Entscheidungsstichwort (Thema)
Oberschenkelamputierter mit Herzinsuffizienz
Leitsatz (redaktionell)
Der Senat kann sich nicht der Auffassung anschließen, daß ein Oberschenkelamputierter trotz ordnungsmäßiger prothetischer Versorgung und längerer Anpassung an seinen Zustand, falls kein besonderer Ausnahmefall vorliege, grundsätzlich invalide sei. Besteht neben dem Verlust des Oberschenkels eine Herzinsuffizienz und kann der Versicherte nur auf körperliche Arbeiten verwiesen werden, so liegt Invalidität vor.
Normenkette
RVO § 1254 Fassung: 1949-06-17
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 5. April 1955 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der im Jahre 1912 geborene Kläger war bis zu seiner Einberufung im Jahre 1940 zunächst als Melker, später als Waldarbeiter, landwirtschaftlicher Arbeiter und Tiefbauarbeiter tätig. Im Jahre 1944 wurde er verwundet, und im Juni 1945 wurde ihm der linke Oberschenkel im oberen Drittel amputiert; im Stumpf litt er an Nervenschmerzen (Stumpfneuritis), ferner an Überlastungsbeschwerden im rechten Unterschenkel. Außerdem war chronische Lungenblähung und vegetative Labilität festgestellt worden. Wegen dieser Leiden bewilligte ihm die Beklagte mit Bescheid vom 29. April 1952 Invalidenrente vom 1. April 1951 an.
Unter Bezugnahme auf das Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. med. S., der den Kläger nachuntersuchte und zu dem Ergebnis kam, ihm seien wieder mittelschwere Arbeiten im Sitzen fortgesetzt, im Stehen mit Unterbrechung zuzumuten, entzog die Beklagte dem Kläger die Rente zum Ablauf des Monats Januar 1954 (durch Bescheid vom 5. Januar 1954): Der Zustand des Klägers habe sich nach dem Ergebnis der ärztlichen Begutachtung gebessert. Es bestehe kein Anhalt mehr für eine Nervenentzündung des Stumpfes. Auch könnten keine Überlastungsschäden des rechten Beines festgestellt werden.
Mit der gegen den Bescheid vom 5. Januar 1954 eingereichten Klage legte der Kläger eine Bescheinigung des ihn behandelnden Arztes Dr. W. vor, nach der er den Kläger seit 1949 laufend behandle; er leide an Herz- und Magenbeschwerden, die durch chronische Gastroduodenitis und Herzmuskelschwäche verursacht seien; außerdem klage er über Schmerzen im Rücken und vereinzelt über Stumpfnervenschmerzen; sein Gang sei für einen Prothesenträger äußerst schwerfällig und schleppend. Das Sozialgericht hob den Bescheid der Beklagten über die Entziehung der Rente auf und verurteilte sie, dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen, wonach die Invalidität vom Februar 1954 an weiter bestehe. Es sah den Kläger wegen der Amputation des linken Oberschenkels und wegen seiner Atemnot als so weitgehend in seiner Leistungsfähigkeit behindert an, daß er nach wie vor invalide sei.
Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt und im wesentlichen geltend gemacht, der Kläger sei nur durch die Amputation in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert; er habe sich jedoch an den Verlust des Beines ausreichend gewöhnt, sei von 1946 bis 1949 in einer Pantoffelfabrik als Pantoffelmacher tätig gewesen und sei auch in der Lage, seinen 400 qm großen Garten zu bearbeiten. Er könne deshalb nicht mehr als invalide angesehen werden. Der Kläger hat eine weitere gutachtliche Erklärung des Arztes Dr. W. überreicht, wonach die letzte Röntgenuntersuchung durch Dr. B., Rendsburg, ergeben habe, daß der Kläger ein plumpes Herz mit hypertrophiertem linken Ventrikel habe; er leide an einer groben Gastritis des Magens in praeulcerösem Stadium. Trotz intensiver Behandlung mit Herzmitteln bestehe eine erhebliche Herz- und Kreislaufschwäche mit Dekompensationserscheinungen. Das Magenleiden sei ein Dauerzustand, weil Zwölffingerdarmgeschwüre im Frühjahr und im Herbst recidivierten. Schon durch diese Gebrechen sei die Erwerbsfähigkeit erheblich herabgesetzt und könne schon "fast eine Invalidität bedingen". Hierzu hat sich der in der Verhandlung anwesende Facharzt für Chirurgie Prof. Dr. M. nicht geäußert. Das Landessozialgericht (LSG.) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Es ist im Anschluß an ein Urteil des 1. Senats des LSG. Schleswig vom 29. April 1954 (Breithaupt 1954 S. 1038) davon ausgegangen, daß eine Oberschenkelamputation auch ohne Hinzutreten weiterer Komplikationen die Fähigkeit zur Verrichtung einer invalidenversicherungspflichtigen Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsfeld um mehr als die Hälfte einschränke. Die Anpassung an das Kunstglied reiche für sich allein nicht aus, um die Invalidität abzulehnen. Nur wenn der Versicherte durch tatsächliche, längere wirtschaftlich nutzbringende Arbeitsleistung bewiesen habe, daß er sich auf dem allgemeinen Arbeitsfeld unserer Zeit zu behaupten vermöge, sei er zum Erwerb der gesetzlichen Lohnhälfte fähig. Der Gesundheitszustand des Klägers werde aber nicht ausschließlich durch die Absetzung des Oberschenkels bestimmt. Der Kläger leide außerdem, wie sich aus dem von Dr. B. festgestellten Befund ergebe, an einer Herzinsuffizienz. Auch hierdurch sei die Arbeitsfähigkeit des Klägers wesentlich beeinträchtigt. Die Rente sei daher zu Unrecht entzogen worden.
Die Beklagte, der das Urteil des LSG. am 10. Juni 1955 zugestellt worden ist, hat am 28. Juni 1955 Revision eingelegt. Sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. Schleswig zurückzuverweisen.
In der am 4. Juli 1955 eingegangenen Begründung rügt sie: Das LSG. habe der Aufklärungspflicht nicht genügt und somit § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt. Die tatsächlichen Feststellungen reichten nicht aus, die Entscheidung des Berufungsgerichts zu rechtfertigen. Es habe nicht ermittelt, welche Arbeiten dem Kläger noch zugemutet werden könnten und ob er damit die im § 1254 der Reichsversicherungsordnung (RVO) geforderte gesetzliche Lohnhälfte verdienen könne. Die Entscheidung hätte nicht auf die Untersuchung durch einen Arzt allein gestützt werden dürfen. Das LSG. habe aber auch § 1254 RVO unrichtig angewandt. Die Erwerbsfähigkeit des Klägers werde nur durch den Verlust des linken Beines im oberen Drittel des Oberschenkels eingeschränkt. Nach Meinung der Ärzte könne dem Kläger zugemutet werden, leichte bis mittelschwere Arbeiten im Sitzen fortgesetzt und im Stehen mit Unterbrechung zu leisten. Die Voraussetzungen des § 1254 RVO seien nicht schon dadurch erfüllt, daß der Versicherte oberschenkelamputiert sei. Das Gericht müsse den Tatbestand für jeden Versicherten besonders prüfen und könne nicht davon ausgehen, daß die Erwerbsfähigkeit eines Beinamputierten allgemein auf 60 v. H. einzuschätzen sei, zumal die Rentenversicherung keine prozentuale Einstufung der Minderung der Erwerbsfähigkeit kenne. Der Kläger sei erst 43 Jahre alt. Es gebe auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch zahlreiche Tätigkeiten, die er ausführen könne.
Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen, hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen. Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist vorsorglich darauf hin, daß das LSG. nicht geprüft habe, ob er auch an einer Gastroduodenitis und einem Herzmuskelschaden leide.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte und auch rechtzeitig begründete Revision ist statthaft, weil sie das LSG. zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist jedoch nicht begründet.
Ob die Beklagte dem Kläger die Invalidenrente durch den Bescheid vom 5. Januar 1954 zu Recht entzogen hat, ist hier nach dem im Zeitpunkt der Entziehung maßgebenden Recht zu prüfen. Aus Art. 2 § 24 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter (ArVNG) kann nicht geschlossen werden, daß hierbei das jetzt geltende Recht anzuwenden sei; denn diese Vorschrift will nur sicherstellen, daß die neuen Entziehungsbestimmungen auch auf Renten anzuwenden sind, die auf einem Versicherungsfall alten Rechts beruhen, sie besagt aber nicht, daß die Rechtswirksamkeit einer vor Inkrafttreten des ArVNG ausgesprochenen Rentenentziehung nach den grundsätzlich erst seit Inkrafttreten des neuen Rechts geltenden Vorschriften zu prüfen ist (ebenso Jantz-Zweng: Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, Art. 2 § 24 ArVNG).
Die Rente wurde dem Kläger vor Inkrafttreten des neuen Rechts (1. Januar 1957) entzogen, weil er wegen Besserung seines Gesundheitszustandes nicht mehr invalide sei. Die Rechtmäßigkeit dieser Entziehung ist auch nach Inkrafttreten des neuen Rechts nach dem Invaliditätsbegriff des § 1254 RVO a. F. zu beurteilen. Die Übergangsbestimmung des Art. 2 § 6 ArVNG steht dem nicht entgegen, weil es sich im vorliegenden Fall um ein schwebendes Verfahren im Sinne des Art. 2 § 44 Satz 1 ArVNG handelt; hiernach ist Art. 2 § 6 ArVNG nicht anzuwenden (vgl. BSG., Urteil des 4. Senats vom 24.10.1957 - 4 RJ 118/56 -). Ist die Entziehung begründet, so ist allerdings bei Streit über die Wiedergewährung der Rente von einem späteren Zeitpunkt an die Erwerbsfähigkeit vom 1. Januar 1957 an nach der Vorschrift des § 1246 Abs. 2 RVO n. F. zu beurteilen.
Der Senat kann sich zwar der Auffassung des LSG. nicht anschließen, daß ein Oberschenkelamputierter trotz ordnungsmäßiger prothetischer Versorgung und längerer Anpassung an seinen Zustand, falls kein besonderer Ausnahmefall vorliege, grundsätzlich invalide im Sinne des § 1254 RVO sei. Denn der vom LSG. ohne nähere Begründung zugrunde gelegte Erfahrungssatz, Oberschenkelamputierte seien nur dann nicht mehr invalide, wenn sie durch tatsächlich längere, wirtschaftlich nutzbringende Arbeitsleistung bewiesen hätten, daß sie imstande seien, sich auf dem allgemeinen Arbeitsfeld zu behaupten, besteht nicht. Wie schon der 4. Senat in seinem Urteil vom 15. Dezember 1955 (BSG. 2 S. 127) ausgeführt hat, kann nur nach Lage des Einzelfalles entschieden werden, ob derartige Beschädigte in der Lage sind, durch eine ihnen zumutbare Tätigkeit die Hälfte des maßgebenden Vergleichslohnes zu erwerben. Dem LSG. ist zuzugeben, daß die Verrichtung einer bestimmten Tätigkeit zwar ein wichtiges Merkmal für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit ist, daß es aber nicht immer entscheidend darauf ankommt. Hat z. B. ein Versicherter vor dem Verlust des Oberschenkels Arbeiten im Sitzen verrichtet, so wird er in der Regel auch imstande sein, nach prothetischer Versorgung und Anpassung an seinen Zustand eine gleichartige oder im wesentlichen gleichartige Tätigkeit auszuüben. Aber auch ein Versicherter, der bisher nicht im Sitzen gearbeitet hat, kann in der Lage sein, ohne besondere Umschulung nach kurzer Einarbeitungszeit durch eine zumutbare Tätigkeit, die im wesentlichen im Sitzen ausgeübt wird und die seinen Kräften und Fähigkeiten entspricht, die Hälfte des für ihn in Betracht kommenden Vergleichslohns zu verdienen. Anderseits spricht der Umstand, daß ein Versehrter für eine von ihm verrichtete Tätigkeit einen bestimmten Lohn erhält, nicht immer dafür, daß er auch tatsächlich imstande ist, diesen Lohn zu verdienen. Wenn dies auch häufig zutreffen wird, so sind doch Fälle denkbar, in denen die Beschäftigung des Versehrten überhaupt oder die Höhe seines Lohnes auf anderen Umständen, besonders auf fürsorgerischen Gründen, beruht. Welche Tätigkeit einem Oberschenkelamputierten unter billiger Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufs zuzumuten ist, bedarf deshalb eingehender Prüfung und Entscheidung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles.
Das angefochtene Urteil ist aber im Ergebnis nicht zu beanstanden, weil es nicht allein auf einem - wie dargelegt - nicht bestehenden Erfahrungssatz beruht, daß Oberschenkelamputierte stets invalide seien. Das LSG. hat vielmehr festgestellt, daß der Kläger auch an einer Herzinsuffizienz leide. An diese Feststellung, die das LSG. auf Grund des ärztlichen Zeugnisses des Dr. W. und des in diesem Zeugnis angegebenen Röntgenbefundes des Dr. B. getroffen hat, ist der Senat gebunden, weil die Beklagte gegen diese Feststellung keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen vorgebracht hat (§ 163 SGG). Ihre Rüge, diese Feststellung hätte nicht auf die Untersuchung durch einen Arzt allein gestützt werden dürfen, entspricht nicht den Erfordernissen des § 164 Abs. 2 SGG; sie enthält keine Angaben darüber, auf Grund welcher Umstände sich das Berufungsgericht hätte gedrängt fühlen müssen, weitere Ermittlungen anzustellen und in welcher Richtung diese Ermittlungen im einzelnen hätten vorgenommen werden müssen (SozR. SGG § 164 Bl. Da 7 Nr. 24 und Bl. Da 10 Nr. 28). Ist demnach davon auszugehen, daß bei dem Kläger, der im Hinblick auf seine bisherige berufliche Tätigkeit und seine Ausbildung nur auf körperliche Arbeiten verwiesen werden kann, neben dem Verlust des Oberschenkels, der seine Erwerbsfähigkeit ganz wesentlich beeinträchtigt, noch eine Herzinsuffizienz besteht, so kann die Auffassung des LSG., der Kläger sei weiter invalide im Sinne des § 1254 RVO, nicht beanstandet werden.
Die Revision ist hiernach als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen