dann nicht möglich. Denn Zeiten, in denen Versicherungspflicht bestanden hat, dürfen nach der ausdrücklichen Vorschrift in § 1251 Abs. 2 Satz 1 RVO nicht als Ersatzzeiten angerechnet werden. Dies gilt selbst dann, wenn die Beteiligten ihre Beitragspflicht verletzt haben und auch keine Beiträge nach §§ 1250 Abs. 1 a, 1397 Abs. 6 RVO angerechnet werden können. Die Nichtentrichtung geschuldeter Beiträge kann nicht über die Anrechnung einer Ersatzzeit zu Lasten der Versichertengemeinschaft gehen (vgl. Brackmann, 6. Aufl., Seite 674; Elsholz/Theile Nr. 34 Anm. 2 b und Verbands. Komm., 6. Aufl. Anm. 5 zu § 1251 RVO). Hiervon läßt das Gesetz eine Ausnahme nur für den in § 3 Abs. 2 des Handwerkerversicherungsgesetzes genannten Sachverhalt zu, jedoch nicht auch für den Fall, daß die Leistung von Pflichtbeiträgen für einen Verfolgten gesetzwidrig unterblieben ist. Der Kläger kann daher nicht verlangen, daß er durch Anrechnung einer Ersatzzeit so gestellt wird, wie wenn für ihn auf Grund eines entsprechenden Beschäftigungsverhältnisses in der Zeit vom 1. Januar 1935 bis 31. Januar 1942 Versicherungsbeiträge geleistet worden wären. Unter diesen Umständen bestand auch für das LSG keine Notwendigkeit zu weiteren Ermittlungen darüber, aus welchen Gründen der Kläger während seiner Tätigkeit im Innendienst der Firma N. vom 1. Januar 1935 an nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert gewesen ist. Die Rüge der Revision, das LSG habe die Entscheidung insoweit auf einen nicht ausreichend geklärten Sachverhalt gestützt und gegen die Vorschriften in § 128, 103 SGG verstoßen, ist unbegründet. Der Senat braucht im vorliegenden Rechtsstreit auch nicht zu entscheiden, ob der Kläger - die Richtigkeit seines Revisionsvorbringens unterstellt - die Möglichkeit hat, Pflichtbeiträge nach § 1418 Abs. 3 RVO oder § 140 Abs. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - (Fall der besonderen Härte) nachzuentrichten. Seine Revision gegen das Urteil des LSG muß vielmehr zurückgewiesen werden.

Begründet ist indessen die Revision der Beklagten, soweit das LSG sie verurteilt hat, dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen, in dem die Zeit vom 1. Februar 1942 bis 31. Januar 1943 als Ersatzzeit rentensteigernd berücksichtigt wird. Das LSG sieht für diese Zeit den Tatbestand der Freiheitsentziehung im Sinne von § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO als gegeben an, weil der Kläger sich nach seinem glaubhaften Vortrag bis zum Abschluß des vom Reichssippenamt gegen ihn anhängig gemachten Verfahrens zeitweise verborgen gehalten habe, um sich der Verfolgung durch politische Instanzen zu entziehen, was einem Leben unter haftähnlichen Bedingungen gleichgekommen sei. Gegen die tatsächlichen Feststellungen, die dieser Auffassung zugrunde liegen, bringt aber die Revision zulässige und begründete Revisionsgründe vor (§ 163 SGG). Das LSG hat bei der Entscheidung nicht oder nicht genügend berücksichtigt, daß der Kläger während der fraglichen Zeit einen Rechtstreit mit Hilfe eines Rechtsanwalts betrieben hat und Geschäftsführer eines gastronomischen Betriebs in Hamburg gewesen ist. Mit diesen tatsächlichen Feststellungen ist die Annahme des LSG, der Kläger habe - wenn auch nur zeitweise-unter haftähnlichen Bedingungen gelebt, nicht ohne weiteres vereinbar. Ein weiterer Widerspruch in der Urteilsbegründung liegt in der Annahme des LSG, für den Kläger habe während der angegebenen Geschäftsführertätigkeit Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung bestanden, ohne daß die Beteiligten dieser Verpflichtung nachgekommen wären. Träfe diese Auffassung des LSG zu, so entfiele die Anrechnung einer Ersatzzeit allein schon wegen der Vorschrift in § 1251 Abs. 2 Satz 1 RVO.

Nach § 43 Abs. 2 BEG, auf den § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO verweist, und der allein für die Auslegung dieser Vorschrift maßgeblich ist, sind unter einer Freiheitsentziehung zu verstehen insbesondere polizeiliche oder militärische Haft, Inhaftnahme durch die NSDAP, Konzentrationslagerhaft und Zwangsaufenthalt in einem Ghetto. Einer derartigen Freiheitsentziehung ist der Kläger unstreitig nicht ausgesetzt gewesen. Ihr steht aber nach § 43 Abs. 3 BEG u. a. ein Leben unter haftähnlichen Bedingungen gleich. Es liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vor, wenn der Verfolgte erheblichen und laufend behördlich streng überwachten Einschränkungen seiner Bewegungsfreiheit unterworfen war und nach den sonstigen sich ergebenden Bedingungen ein Leben führen mußte, das dem eines Häftlings sehr nahe kam (vgl. RzW 1957, 328; 1962, 404; 1965, 68, 130, 316; 1966, 332). Das Vorliegen dieser Voraussetzungen wurde z. B. bejaht bei der nichtjüdischen Ehefrau eines Juden, die mit diesem den Aufenthalt in einem sogenannten Judenhaus geteilt hat, weil sie unter den gegebenen Umständen trotz verbliebener äußerer Bewegungsfreiheit in ihrem persönlichen Lebensbereich und ihrer persönlichen Lebensbetätigung empfindlich eingeengt gewesen sei (RzW 1959, 24 und 1965, 130). Das gleiche wurde angenommen bei der Unterbringung eines Verfolgten in einem umzäunten und bewachten Zigeunerlager (RzW 1962, 404) oder bei einem langen Zwangsaufenthalt eines Verfolgten auf einem überfüllten Auswandererschiff (RzW 1965, 68). Andererseits hat die Rechtsprechung ein Leben unter haftähnlichen Bedingungen verneint bei Zigeunern, die während des Krieges nach Polen deportiert wurden, dort aber frei umherziehen konnten (RzW 1966, 332), oder beim bloßen Zwangsaufenthalt in einer Gemeinde, wenn der Verfolgte sich außerhalb der Sperrstunden frei bewegen und sein Leben nach eigenem Ermessen gestalten konnte (RzW 1968, 124).

Der Senat trägt keine Bedenken, dieser Rechtsprechung bei der Auslegung des Begriffs "Freiheitsentziehung" in § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO zu folgen. Danach setzt aber ein Leben unter haftähnlichen Bedingungen streng überwachte Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und ein weitgehendes Abgeschnittensein des Verfolgten von der Umwelt voraus, also einen Lebenszuschnitt, der der Lebensweise eines Häftlings sehr nahe kommt. Mit der Annahme des LSG, daß der Kläger in der Zeit vom 1. Februar 1942 bis 31. Januar 1943 in dieser Weise gelebt habe, steht aber im Widerspruch, daß er nach anderweitigen Feststellungen des LSG während des gleichen Zeitraums eine an sich versicherungspflichtige Beschäftigung als Geschäftsführer eines gastronomischen Betriebs ausgeübt und einen Prozeß gegen das Reichssippenamt betrieben hat. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern der Kläger angesichts solcher Betätigung von der Umwelt abgeschnitten gewesen sein und ein haftähnliches Dasein geführt haben soll. Mindestens ist es unklar, wie lange die eine oder die andere Lebensweise vorgelegen hat. Das LSG hätte, wie die Revision mit Recht geltend macht, sich nicht ohne weiteres die widersprüchliche Schilderung des Klägers zu eigen machen dürfen; es hätte vielmehr den Sachverhalt weiter aufklären, insbesondere ermitteln müssen, wie die Lebensverhältnisse des Klägers in der fraglichen Zeit gewesen sind (z. B. Wohnung, polizeiliche Meldung, Lebensmittelkarten), in der er "untergetaucht" gewesen sein will. Hierzu hätte das LSG vor allem auch den Inhaber des Kaffeehauses und den Rechtsanwalt hören müssen, der den Kläger in seinem Prozeß vertreten hat. In diesem Zusammenhang ist es auch von Bedeutung, daß in der Bescheinigung des Entschädigungsamts Hamburg vom 22. Oktober 1963 von einer Freiheitsentziehung beim Kläger nicht die Rede ist, wie auch die Zeit vom 1. Februar 1942 bis 15. Dezember 1942 darin unberücksichtigt geblieben ist. Auf die Revision der Beklagten muß daher das Urteil des LSG aufgehoben werden, soweit es die Beklagte zur Berücksichtigung der Zeit vom 1. Februar 1942 bis 31. Januar 1943 als Ersatzzeit verurteilt hat.

Begründet ist auch die Revision der Beklagten, soweit sie sich gegen die Verurteilung zu einer für den Kläger günstigeren Anrechnung der Zeit vom 1. Februar 1943 bis 8. Mai 1945 wendet. Das LSG hat offensichtlich darin, daß der Kläger die mit einem monatlichen Einkommen von 500,- RM verbundene Geschäftsführertätigkeit aufgegeben und zum 1. Februar 1943 ein Arbeitsverhältnis mit 300,- RM Monatsgehalt bei einer Tiefbaufirma begonnen hat, einen Anwendungsfall des § 4 Abs. 5 VerfolgtenG gesehen; denn die Urteilsgründe besagen, daß der Kläger das Arbeitsverhältnis als Geschäftsführer infolge von Verfolgungsmaßnahmen aufgeben mußte. Auch gegen diese tatsächlichen Feststellungen bringt die Revision zulässige Einwendungen vor; sie meint, das LSG hätte die Gründe für den Arbeitsplatzwechsel näher aufklären müssen, weil nicht auszuschließen sei, daß die Vermittlung des Klägers in eine andere Arbeitsstellung aus kriegsbedingten Gründen geschehen sei. Ob diese Revisionsangriffe begründet sind, oder ob das LSG auf Grund der Angaben des Klägers, des Inhalts der Bescheinigung des Inhabers des Kaffeehauses Regina (in den Akten der Entschädigungsbehörde) und der Feststellungen der Entschädigungsbehörde in ihrer abschließenden Verfügung zu der Überzeugung kommen konnte, daß der Kläger die Geschäftsführertätigkeit aus den in § 1 Abs. 1 Nr. 1 VerfolgtenG genannten Gründen aufgeben mußte, kann vorerst dahinstehen. Denn die weitere Annahme des LSG, es sei bei der sinngemäßen Anwendung von § 4 Abs. 5 VerfolgtenG davon auszugehen, wie das aufgegebene Arbeitsverhältnis versicherungsrechtlich zu behandeln wäre, wenn die Behandlung nicht durch Verfolgungsmaßnahmen sabotiert worden wäre, betrifft die vom LSG noch zu klärende Frage, wie die Lebensverhältnisse des Klägers in der Zeit vom 1. Januar 1942 bis 31. Januar 1943 gewesen sind. Von der Klärung dieser Verhältnisse hängt es ab, ob die Beiträge, die während der Beschäftigung des Klägers bei der Tiefbaufirma geleistet wurden, in sinngemäßer, der Rechtslage nach dem ArVNG angepaßter Auslegung des § 4 Abs. 5 VerfolgtenG aufgestockt werden können oder nicht. Es erscheint daher nicht tunlich, daß der Senat insoweit den Rechtsstreit abschließend entscheidet.

Wegen der offenen Fragen auf tatsächlichem Gebiet, die für beide Zeitabschnitte von Bedeutung sind, muß das angefochtene Urteil auch hinsichtlich der Anrechnung der Zeit vom 1. Februar 1943 bis 8. Mai 1945 aufgehoben und der Rechtsstreit in dem von der Revision der Beklagten erfaßten Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324537

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