Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiswürdigung. Erwerbsfähigkeit. Rentenentziehung
Orientierungssatz
1. Das Gericht verletzt seine Pflicht, sich seine Überzeugung aus dem gesamten Verfahren zu bilden, wenn es bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit eines Klägers nur dessen innere Krankheiten beachtet, die Beeinträchtigung durch Verlust eines Auges und Kurzsichtigkeit des anderen Auges jedoch außer Betracht läßt.
2. Bei der Prüfung der Erwerbsfähigkeit des Klägers kommt es darauf an, ob er auch ohne die Hilfe und den Schutz des Schwerbeschädigtengesetzes imstande ist, eine ihm zuzumutende Tätigkeit zu verrichten und damit die Hälfte des maßgebenden Vergleichslohnes zu verdienen. Das Gegenteil kann nicht aus Art 2 § 24 ArVNG geschlossen werden. Denn diese Vorschrift will nur sicherstellen, daß die neuen Entziehungsbestimmungen auch auf Renten anzuwenden sind, die auf einem Versicherungsfall alten Rechts beruhen; sie besagt aber nicht, daß die Rechtswirksamkeit einer vor Inkrafttreten des ArVNG ausgesprochenen Rentenentziehung nach den grundsätzlich erst seit Inkrafttreten des neuen Rechts geltenden Vorschriften zu prüfen wäre (vgl BSG 1955-06-16 3 RJ 83/54 = BSGE 1, 82).
Normenkette
SGG § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1246 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 24 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 10.05.1955) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 10. Mai 1955 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der im Jahre 1924 geborene Kläger erhielt von der Beklagten seit April 1946 Invalidenrente, weil er an offener doppelseitiger großkavernöser Lungentuberkulose links litt. Wie die Beklagte im Jahre 1949 durch Rückfrage beim Arbeitgeber des Klägers (MAN) feststellte, war der Kläger mit einfachen Büroarbeiten beschäftigt; hierfür erhielt er einen Stundenlohn von 1,03 DM, mit dem er kaum hinter dem Stundenlohn vergleichbarer Arbeiter zurückblieb. Jedoch litt der Kläger nach Mitteilung der Tbc-Fürsorgestelle A noch an einer wenn auch nicht mehr ansteckenden, so doch aktiven Tuberkulose. Die Beklagte sah daher zunächst nur eine weitere Kontrolle für Mai 1950 vor. Auch als das Gesundheitsamt im Juli 1950 abermals mitteilte, daß die Tuberkulose des Klägers noch aktiv sei, beließ ihm die Beklagte die Rente. Sie griff das Rentenentziehungsverfahren jedoch im Spätjahr 1952 wieder auf. Bei den hierbei eingeleiteten Erhebungen vertrat der behandelnde Arzt des Klägers Dr. T die Auffassung, der Zustand des Klägers sei seit dem Jahre 1949 bis zum November 1952 im wesentlichen gleich geblieben. Die versorgungsärztliche Untersuchungsstelle hatte sich am 27. Mai 1952 im Versorgungsverfahren dagegen gutachtlich dahin geäußert, eine aktive Lungentuberkulose des Klägers habe nicht mehr festgestellt werden können, sein Kräfte- und Ernährungszustand sei gut, die Erwerbsfähigkeit sei um 70 v. H. gemindert. Die MAN teilte der Beklagten auf Anfrage im November 1952 mit, der Kläger werde mit dem Registrieren von Briefen und Vorgängen beschäftigt, er erhalte ein monatliches Bruttogehalt von 350,- DM, Gehaltsminderungen würden in derartigen Fällen aus sozialen Gründen nicht vorgenommen, gewisse Leistungsmängel fielen bei der Größe der Firma nicht ins Gewicht. Der Vertrauensarzt der Beklagten Dr. H nahm am 16. Dezember 1952 gutachtlich Stellung, die kavernöse Lungen-Tbc des Klägers sei nun in die sogenannte indurative Form überführt; der Kläger sei nicht mehr invalide, weil er in geheizten und geschlossenen Räumen ununterbrochen leichte Arbeiten verrichten könne. Hiernach entzog die Beklagte dem Kläger die Rente mit Ende des Monats Januar 1953.
Im gerichtlichen Verfahren der ersten Instanz vertrat der Facharzt für Lungenkrankheiten Dr. D die Ansicht, der Gesundheitszustand des Klägers habe sich wesentlich gebessert; der Lungenprozeß sei jetzt durch eine Thorakoplastik ausgeschaltet; der Kläger könne als Bürogehilfe oder technischer Angestellter ganztägig arbeiten, die Arbeitsleistung gehe nicht auf Kosten seiner Gesundheit; es kämen für ihn allerdings nur leichtere, körperlich nicht anstrengende Arbeiten in Betracht. Der behandelnde Arzt des Klägers Dr. L bescheinigte ihm im November 1953 und Februar 1954, er habe unter einer hartnäckigen Bronchitis mit asthmatischen Erscheinungen zu leiden. Der Kläger selbst machte geltend, sein erlernter Beruf als Mechaniker sei ihm verschlossen und er übe seine jetzige Büroarbeit auf Kosten seiner Gesundheit aus. Der vom Sozialgericht gehörte Oberingenieur der Abteilung, in der der Kläger beschäftigt war, bekundete, der Kläger ermüde bei seiner Arbeit (Ausschreiben von Aufträgen, Führen von Listen und Karteien) rasch; Arbeiten dieser Art würden im allgemeinen von Frauen verrichtet, und zwar gegen ein monatliches Entgelt von 250,- DM; die Beschäftigung des Klägers im Betrieb sei allein deshalb gerechtfertigt, weil er Schwerbeschädigter sei. Das Sozialgericht verurteilte die Beklagte, dem Kläger die Invalidenrente weiter zu gewähren. Es nahm im Gegensatz zu der Ansicht des gerichtsmedizinischen Sachverständigen an, die Atmungsfähigkeit des Klägers sei, weil die eine Lungenhälfte stillgelegt sei und wegen Beeinträchtigung auch der anderen Lungenhälfte zu gering. Im Anschluß an die gutachtliche Stellungnahme der Tbc-Fürsorgestelle vom 12. Mai 1953, in der die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) mit 60 v. H. bewertet worden war, sah es den Kläger weiterhin als invalide an. Hierbei berücksichtigte es ein von Dr. R erstattetes augenärztliches Gutachten und die Aussage des Oberingenieurs.
Die Beklagte machte mit ihrer Berufung geltend, die Tbc des Klägers sei nicht mehr aktiv, der Kläger stehe - gegen ein monatliches Entgelt von 397,- DM - voll in Arbeit, ohne an seiner Gesundheit Schaden zu nehmen; die im Versorgungsverfahren angenommene MdE. des Klägers (70 v. H.) sei für die Beurteilung seiner Erwerbsfähigkeit in der Invalidenversicherung nicht maßgebend. Das Landessozialgericht gab der Berufung der Beklagten statt: Die ausführlichen Gutachten von Dr. H sowie von Dr. D ferner das Bild, das sich aus den Akten der Tbc-Fürsorgestelle des Gesundheitsamts Augsburg-Stadt und des Versorgungsamtes Augsburg ergebe, besonders das Schlußzeugnis der Versorgungsanstalt Bad Reichenhall vom 3. Oktober 1954 über eine Kur des Klägers rechtfertigten die Annahme, sein Zustand habe sich seit der Rentengewährung so sehr gebessert, daß er nicht mehr invalide sei. Die nicht in gleicher Weise schlüssige Beurteilung des den Kläger behandelnden Lungenfacharztes Dr. G (Gutachten vom 19. Februar 1955) sei abzulehnen. Entscheidend sei gegenüber der Beurteilung der ersten Instanz, daß die Tbc des Klägers seit Jahren inaktiv geworden sei. Ferner betone das Schlußzeugnis der Kuranstalt Bad Reichenhall die Geringfügigkeit der asthmatischen und bronchitischen Erscheinungen. Damit sei die Auffassung des Sozialgerichts, daß die Atemfähigkeit des Klägers durch Beeinträchtigung auch der nicht stillgelegten Lunge entscheidend verringert werde, ausgeräumt. Eine sich aus dem Elektrokardiogramm ergebende gewisse Überlastung des Vorhofs des Herzens beeinflusse die Leistungsfähigkeit des Herzens nicht wesentlich. Demnach habe das Lungenleiden auf Herz und Kreislauf des Klägers trotz der Arbeitsleistung nicht übergegriffen. Infolge seines befriedigenden Ernährungs- und Kräftezustandes könne ihm die Fähigkeit zur Verrichtung wenigstens irgendeiner Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht abgesprochen werden, besonders nicht für die von ihm zuletzt ausgeübte Tätigkeit eines technischen Angestellten. - Für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit des Klägers dürfe nicht von seinem früheren Beruf als Mechaniker ausgegangen werden; vielmehr müsse er sich auch auf Berufe, die der Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung unterlägen, verweisen lassen, da er sich darauf seit Jahren umgestellt habe. Der Einwand des Klägers, daß er als Mechaniker 800,- DM je Monat verdienen würde, könne nicht durchgreifen, weil für die Beurteilung der Invalidität nicht konjunkturbedingte Spitzenlöhne herangezogen werden könnten. Außerdem sei zu berücksichtigen, daß der Kläger, der zur Zeit als Registrator und mit einschlägigen technischen Arbeiten beschäftigt sei, auch als technischer Angestellter tätig werden könne.
Das Urteil des Landessozialgerichts, in dem die Revision nicht zugelassen wurde, ist dem Kläger am 14. September 1955 zugestellt worden. Er hat am 11. Oktober 1955 Revision eingelegt, die er am 1. November 1955 begründet hat.
Der Kläger beantragt, unter Aufhebung des Urteils des Bayerischen Landessozialgerichts vom 10. Mai 1955 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 25. Februar 1954 zurückzuweisen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision nach § 169 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie als unbegründet zurückzuweisen.
Der Kläger rügt zunächst, das Vordergericht habe die ihm obliegende Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 103 SGG) verletzt. Es habe insbesondere nicht geprüft, inwieweit die Erwerbs- und Wettbewerbsfähigkeit des Klägers durch den Verlust des linken Auges, die Herabsetzung der Sehschärfe und die Erkrankung des verbliebenen Auges (Zucken und Lidkrampf) sowie durch eine schwere Stirnknochenverletzung gemindert sei, obwohl das Schlußgutachten der Kuranstalt Bad Reichenhall eine augenfachärztliche Untersuchung vorgeschlagen habe. Das Landessozialgericht sei auch zu Unrecht davon ausgegangen, daß der Kläger eine Versorgungsrente nach einer MdE. um 70 v. H. erhalte, während es bei vollständiger Sachaufklärung hätte feststellen müssen, daß er auf Grund eines Vergleichs Rente entsprechend einer MdE. von 80 v. H. erhalte. Das Vordergericht habe ferner nicht genügend aufgeklärt, in welchem Umfange die Arbeitsleistung des Klägers durch ambulante Behandlung und vorbeugende Untersuchungen beeinträchtigt gewesen sei. Für die Beurteilung seiner Wettbewerbsfähigkeit sei aber von Bedeutung, daß er seit Oktober 1953 die Arbeit wegen Inhalation täglich stundenweise habe unterbrechen müssen. Das Vordergericht habe auch nicht geprüft, ob die Beschäftigung des Klägers etwa allein durch seine Schwerbeschädigteneigenschaft bedingt gewesen sei. Es hätte hierzu und zu der Frage, ob er wegen seiner schweren Körperschäden vom Arbeitgeber nicht besonders begünstigt werde, nicht einen untergeordneten Abteilungsleiter, sondern einen Angehörigen der Personalabteilung hören müssen. Schließlich habe das Landessozialgericht nicht hinreichend geklärt, ob der Kläger in seiner Wohngegend überhaupt Beschäftigungsmöglichkeiten als technischer Angestellter habe. Außerdem rügt der Kläger fehlerhafte Beweiswürdigung (§ 128 SGG). Die Feststellung, der Gesundheitszustand des Klägers habe sich seit 1949 wesentlich gebessert, stimme mit den fachärztlichen Gutachten nicht überein, denn die überwiegende Zahl der Sachverständigen habe darauf hingewiesen, daß in dem Lungenbefund seit 1949 keine wesentliche Besserung eingetreten sei. Es treffe auch nicht zu, daß sämtliche Gutachter darin übereinstimmten, daß der Prozeß in der rechten Lunge seit Jahren inaktiv geworden sei. Aus dem Schlußgutachten der Kuranstalt Bad Reichenhall hätte auch nicht geschlossen werden können, daß keine asthmatischen und bronchitischen Krankheitserscheinungen vorlägen, denn dieses Gutachten spreche nur von einer "Geringfügigkeit dieser Beschwerden". Die Feststellung des Berufungsgerichts, das Lungenleiden beeinflusse trotz der Arbeitsleistung die Tätigkeit von Herz und Kreislauf nicht, stehe im Widerspruch zu dem Schlußgutachten der Kuranstalt Bad Reichenhall, das ausdrücklich auf eine durch das Lungenleiden bedingte Überlastung des Vorhofes des Herzens hinweise. Dieses Gutachten hebe ferner, was der Vorderrichter nicht berücksichtigt habe, hervor, daß wegen der erhöhten Beanspruchung und Abnutzung der Atmungs- und Kreislauforgane mit deren vorzeitigem Versagen zu rechnen sei. Schließlich habe das Landessozialgericht den Verlust eines Auges, eine schwere Schädigung des verbliebenen Auges und eine Stirnknochenverletzung nicht gewürdigt, obgleich diese Gesundheitsschäden für die Beurteilung seiner Erwerbs- und Wettbewerbsfähigkeit ausschlaggebend seien.
Die Beklagte hält die Rügen des Klägers für unbegründet.
II.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und rechtzeitig begründet worden. Sie ist, obgleich sie das Landessozialgericht nicht zugelassen hat, statthaft, weil ein wesentlicher Mangel des Verfahrens mit Erfolg gerügt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Zwar greift die Revision die Feststellung des Berufungsgerichts, die Tuberkulose des Klägers sei seit Jahren inaktiv, zu Unrecht an. Diese Feststellung wird durch die Gutachten der Versorgungsärztlichen Untersuchungsstelle Augsburg vom 27. Mai 1952, des Anstaltsarztes Dr. H vom 16. Dezember 1952, des Facharztes für Lungenkrankheiten Dr. D vom 11. August 1953, das Schlußzeugnis der Versorgungskuranstalt Bad Reichenhall vom 13. Oktober 1954 und die Auskunft der Tuberkulose-Fürsorgestelle des Gesundheitsamts Augsburg-Stadt vom 11. Januar 1955 gestützt. Wenn sich das Landessozialgericht bei der Beurteilung der durch das Lungenleiden beeinflußten Erwerbsfähigkeit des Klägers diesen Gutachten angeschlossen hat, so hat es die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung nicht überschritten. Das Landessozialgericht hat auch - entgegen der Annahme der Revision - nicht festgestellt, daß beim Kläger asthmatische und bronchitische Krankheitserscheinungen nicht vorlägen; es hat vielmehr die Beurteilung des Dr. G die Arbeitsfähigkeit des Klägers werde durch asthmatische und bronchitische Erscheinungen stark beeinträchtigt, im Hinblick auf die Ausführungen in dem Schlußgutachten der Versorgungskuranstalt Bad Reichenhall, daß die insoweit beim Kläger bestehenden Beschwerden nur geringfügig seien, als nicht bewiesen angesehen. Die hiergegen erhobene Rüge einer unrichtigen Beweiswürdigung geht daher fehl. Ebenso kann dem Landessozialgericht nicht der Vorwurf gemacht werden, es habe bei der Würdigung der gutachtlichen Äußerung der Versorgungskuranstalt Bad Reichenhall vom 2. Mai 1955 den Einfluß des Lungenleidens auf die Tätigkeit von Herz und Kreislauf verkannt. Wohl kann es fraglich erscheinen, ob die Annahme des Vorderrichters, das Lungenleiden habe auf die Tätigkeit von Herz und Kreislauf trotz der Arbeitsleistung des Klägers nicht übergegriffen, der gutachtlichen Äußerung voll entspricht. In dieser Hinsicht ist der Revision zuzugeben, daß der in dieser gutachtlichen Stellungnahme enthaltene Hinweis auf die erhöhte Beanspruchung und Abnutzung des Atmungs- und Kreislaufapparates und die Möglichkeit eines vorzeitigen Versagens dieser Organe im fortgeschrittenen Alter für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht ohne Bedeutung ist. Wie sich aber aus dem Zusammenhang ergibt, kam es dem Berufungsgericht bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit des Klägers hauptsächlich auf die im vorhergehenden Satz getroffene Feststellung an, daß trotz des in Bad Reichenhall erhobenen Befundes einer gewissen Überlastung des Vorhofs des Herzens (Elektrokardiogramm) die Leistungsfähigkeit des Herzens ausreiche. Diese Feststellung steht nicht im Widerspruch zu der gutachtlichen Stellungnahme der Versorgungskuranstalt vom 2. Mai 1955, in der ausgeführt ist, daß sowohl der klinische Gesamteindruck als auch die Kreislauffunktionsprüfung und das Ruhe- und Belastungs-Elektrokardiogramm krankheitstypische Zeichen vermissen ließen.
Die Revision rügt jedoch mit Recht, daß das Berufungsgericht bei Prüfung der Frage, welche Arbeiten der Kläger wieder verrichten kann, nur seine inneren Leiden gewürdigt hat, daß das Urteil aber eine Auseinandersetzung mit dem Verlust des linken Auges und der Beeinträchtigung der Sehkraft des rechten Auges sowie mit dem Einfluß dieser Gesundheitsschäden auf seine Erwerbsfähigkeit vermissen läßt.
Der Kläger hatte in seiner an das Oberversicherungsamt gerichteten Berufungsschrift vom 31. Januar 1953 auf den Zustand seiner Augen hingewiesen. Nach dem bei den Versorgungsakten befindlichen Gutachten des Oberregierungsmedizinalrats Dr. ... vom 29. Mai 1952, auf das auch das Sozialgericht in seinem Urteil Bezug genommen hat, hatte der Kläger über sehr rasche Ermüdung des rechten Auges, bei längerem Lesen in der Nähe auch über Zuckungen der Lider sowie zeitweilig über Lidkrampf geklagt. Der Sachverständige Dr. R hatte hierzu ausgeführt, daß die angegebenen Sehbeschwerden durch Kurzsichtigkeit erklärt würden, daß der Lidkrampf und das Augenzucken eine Folge der Nervenverletzung der rechten Gesichtsseite seien und nur im Zusammenhang mit der Narbe bzw. der Knochenschädigung beurteilt werden könnten. Die Versorgungskuranstalt Bad Reichenhall hatte sich in ihrem Gutachten vom 2. Mai 1955 wie folgt geäußert:
"Der Verlust eines Auges fällt dagegen, unabhängig vom Alter, insbesondere bei einem geistig arbeitenden Menschen stärker ins Gewicht. Dies gilt vor allem im Hinblick auf den Verlust des plastischen Sehens und einer rascheren Ermüdbarkeit des verbliebenen Auges. Trotzdem kann der Verlust des linken Auges nicht als invaliditätsbedingend angesehen werden, vorausgesetzt, daß die Sehkraft des rechten Auges von vornherein ausreichend oder mindestens für eine ausreichende Funktion korrigierbar erscheint. Eine stärkere Beeinträchtigung der Sehkraft links - richtig: rechts - wurde hier nicht festgestellt, gegebenenfalls wäre fachärztliche Untersuchung notwendig."
Da das Berufungsgericht den Kläger auf den Beruf eines technischen Angestellten verwiesen hat und der Zustand der Augen für die Ausübung eines solchen Berufs nicht ohne Bedeutung ist, handelt es sich, wie auch dem Gutachten der Versorgungskuranstalt Bad Reichenhall zu entnehmen ist, um einen für die Entscheidung des Rechtsstreits wesentlichen Umstand.
In den Entscheidungsgründen ist der Zustand der Augen des Klägers aber überhaupt nicht gewürdigt worden, so daß das angefochtene Urteil nicht erkennen läßt, daß das Gericht seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gebildet hat, wie es § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG vorschreibt. Da es nicht ausgeschlossen ist, daß das Landessozialgericht bei Würdigung des gesamten Sachverhalts und nach näherer Prüfung des Zustands der Augen zu einer anderen, für den Kläger günstigeren Beurteilung gelangt wäre, ist die Revision als begründet anzusehen (vgl. BSG. 2 S. 197 (201)). Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Bei seiner Entscheidung wird das Landessozialgericht auch zu beachten haben, daß bei der Beurteilung der für Schwerbeschädigte noch in Betracht kommenden Tätigkeiten die durch das Schwerbeschädigtengesetz begründete bevorzugte Stellung der Schwerbeschädigten grundsätzlich nicht zu berücksichtigen ist (BSG. 1 S. 82 (89)). Hiernach kommt es bei Prüfung der Erwerbsfähigkeit des Klägers darauf an, ob er auch ohne die Hilfe und den Schutz des Schwerbeschädigtengesetzes imstande wäre, eine ihm zuzumutende Tätigkeit zu verrichten und damit die Hälfte des maßgebenden Vergleichslohnes zu verdienen. Dies gilt sowohl bei Anwendung des § 1254 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bisheriger Fassung als auch der entsprechenden Vorschrift des § 1246 RVO in der Fassung des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter (ArVNG). Ob die Entziehung der Rente gerechtfertigt gewesen ist, kann nur unter Berücksichtigung des im Zeitpunkt der Entziehung maßgebenden Rechts geprüft werden. Das Gegenteil kann nicht aus Art. 2 § 24 ArVNG geschlossen werden. Denn diese Vorschrift will nur sicherstellen, daß die neuen Entziehungsbestimmungen auch auf Renten anzuwenden sind, die auf einem Versicherungsfall alten Rechts beruhen; sie besagt aber nicht, daß die Rechtswirksamkeit einer vor Inkrafttreten des ArVNG ausgesprochenen Rentenentziehung nach den grundsätzlich erst seit Inkrafttreten des neuen Rechts geltenden Vorschriften zu prüfen wäre (ebenso Jantz-Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, Art. 2 § 24 ArVNG).
Sollte sich die Entziehung der Rente auch bei der neuen Prüfung als begründet erweisen, so wird das Landessozialgericht, da der Kläger die Weitergewährung der Rente beansprucht, zu prüfen haben, ob zwischen dem Zeitpunkt der Rentenentziehung und dem Schluß der letzten mündlichen Verhandlung die Voraussetzungen der Rentengewährung erneut eingetreten sind. Hierbei kann der Begriff der Berufsunfähigkeit im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO n. F. erst vom Inkrafttreten des ArVNG an angewandt werden, denn die Übergangsbestimmung des Art. 2 § 6 ArVNG ist in der verfahrensrechtlichen Vorschrift des Art. 2 § 44 Satz 1, die sich auf die Nachprüfung ergangener Bescheide bezieht, nicht aufgeführt (vgl. BSG., Urteil des 4. Senats vom 24.10.1957 - 4 RJ 118/56 -).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen