Leitsatz (amtlich)

Wenn der Versicherte durch einen Unfall oder eine Berufskrankheit später - an sich - erwerbsgemindert worden wäre, erhält er keine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung, wenn er zwischenzeitlich durch ein unfallunabhängiges Leiden bereits voll erwerbsunfähig geworden ist.

 

Normenkette

RVO § 581 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1963-04-30, § 551 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 561 Fassung: 1925-07-14

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. September 1968 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Streitig ist, ob dem - inzwischen verstorbenen - Ehemann der Klägerin (Versicherter) für die bei ihm vorhanden gewesene und als Berufskrankheit anzusehende Quarzstaublungenerkrankung (Silikose) eine Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren war, wenn dieser in dem Zeitpunkt, als die Berufskrankheit einen rentenberechtigenden Erwerbsminderungsgrad erreichte, bereits dauernd durch einen vorher erlittenen Schlaganfall mit Halbseitenlähmung völlig erwerbsunfähig war.

Der im Jahre 1905 geborene Versicherte bezog von der Knappschaft seit dem 21. Dezember 1953 wegen "vorzeitiger Gefäßsklerose mit Bluthochdruck und beginnender Einschränkung der Nierenfunktion, Staublunge II. Grades" eine Knappschaftsvollrente, die ab 1. Januar 1957 in eine Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit umgestellt wurde. Seit dem Jahre 1952 hatte sich der Versicherte bei der Beklagten mehrfach erfolglos um eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen Silikose bemüht. Es wurden zwar leichte Staublungenveränderungen festgestellt, die aber keine leistungsmindernde Beeinträchtigung von Atmung und Kreislauf verursacht hatten, so daß die Gewährung einer Rente - zuletzt mit Bescheid vom 17. Oktober 1956 - abgelehnt wurde.

Im Juni 1966 erfolgte eine weitere ärztliche Anzeige über eine bestehende Silikose durch den praktischen Arzt Dr. G, der eine Silikose II. Grades mit Beeinträchtigung des Kreislaufs bescheinigte. Nachdem der Facharzt für innere Krankheiten Dr. Sch in einem Gutachten vom 14. Juli 1966 nunmehr eine durch die Silikose bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. angenommen hatte, erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 26. September 1966 eine Quarzstaublungenerkrankung als Berufskrankheit an. Als Zeitpunkt des Versicherungsfalles gelte der 14. Juli 1966. Soweit wegen der Folgen dieser Erkrankung ärztliche Behandlung erforderlich sei, werde diese gewährt. Da die in der gesetzlichen Unfallversicherung vorgesehene Entschädigung auf die durch die Berufskrankheit verursachte MdE abgestellt sei, könne keine Rente gewährt werden. Denn wenn ein Versicherter schon vor dem Beginn der Berufserkrankung aus anderen, durch die Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung nicht erfaßten Gründen bereits dauern völlig erwerbsunfähig sei, könne keine weitere MdE mehr eintreten.

Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Dortmund mit Urteil vom 20. April 1967 abgewiesen. Die gegen das Urteil eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 24. September 1968 zurückgewiesen. Das LSG hat festgestellt, daß der Versicherte seit dem am 5. März 1966 erlittenen Schlaganfall völlig erwerbsunfähig war. Durch das von dem durch das Gericht gehörten Sachverständigen erstattete Gutachten sei als gesichert anzusehen, daß bei dem Versicherten frühestens seit dem 14. Juli 1966 eine an sich rentenberechtigende Silikose vorgelegen habe. Da der Versicherte zu dieser Zeit schon völlig erwerbsunfähig gewesen sei, könne aber keine Verletztenrente gezahlt werden. Aus dem Fortfall des § 561 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF bzw. aus der Nichtaufnahme einer entsprechenden Vorschrift in das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz ergebe sich nicht, daß die im § 561 RVO aF bei vorbestandener völliger Erwerbsunfähigkeit vorgeschriebene Beschränkung der Entschädigung auf Krankenbehandlung nach neuem Recht nicht mehr gelten solle. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.

Die Klägerin hat das von dem Versicherten eingeleitete Verfahren nach dessen am 18. April 1969 erfolgten Tode als Rechtsnachfolgerin aufgenommen.

Zur Begründung der eingelegten Revision wird von der Klägerin vorgetragen, der Versicherungsfall der Silikose sei nicht erst eingetreten, wenn die MdE einen rentenberechtigenden Grad erreicht habe, sondern schon dann, wenn der Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung vorliege. Die ersten Symptome einer Steinstaublunge seien aber bereits im Jahre 1937 in Erscheinung getreten. Der Versicherte sei in den nachfolgenden Jahren auch wegen der durch die Silikose bedingten Reizzustände an den Bronchien ärztlich behandelt worden. Im übrigen könnten aber die in § 561 RVO aF enthaltenen Grundsätze nach seinem ersatzlosen Fortfall durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz nicht mehr fortgelten, so daß es nicht darauf ankomme, ob der Kläger schon zu der Zeit, als die Silikose einen rentenberechtigenden Erwerbsminderungsgrad erreicht habe, dauernd völlig erwerbsunfähig gewesen sei.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung des Urteils des Sozialgerichts Dortmund vom 20. April 1957 sowie des Bescheides der Beklagten vom 26. September 1966 zu verurteilen, der Klägerin unter Anerkennung eines vor dem Jahre 1966 liegenden Zeitpunkts des Beginns der Entschädigungspflicht Unfallrente für ihren verstorbenen Ehemann, entsprechend einer MdE um 30 v.H., vom 1. Juli 1966 bis zum Tode des Versicherten zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beklagte ist der Ansicht, daß den Entscheidungen der Vorinstanzen zugestimmt werden muß.

II

Die Revision ist nicht begründet.

Das LSG hat sich der in dem von ihm eingeholten Gutachten vertretenen Ansicht angeschlossen, daß der Versicherte seit seiner Vollinvalidisierung im Jahre 1953 durch die coronarsklerotischen Veränderungen und durch die hierdurch bedingten Störungen zwar erheblich in seiner Arbeitsleistung behindert, aber noch nicht völlig erwerbsunfähig gewesen ist. Eine völlige Erwerbsunfähigkeit ist erst am 5. März 1966 durch den Schlaganfall und die dadurch hervorgerufene halbseitige Lähmung eingetreten. Das LSG hat zwar nicht ausdrücklich festgestellt, daß es sich hierbei um eine dauernde völlige Erwerbsminderung gehandelt hat, jedoch ergibt sich dies aus dem Zusammenhang seiner Urteilsbegründung, insbesondere aus der Feststellung, der Versicherte sei bereits am 5. März 1966 völlig erwerbsunfähig gewesen. Weiter ist das LSG zu dem Ergebnis gekommen, daß durch die beim Versicherten schon vor dem 5. März 1966 vorhanden gewesenen silikotischen Veränderungen frühestens seit Juli 1966 eine rentenberechtigende MdE eingetreten ist. Hieran ist das Revisionsgericht gebunden, da hiergegen keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen innerhalb der Revisionsbegründungsfrist vorgebracht worden sind. Das Revisionsgericht hat also davon auszugehen, daß der Versicherte bereits dauernd völlig erwerbsunfähig war, als die Silikose an sich einen rentenberechtigenden Grad von Erwerbsminderung erreicht haben würde.

Nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO wird eine Verletztenrente gewährt, solange die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge eines Arbeitsunfalls um wenigstens ein Fünftel gemindert ist. Diese Vorschrift ist für Berufskrankheiten entsprechend anzuwenden (§ 551 Abs. 3 Satz 1 RVO). Die rentenberechtigende MdE muß also durch den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit verursacht worden sein. Daraus ergibt sich, daß dann, wenn ein Versicherter in dem Zeitpunkt, in welchem an sich eine rentenberechtigende MdE durch den Unfall oder die Berufskrankheit eingetreten wäre, bereits infolge eines zwischenzeitlich eingetretenen unfallunabhängigen Ereignisses dauernd völlig erwerbsunfähig ist, keine Rente gewährt werden kann; denn in diesem Falle ist die MdE nicht infolge des Unfalls oder der Berufskrankheit, sondern allein infolge des unfallunabhängigen Ereignisses eingetreten. Eine bereits völlig entfallene Erwerbsfähigkeit kann nicht mehr gemindert werden. Wäre der Versicherte nicht durch einen Schlaganfall, sondern zum Beispiel durch einen Verkehrsunfall, für den er von anderer Seite durch eine lebenslängliche Rente entschädigt würde, dauernd völlig erwerbsunfähig geworden, so würde dieses Ergebnis schon auf den ersten Blick einleuchten. Denn es ist klar, daß in diesem Falle nicht zwei Renten gezahlt werden können. Ist dies aber zutreffend, so kann es nicht schon deshalb anders sein, weil im vorliegenden Fall das andere Ereignis nicht entschädigt wird. Von dieser Folge könnte nur abgegangen werden, wenn der Gesetzgeber Ausnahmeregelungen schaffen oder davon abgehen würde, die Rentengewährung in der gesetzlichen Unfallversicherung von einer durch den Unfall verursachten MdE abhängig zu machen. Das ist bisher jedoch nicht geschehen. Auch § 561 RVO aF enthält nach Ansicht des erkennenden Senats keine solche Regelung.

Der 2. Senat des BSG ist allerdings in seiner Entscheidung vom 30. März 1962 (SozR RVO § 561 aF Nr. 1) aufgrund des damals noch geltenden § 561 RVO aF zu einem anderen Ergebnis gekommen. Nach § 561 RVO aF war keine Rente zu gewähren, wenn der Verletzte schon zur Zeit des Unfalls dauernd völlig erwerbsunfähig war. Aus dem Wortlaut "schon zur Zeit des Unfalls dauernd erwerbsunfähig war" hat der 2. Senat geschlossen, daß § 561 RVO aF nicht anwendbar sei, wenn die durch ein Unfallereignis verursachte Körperschädigung erst in allmählicher Entwicklung zu einem späteren Zeitpunkt eine rentenberechtigende MdE herbeigeführt hätte, in der Zwischenzeit aber durch ein unfallunabhängiges Ereignis eine dauernde, völlige Erwerbsunfähigkeit verursacht worden war. Der erkennende Senat würde dagegen auch unter der Herrschaft des § 561 RVO aF zu demselben Ergebnis kommen wie heute, nach Wegfall dieser Vorschrift. Unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des erkennenden Senats ist also durch den Wegfall des § 561 RVO aF keine - sicherlich vom Gesetzgeber auch nicht gewollte - Verschlechterung der Rechtslage der Versicherten eingetreten.

Bei dieser Sachlage hält es der Senat nicht für möglich, von dem Wortlaut des § 581 Abs. 1 Nr. 1 RVO, nach dem Verletztenrente zu gewähren ist, solange die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge des Arbeitsunfalles gemindert ist, abzuweichen. Es wäre Sache des Gesetzgebers, für Fälle der vorliegenden Art eine Ausnahme von der gesetzlichen Regelung zuzulassen, wenn er eine solche für erforderlich ansehen sollte.

Die Revision der Klägerin mußte daher zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2284906

BSGE, 224

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