Leitsatz (amtlich)

Zur Frage, wie bei der Berechnung der großen Witwenrente nach AVG § 45 Abs 2 (= RVO § 1268 Abs 2) eine bei einer umgestellten Versichertenrente berücksichtigte Zurechnungszeit anzurechnen ist, wenn der Rentenbeginn und der dafür maßgebende Versicherungsfall nicht in dasselbe Jahr fallen.

 

Normenkette

RVO § 1268 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 45 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11. März 1970 wird aufgehoben.

Auf die Berufung der Beklagten werden die Urteile des Sozialgerichts München vom 3. Dezember 1968 (S 19 An 140/65 und S 19 An 2200/68) aufgehoben, soweit sie die Beklagte zur Anrechnung einer weiteren Zurechnungszeit verurteilt haben. Auch in diesem Umfang werden die Klagen abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der ... 1900 geborene Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater des Klägers zu 2) war seit dem 1. März 1945 wegen einer Psychose berufsunfähig. Auf seinen Antrag vom 11. November 1948 erhielt er mit Wirkung vom 1. Dezember 1948 an Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit nach § 26 Abs. 1 Nr. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aF. Mit dem Inkrafttreten der Rentenreform wurde die Rente für die Zeit vom 1. Januar 1957 an nach den Vorschriften des Art. 2 §§ 30 ff des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) vom 23. Februar 1957 umgestellt. Sie galt nach Art. 2 § 37 Abs. 2 AnVNG als Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Am 30. Juli 1964 ist der Versicherte gestorben. Mit den Bescheiden vom 23. Dezember 1964 gewährte die Beklagte den Klägern vom 1. August 1964 an Witwen- und vom 1. Oktober 1964 an Halbwaisenrente in Höhe von 188,10 DM und 87,40 DM monatlich. Dabei waren die Renten nach den §§ 45 Abs. 2 und 46 i. V. mit § 30 Abs. 2 AVG idF des AnVNG berechnet worden, wobei in entsprechender Anwendung des § 30 Abs. 2 Satz 3 eine Zurechnungszeit vom 1. Dezember 1948 bis 31. Dezember 1955 angerechnet wurde.

Mit zwei Bescheiden vom 21. März 1966 berechnete die Beklagte die Renten für die Zeit vom 1. Juli 1965 an auf Grund des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 neu auf 234,40 DM und 95,10 DM monatlich. Hierbei waren gemäß § 45 Abs. 3 und § 46 Abs. 1 Satz 2 AVG i. V. mit den geänderten §§ 31 Abs. 2 Satz 2 und 30 Abs. 2 Satz 3 AVG wiederum für die Zeit vom 1. Dezember 1948, dem Beginn der Rente des Versicherten, bis zum 31. Dezember 1955, dem Monat der Vollendung seines 55. Lebensjahres, 85 Monate als Zurechnungszeit berücksichtigt worden.

Alle genannten Bescheide sind von den Klägern angefochten worden. Sie begehrten einmal die Anrechnung einer weiteren Ausfallzeit, vor allem aber wollten sie auch die Zeit vom März 1945, dem Beginn der Berufsunfähigkeit, bis November 1948 als dem letzten Monat vor Beginn der Rentenzahlung als Zurechnungszeit angerechnet haben.

Das Sozialgericht (SG) München hat durch zwei Urteile vom 3. Dezember 1968 (S 19 An 140/65 und S 19 An 2200/68) unter Abweisung der Klage im übrigen die Beklagte verurteilt, in Abänderung ihrer Bescheide vom 23. Dezember 1964 und 21. März 1966 bei der Berechnung der Witwen- und der Waisenrente eine zusätzliche Zurechnungszeit von März 1945 bis November 1948 zugrunde zu legen. Die hiergegen von der Beklagten eingelegte Berufung hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG), nachdem es beide Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden hatte, zurückgewiesen. Die Vorinstanzen sind im wesentlichen übereinstimmend der Auffassung, die Beklagte wolle die Zeit vom März 1945 bis November 1948 der Berechnung der Hinterbliebenenrenten deshalb nicht zugrunde legen, weil der verstorbene Versicherte eine sog. umgestellte Rente bezogen habe; durch die Berücksichtigung des Rentenbeginns bei den Umstellungsfaktor gemäß Art. 2 § 31 AnVNG seien auch die vor dem 1. Januar 1957 liegenden Zurechnungszeiten abgegolten worden. Dieser Ansicht könne nicht gefolgt werden. Der Versicherungsfall des Todes sei ein neuer Versicherungsfall. Es lägen neue Ansprüche und keine Umwandlungen vor. Die Beklagte übersehe, daß die Hinterbliebenenrenten nach der dem Versicherten zustehenden Rente zu berechnen seien, wenn bei ihm der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit zum Zeitpunkt seines Todes eingetreten wäre. Es handele sich also um sog. Zugangsrenten und nicht etwa um umgestellte Renten, so daß § 37 AVG unmittelbar anzuwenden sei mit der Folge, daß für den Umfang der Zurechnungszeit nicht der hier spätere Rentenbeginn, sondern der frühere Eintritt des Versicherungsfalles maßgebend sei.

Das LSG hat in seinem Urteil die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen. Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und den aus der Urteilsformel ersichtlichen Antrag gestellt. Sie rügt unrichtige Anwendung der Vorschriften über die Berechnung der Hinterbliebenenrenten der Kläger.

Die Kläger beantragen,

die Revision zurückzuweisen,

da das angefochtene Urteil richtig sei.

II

Die Revision der Beklagten ist begründet.

Hinsichtlich der beiden Bescheide vom 23. Dezember 1964 ist noch von den §§ 45 Abs. 2 und 46 Abs. 1 AVG idF des AnVNG auszugehen. Danach betrug die Witwenrente für die Klägerin zu 1), weil sie das 45. Lebensjahr vollendet hatte, sechs Zehntel der nach § 30 Abs. 2 AVG berechneten Versichertenrente ohne Kinderzuschuß, und die Halbwaisenrente für den Kläger zu 2) ein Zehntel der nach § 30 Abs. 2 berechneten Versichertenrente ohne Kinderzuschuß, jedoch erhöht um den Kinderzuschuß nach § 39 Abs. 4 AVG. § 30 Abs. 2 AVG war dabei ebenfalls idF des AnVNG zugrunde zu legen.

Die nach § 30 Abs. 2 AVG zu berechnende Rente mußte als fiktive Versichertenrente (vgl. Ludwig, Deutsche Rentenversicherung - DRV - 1968, 80) so errechnet werden, als sei der Versicherte zum Zeitpunkt seines Todes erwerbsunfähig geworden. Dazu schrieb § 30 Abs. 2 Satz 3 AVG für den Fall der Umwandlung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit in eine solche wegen Erwerbsunfähigkeit vor, daß eine bisher angerechnete Zurechnungszeit in gleichem Umfang anzurechnen war.

Hatte deshalb z. B. der Versicherte bis zu seinem Tode eine Rente wegen Berufsunfähigkeit bezogen, so war sie somit gemäß den genannten Vorschriften unter Beibehaltung der angerechneten Zurechnungszeit umzuwandeln. Hatte er dagegen bis zu seinem Tode eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bezogen, bei der eine Zurechnungszeit angerechnet war, so war gleichwohl § 30 Abs. 2 Satz 3 AVG anzuwenden, und zwar entsprechend (vgl. Elsholz/Theile, Die gesetzliche Rentenversicherung, Nr. 52 Anm. 3 b). Denn die Hinterbliebenen eines verstorbenen Erwerbsunfähigen können insoweit nicht anders behandelt werden als die Hinterbliebenen eines verstorbenen Berufsunfähigen. Sie durch eine Nichtanrechnung von Zurechnungszeiten zu benachteiligen, bestand kein Anlaß. Im übrigen ist z. B. auch für die Wartezeitfiktion des § 29 AVG anerkannt, daß sie nicht nur für den Fall gilt, daß der Versicherte "berufsunfähig geworden oder gestorben ist", wie es im letzten Halbsatz heißt, sondern auch dann, wenn er erwerbsunfähig geworden ist (vgl. Verb.Komm. § 1252 RVO Note 2).

Auf Grund dieser Rechtslage konnte jedoch nicht, wie das SG, das LSG und die Kläger meinen, bei der Berechnung der Hinterbliebenenrenten die nicht mit Beiträgen belegte Zeit seit dem 1. März 1945 bis Dezember 1955 wegen der in § 30 Abs. 2 Satz 3 ausgesprochenen Verweisung auf § 37 AVG unmittelbar nach der zuletzt genannten Vorschrift als Zurechnungszeit angerechnet werden. In dieser Weise konnte schon deswegen nicht vorgegangen werden, weil § 37 AVG, der allerdings auf den Eintritt des Versicherungsfalles und nicht auf den Rentenbeginn abstellt, sich nur auf die Versicherungsfälle bezieht, die vor Vollendung des 55. Lebensjahres eingetreten sind. Hier ist jedoch von einer Versichertenrente auszugehen, die auf einen im Zeitpunkt des Todes des Versicherten eingetretenen Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit abzustellen ist. Dieser fiktive Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit ist aber beim Ehemann und Vater der Kläger fast neun Jahre später, nachdem er sein 55. Lebensjahr vollendet hatte, eingetreten, nämlich am 30. Juli 1964. Damit könnte überhaupt keine Zurechnungszeit angerechnet werden. Dazu kommt noch, daß vor einer Anwendung des § 37 AVG geprüft werden müßte, ob auch die dort geforderten besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Hieran wird es vielfach fehlen. Aus allen diesen Gründen kann somit § 37 AVG nicht unmittelbar angewendet werden.

Vielmehr war von der in den §§ 46 Abs. 1, 45 Abs. 2 und 30 Abs. 2 Satz 3 AVG vorgeschriebenen Berücksichtigung einer dem Versicherten angerechneten Zurechnungszeit auszugehen. Hierbei handelte es sich um eine Vorschrift zur Wahrung des Besitzstandes, die verhindern sollte, daß eine einmal angerechnete Zurechnungszeit bei der Berechnung der Hinterbliebenenrente wieder wegfiel. Zurechnungszeiten, die bereits der Versichertenrente zugrunde lagen, sollten auch den Hinterbliebenen erhalten bleiben. Auf diesen Schutz vor Schlechterstellung beschränkte sich aber Sinn und Zweck der erwähnten Vorschriften. Eine über die Wahrung des Besitzstandes hinausgehende Besserstellung gegenüber den sonstigen Beziehern von Hinterbliebenenrente war dagegen mit dieser Regelung nicht beabsichtigt.

Diese Rechtslage hat sich durch das RVÄndG, das für die beiden Bescheide vom 21. März 1966 in Betracht kommt, nicht wesentlich geändert. Insbesondere ist es nach den zuvor genannten Vorschriften bei der Berechnung nach einer fiktiven, auf den Tod des Versicherten abzustellenden Rente wegen Erwerbsunfähigkeit geblieben. Nach § 30 Abs. 2 Satz 3 AVG idF des RVÄndG ist lediglich eine bisher angerechnete Zurechnungszeit nicht nur im gleichen Umfang, sondern auch mit gleichem Wert anzurechnen.

In der früheren Berufsunfähigkeitsrente des Versicherten war allerdings noch keine Zurechnungszeit enthalten, weil das damalige Recht eine solche nicht kannte. Anders liegt es jedoch mit seiner umgestellten Rente. Hier war eine Zurechnungszeit bis zur Vollendung des 55. Lebensjahres berücksichtigt (vgl. Verb.Komm. Art. 2 § 32 ArVNG Note 2 sowie die Rechnungsunterlagen für das ArVNG und das AnVNG im BArbBl 1957, 221, 231).

Da somit dem Versicherten in seinem Umstellungsfaktor nur die Zeit vom 1. Dezember 1948 bis 31. Dezember 1955 als Zurechnungszeit gutgebracht worden war, kann sie sich nach dem Wortlaut der angeführten Bestimmungen auch nur in diesem Umfang auf die Hinterbliebenenrenten auswirken, da nur eine bisher angerechnete Zurechnungszeit erhalten bleibt. Das Begehren der Kläger, auch die vorangegangene und bisher nicht angerechnete Zeit vom 1. März 1945 bis 30. November 1948 als Zurechnungszeit berücksichtigt zu erhalten, findet in den gesetzlichen Regelungen keine Grundlage. Insoweit besteht auch zu einer berichtigenden oder erweiternden Auslegung kein Anlaß. Ein solches Vorgehen würde darauf hinauslaufen, daß die Berechnungsvorschriften entgegen dem Willen des Gesetzgebers zugunsten der Kläger abgeändert würden.

Inwieweit der Senat damit im Grundsatz von seiner Entscheidung vom 9. Mai 1967 (BSG 26, 247) abweicht, braucht nicht näher untersucht zu werden. Jedenfalls kann jenem Urteil für die Frage, ob und inwieweit es bei Hinterbliebenenrenten besitzgeschützte Zurechnungszeiten gibt, nichts entnommen werden, da es sich nur auf Versichertenrenten bezieht (ebenso Bergner, DRV 1969, 15, 21 unter II 4).

Somit hat die Beklagte in ihren angefochtenen Bescheiden die Renten der Kläger richtig berechnet. Insbesondere hat sie, obwohl die Tabelle der Anlage 3 zu Art. 2 § 31 AnVNG nur auf das Jahr des Rentenbeginns und das Geburtsjahr des Versicherten und damit auf das Jahr der Vollendung seines 55. Lebensjahres Bezug nimmt, zu Recht auf die Monate vom Beginn der Rente bis zum Monat der Vollendung des 55. Lebensjahres abgestellt. Eine andere, bessere und gerechtere Ermittlung der im Umstellungsfaktor angerechneten Zurechnungszeit erscheint nicht möglich. Vor allem bietet § 4 der Verordnung über die Anwendung der Ruhensvorschriften der RVO und des AVG auf umzustellende Renten der Rentenversicherungen der Arbeiter und Angestellten vom 9. Juli 1967 (BGBl I 704) keine angemessene Lösung. Allenfalls wäre noch eine Berechnung allein nach vollen Jahren in Betracht gekommen. Da aber der Zeitraum von 1948 bis 1955 nur sieben Jahre umfaßt, hätten alsdann überhaupt nur 84 Monate angerechnet werden dürfen. Denn daß nicht der ganze Zeitraum vom 1. Januar 1948 bis 31. Dezember 1955 als Zurechnungszeit berücksichtigt werden kann, folgt schon daraus, daß alsdann in solchen Fällen stets von der denkbar günstigsten Fallgestaltung ausgegangen würde, die sicherlich nicht die Regel bildet, nämlich vom Rentenbeginn genau zum Jahresanfang und von der Vollendung des 55. Lebensjahres genau zum Jahresende.

Die Revision muß deshalb den aus der Urteilsformel ersichtlichen Erfolg haben. Der entgegenstehenden Rechtsauffassung der Kläger und der Vorinstanzen kann nicht gefolgt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 90

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