Leitsatz (amtlich)
Versorgungsrechtlich geschützt ist nach BVG § 1 Abs 2 Buchst a in Verbindung mit § 5 Abs 1 Buchst b grundsätzlich das gesamte Verhalten, das im Falle der Auslösung des Fliegeralarms von der Bevölkerung erzwungen wurde. Dazu gehörte auch der Rückweg von dem Luftschutzraum in die Wohnung (Fortführung BSG 1956-03-20 8 RV 199/54 = BSGE 2, 265).
Normenkette
BVG § 1 Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1950-12-20, § 5 Abs. 1 Buchst. b Fassung: 1953-08-07
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. Mai 1960 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Klägerin, Mutter und Rechtsnachfolgerin der am 9. Februar 1942 geborenen und im Laufe dieses Rechtsstreits gestorbenen Hildegard B... (B.), stellte am 30. Juli 1953 als gesetzliche Vertreterin ihrer Tochter den Antrag auf Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG); sie machte geltend, ihre Tochter habe epileptische Anfälle, die auf einen Sturz zurückzuführen seien, den sie im Alter von zwei Jahren erlitten habe; der Sturz sei Folge einer unmittelbaren Kriegseinwirkung im Sinne des BVG. Sie - die Klägerin - sei damals nach einem Fliegeralarm mit ihrer Tochter auf dem Arm aus dem Luftschutzbunker zur Wohnung zurückgekehrt, dabei sei ihr die Tochter beim Öffnen der Haustür entglitten und mit dem Kopf auf einen Mauervorsprung aufgeschlagen. Das Versorgungsamt K... lehnte den Antrag durch Bescheid vom 23. Mai 1956 ab; der Heimweg aus dem Luftschutzbunker nach Beendigung des Fliegeralarms sei nicht versorgungsrechtlich geschützt. Den Widerspruch wies das Landesversorgungsamt durch Bescheid vom 10. Dezember 1956 zurück. Das Sozialgericht (SG.) Karlsruhe wies die Klage durch Urteil vom 10. Oktober 1957 ab, weil für den Sturz nicht der kurze Fliegeralarm ohne Bombenabwurf, sondern die leichtsinnige Handlungsweise der Mutter ursächlich gewesen sei. Hildegard B. legte Berufung beim Landessozialgericht (LSG.) Stuttgart ein. Am 14. Dezember 1959 starb Hildegard B. Ihre Mutter nahm das Verfahren nach § 68 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 239 Zivilprozeßordnung auf. Das LSG. hob durch Urteil vom 19. Mai 1960 das Urteil des SG. Karlsruhe vom 10. Oktober 1957 und die Bescheide des Beklagten vom 23. Mai 1956 und vom 10. Dezember 1956 auf und verurteilte den Beklagten, an die Klägerin Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 v.H. vom 1. Juli 1953 bis zum Tode der Tochter zu zahlen: Das LSG. führte aus, als Anspruchsgrundlage komme § 5 Abs. 1 Buchstabe b BVG in Betracht: eine behördliche Maßnahme im Sinne dieser Vorschrift sei auch der Fliegeralarm; der Heimweg nach der Entwarnung sei zwar nicht ausdrücklich versorgungsrechtlich geschützt; es sei aber § 4 BVG entsprechend anzuwenden, wonach der - ebenfalls nicht befohlene - Heimweg nach Beendigung des Wehrdienstes versorgungsrechtlich geschützt sei; die besonderen Umstände des Rückweges aus dem Luftschutzraum nach dem Fliegeralarm seien hier für den Sturz, der die Epilepsie zur Folge gehabt habe, ursächlich gewesen; zu dem Sturz sei es gekommen, weil die Mutter zu später Abendstunde und in müdem Zustand auf der einen Körperseite ihre Tochter und eine Aktenmappe, auf der anderen Körperseite eine große Einkaufstasche und einen kleinen Koffer getragen habe; dadurch sei sie beim Öffnen der Tür behindert gewesen; eine Fahrlässigkeit der Mutter wäre, selbst wenn sie vorgelegen hätte, nicht als wesentliche Bedingung des Sturzes anzusehen. Die Revision ließ das LSG. zu.
Das Urteil wurde dem Beklagten am 31. Mai 1960 zugestellt. Am 18. Juni 1960 legte er Revision ein und beantragte,
das Urteil des LSG. Baden-Württemberg vom 19. Mai 1960 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG. Karlsruhe vom 10. Oktober 1957 zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zu neuer Verhandlung an das LSG. zurückzuverweisen.
Am 26. August 1960 - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 31. August 1960 - begründete er die Revision: Das LSG. habe beachten müssen, daß die Anmeldefrist des § 56 BVG abgelaufen gewesen sei; auf die Einhaltung dieser Frist könne nicht verzichtet werden, sie sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG.) in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen; ob die Voraussetzungen des § 57 BVG für eine nachträgliche Anmeldung vorgelegen haben, könne auf Grund der Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht entschieden werden; § 57 BVG setze voraus, daß das Vorliegen eines versorgungsrechtlich geschützten Tatbestandes feststehe; das sei hier nicht der Fall, der Heimweg aus dem Luftschutzbunker sei nicht versorgungsrechtlich geschützt; eine entsprechende Anwendung des § 4 BVG komme nicht in Betracht.
Die Klägerin beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft. Der Beklagte hat sie auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet, sie ist daher zulässig. Die Revision ist auch begründet.
Nach § 1 Abs. 1 BVG erhält auf Antrag Versorgung, wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Nach § 1 Abs. 2 Buchstabe a BVG steht einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 die Schädigung gleich, die durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung herbeigeführt worden ist. Als unmittelbare Kriegseinwirkungen gelten nach § 5 Abs. 1 Buchstabe b BVG behördliche Maßnahmen in unmittelbarem Zusammenhang mit Kampfhandlungen oder ihrer Vorbereitung mit Ausnahme der allgemeinen Verdunklungsmaßnahmen. Als eine behördliche Maßnahme in diesem Sinne ist auch ein Fliegeralarm anzusehen, und zwar unabhängig davon, ob ein Luftangriff stattgefunden hat oder nicht (BSG. 2 S. 265).
Das LSG. hat festgestellt, die epileptischen Anfälle, die Hildegard B. gehabt habe, seien auf einen Sturz zurückzuführen, den sie im Alter von zwei Jahren erlitten habe; die Mutter der Hildegard B. sei damals nach Beendigung des Fliegeralarms mit dem Kind auf dem Arm zu später Abendstunde und in ermüdetem Zustand aus dem Luftschutzbunker zu ihrer Wohnung zurückgekehrt; dabei sei ihr das Kind beim Öffnen der Haustür entglitten und mit der Stirn auf einen Mauervorsprung aufgeschlagen; der Sturz sei darauf zurückzuführen, daß die Mutter auf der einen Körperseite das Kind und eine Aktenmappe und auf der anderen Körperseite eine große Einkaufstasche und einen kleinen Koffer (das sogenannte Luftschutzgepäck) getragen habe, dadurch sei sie beim Öffnen der Tür behindert gewesen. Diese Feststellungen sind von der Revision nicht angegriffen, sie sind daher für das BSG. bindend (§ 163 SGG).
Das LSG. hat diesen Sachverhalt im Ergebnis zutreffend rechtlich unter § 1 Abs. 2 Buchstabe a in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchstabe b BVG eingeordnet. Der Sturz ist die Folge einer behördlichen Maßnahme gewesen, bei der ein unmittelbarer Zusammenhang mit Kampfhandlungen oder ihrer Vorbereitung bestanden hat; die Maßnahme ist nicht lediglich eine allgemeine Verdunklungsmaßnahme gewesen. Durch den Fliegeralarm, den die Behörde ausgelöst hat, ist die Bevölkerung verpflichtet gewesen, sich luftschutzmäßig zu verhalten, insbesondere einen geeigneten Schutzraum aufzusuchen. Versorgungsrechtlich geschützt nach § 1 Abs. 2 Buchstabe a in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchstabe b BVG ist grundsätzlich das gesamte Verhalten, das im Falle der Auslösung des Fliegeralarms von der Bevölkerung erzwungen worden ist. Dazu gehört nicht nur der Weg zum Luftschutzraum und der Aufenthalt in diesem Raum, sondern auch der Rückweg in die eigene Wohnung. Dies folgt daraus, daß das Verhalten, zu dem der Fliegeralarm Anlaß gegeben hat, nur als einheitliches Ganzes betrachtet werden kann; der Heimweg ist damit notwendigerweise verbunden; ob eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt, wenn z.B. auf dem Heimweg ein Umweg gemacht worden ist, kann hier dahingestellt bleiben; zur Erörterung dieser Frage bietet der festgestellte Sachverhalt keinen Anlaß. Die Ausführungen des LSG. darüber, daß nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 der 10. Durchführungsverordnung zum Luftschutzgesetz in der Fassung vom 1. September 1939 (RGBl. I S. 1570) lediglich eine Verpflichtung zum Verlassen des Luftschutzraumes, nicht aber eine Verpflichtung zum Antritt des Heimweges bestanden habe, gehen fehl. Einer besonderen Vorschrift, wonach die Bevölkerung nach Beendigung des Alarmzustandes wieder die Wohnungen aufzusuchen habe, hat es nicht bedurft, denn dies ist selbstverständlich gewesen. Die Regelung in § 4 BVG spricht weder für noch gegen die Ansicht, daß auch der Rückweg aus dem Luftschutzraum versorgungsrechtlich geschützt sei. Nach § 4 BVG gelten als militärischer oder militärähnlicher Dienst auch der Weg des Einberufenen zum Gestellungsort und der Heimweg nach Beendigung des Dienstes oder der Kriegsgefangenschaft. Der Rückweg nach der Entlassung aus dem Wehrdienst hat in § 4 BVG deshalb besonders versorgungsrechtlich geschützt werden müssen, weil der Heimweg nach formeller Beendigung des Wehrdienstverhältnisses begrifflich nicht mehr als "Dienstverrichtung" angesehen werden kann, während andererseits ein Bedürfnis dafür besteht, auch für die Folgen von Unfällen, die auf dem Heimweg nach der Entlassung aus dem Wehrdienst eingetreten sind, Versorgung zu gewähren. Für die Tatbestände der unmittelbaren Kriegseinwirkung hat es einer solchen besonderen Vorschrift nicht bedurft. Das Verhalten auf Grund einer behördlichen Maßnahme im Sinne von § 1 Abs. 2 Buchstabe a in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchstabe b BVG ist, wie erwähnt, als einheitliches Ganzes aufzufassen; es umfaßt grundsätzlich auch den Rückweg (ebenso Wilke Kommentar zum BVG, § 5 Anm. B II 3; Grömig, Kommentar zum BVG, § 5 Anm. 9).
Mit Recht ist das LSG. auch zu dem Ergebnis gekommen, die "behördliche Maßnahme", nämlich der Fliegeralarm, sei die wesentliche Bedingung und damit die Ursache für den Sturz gewesen; die Umstände, die nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG. den Sturz herbeigeführt haben (Weg zu später Abendstunde, ermüdeter Zustand der Mutter, Behinderung durch das "Luftschutzgepäck" u.a.), sind auf die behördliche Maßnahme "Fliegeralarm" zurückzuführen. Zutreffend hat das LSG. auch ausgeführt, es komme nicht darauf an, daß die Mutter möglicherweise fahrlässig gehandelt habe, denn eine etwaige Fahrlässigkeit sei jedenfalls nicht die wesentliche Bedingung und damit die Ursache im Sinne des Versorgungsrechts für den Sturz gewesen.
Das LSG. hat danach zu Recht angenommen, es sei hier ein versorgungsrechtlich geschützter Tatbestand im Sinne einer unmittelbaren Kriegseinwirkung (§ 5 Abs. 1 Buchstabe b BVG) gegeben.
Der Senat kann dennoch nicht abschließend entscheiden, ob ein Versorgungsanspruch gegeben ist. Nach § 56 Abs. 1 BVG in der Fassung vor Inkrafttreten des 1. Neuordnungsgesetzes vom 27. Juni 1960 (BGBl. I S. 453) aF - diese Vorschrift ist hier noch anzuwenden, weil nur ein Versorgungsanspruch für die Zeit vor dem 1. Juni 1960 streitig ist - haben Versorgungsansprüche innerhalb von zwei Jahren angemeldet werden müssen; die Frist ist gemäß § 56 Abs. 2 BVG aF im vorliegenden Falle am 30. September 1952 abgelaufen. Der Versorgungsanspruch der Klägerin ist indes erst am 30. Juli 1953, also nach Ablauf der Frist, angemeldet worden. Die Frist des § 56 BVG aF ist eine materiell-rechtliche Ausschlußfrist, nicht lediglich eine Verjährungsfrist. Auf ihre Innehaltung hat nicht verzichtet werden können, sie ist vielmehr - wie alle Tatbestandsmerkmale des Versorgungsanspruchs - in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen gewesen (Urteil des BSG. vom 25.5.1960 - 11 RV 548/58 -). Es ist deshalb ohne Bedeutung, ob der Beklagte sich in einer Tatsacheninstanz oder erst in der Revisionsinstanz oder aber überhaupt nicht auf den Ablauf der Anmeldefrist berufen oder ob er gar auf die Anwendung der Fristvorschrift "verzichtet" hat. Dies hat das LSG. verkannt. Ob von der Anwendung des § 56 BVG abgesehen werden muß, wenn alle übrigen Tatbestandsmerkmale des Versorgungsanspruchs zweifelsfrei erfüllt sind (vgl. BSG. aaO mit Nachweisen), braucht hier nicht entschieden zu werden.
Da die Frist des § 56 BVG aF abgelaufen gewesen ist, hat geprüft werden müssen, ob die Voraussetzungen des § 57 BVG aF vorgelegen haben. Nach § 57 Abs. 1 BVG aF hat der Anspruch nach Ablauf der Frist z.B. noch angemeldet werden können, wenn Folgen einer Schädigung erst später in einem rentenberechtigenden Grade bemerkbar geworden sind (Ziff. 1) oder wenn Folgen einer Schädigung zwar schon innerhalb der Frist in einem rentenberechtigenden Grade bemerkbar geworden sind, aber erst nach Ablauf der Frist, wenn auch in allmählicher, gleichmäßiger Entwicklung des Leidens, sich wesentlich verschlimmert haben (Ziff. 2); in diesen Fällen ist der Anspruch binnen sechs Monaten anzumelden gewesen, nachdem die Folgen der Schädigung oder die Verschlimmerung bemerkbar geworden sind (§ 57 Abs. 2 BVG aF). Bei der Art und bei der aus den Akten ersichtlichen Entwicklung des Leidens liegt es nahe anzunehmen, daß jedenfalls die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Ziff. 2 BVG gegeben sind. Die Feststellungen des LSG. reichen jedoch nicht aus, um entscheiden zu können, ob der Anspruch nach § 57 BVG aF noch hat angemeldet werden können.
Das Urteil ist daher aufzuheben; die Sache ist zu neuer Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG. vorbehalten.
Fundstellen