Leitsatz (amtlich)
Ein Nachversicherungsfall kann - beim Vorliegen der übrigen Voraussetzungen - auch ohne tatsächliches Ausscheiden aus einer Beschäftigung, also bei ununterbrochener Fortdauer des Arbeitsverhältnisses gegeben sein, wenn durch eine Änderung der Rechtslage die bisherige Versicherungsfreiheit wegfällt. Ein solcher Nachversicherungsfall tritt frühstens mit dem Inkrafttreten des neuen Rechts ein. Dieser Tag ist der für die Berechnung der nachzuentrichtenden Beiträge maßgebende Zeitpunkt.
Normenkette
RVO § 1232 Fassung: 1957-02-23, § 1402 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 1. Dezember 1959 und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 5. November 1958 werden aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Von Rechts wegen.
Die Beteiligten streiten darüber, ob Angestellte der Klägerin, die zunächst auf Grund eines Gewährleistungsbeschlusses der Klägerin aus dem Jahre 1915 versicherungsfrei waren, dann aber - nach Aufhebung des Gewährleistungsbeschlusses im Jahre 1957 - wieder versicherungspflichtig wurden, nach dem erhöhten Beitragssatz (14 % der maßgebenden Bezüge; vergl. § 112 AVG nF) oder dem früheren (11 %; vergl. § 8 des Renten-Mehrbetrags-Gesetzes vom 23.11.1954- - RMG -) nachzuversichern sind.
Das Landessozialgericht (LSG) hat dazu folgendes festgestellt:
Die Angestellte Sch. ist seit 1939 bei der Klägerin im Bürodienst beschäftigt. Sie war zunächst versicherungsfrei, weil ihr Anwartschaft auf Versorgungsleistungen in einem Umfang gewährleistet war, der den Anforderungen des früheren Rechts über die Versicherungsfreiheit entsprach (§ 11 AVG aF; Beschluß der Klägerin vom 22.12.1915). Nachdem die Vorschriften des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 23. Februar 1957 (AnVNG) über die Versicherungspflicht, Versicherungsfreiheit und Nachversicherung am 1. März 1957 in Kraft getreten waren (Art. 3 § 7 AnVNG), hob die Klägerin am 5. August 1957 den auch die Angestellte Sch. betreffenden Gewährleistungsbeschluß mit Wirkung vom 1. März 1957 an auf. Gleichzeitig traf sie die Feststellung, daß einem bestimmten Kreis ihrer Angestellten, zu dem auch die Angestellte Sch. gehört, nicht die Anwartschaft auf Versorgungsleistungen gewährleistet sei, die das neue Recht als Voraussetzung für die Versicherungsfreiheit verlangt (§ 6 Abs. 1 AVG nF).
Die Beklagte ist der Auffassung, die Angestellte Sch. sei am 1. März 1957 aus der versicherungsfreien Beschäftigung ausgeschieden und deshalb nach den §§ 124 Abs. 1, 112 Abs. 1 AVG nF mit einem Beitragssatz von 14 % nachzuversichern.
Durch Bescheid vom 8. Januar 1958 verlangte sie von der Klägerin Nachversicherungsbeiträge in einer mit diesem Beitragssatz errechneten Höhe. Die Klägerin erstrebt die Aufhebung dieses Bescheides und die Feststellung, daß die Nachversicherung mit 11 % des Entgelts durchzuführen sei. Sie meint, das Ausscheiden der Angestellten Sch. aus der Versicherungsfreiheit falle auf den 28. Februar 1957, so daß für den Beitragssatz § 8 Abs. 1 RMG maßgebend sei. Die Klage vor dem Sozialgericht hatte Erfolg (Urteil vom 8. November 1958). Das LSG bestätigte dieses Urteil und führte aus: Entscheidend für die Höhe des Beitragssatzes sei nach § 124 Abs. 1 AVG nF der Zeitpunkt des Ausscheidens aus der versicherungsfreien Beschäftigung. Die Angestellte Sch. sei - unter Fortdauer des Dienstverhältnisses - aus der Versicherungsfreiheit mit der Beendigung der Voraussetzungen ausgeschieden, die für die Versicherungsfreiheit maßgebend gewesen seien. Aus der Entscheidung der Klägerin vom 5. August 1957 ergebe sich, daß der Gewährleistungsbescheid in dem Augenblick weggefallen sei, als das alte Recht außer Kraft trat. Zwischen der Beendigung der Versicherungsfreiheit und dem Beginn der Versicherungspflicht müsse ein rechtserheblicher Trennungsschnitt gemacht werden. Versicherungsfreiheit und Versicherungspflicht dürften sich nicht überschneiden. Das Ausscheiden aus der Versicherungsfreiheit sei begrifflich nur solange möglich, wie Versicherungsfreiheit bestehe. Die Angestellte Sch. müsse folglich vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts, durch das ihre Versicherungspflicht begründet worden sei, ausgeschieden sein. Die Rechtslage könne nicht anders beurteilt werden, als wenn ein Angestellter am 28. Februar 1957 tatsächlich aus seinem Beschäftigungsverhältnis ausgeschieden wäre. In einem solchen Fall könne nur der 28. Februar 1957 als Zeit des Ausscheidens in Betracht kommen. Die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 1. Dezember 1959).
Die Beklagte legte gegen das ihr am 28. Dezember 1959 zugestellte Urteil am 12. Januar 1960 Revision ein und beantragte, unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Klage abzuweisen. Sie begründete ihre Revision am 11. Februar 1960 und rügte die Verletzung der §§ 124 Abs. 1, 112 Abs. 1 AVG nF: Der vorliegende Fall müsse anders behandelt werden als die Regelfälle der Nachversicherung, in denen das Ausscheiden durch einen tatsächlichen Vorgang - Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses - geschehe. Weil bis zum Ende des 28. Februar 1957 das frühere Recht gegolten habe, sei an dem versicherungsfreien Beschäftigungsverhältnis der Sch. bis dahin nichts geändert worden. Erst unter der Geltung des am 1. März 1957 in Kraft getretenen strengeren Rechts habe beurteilt werden können, ob die Versorgungsleistungen dem neuen Recht angepaßt werden oder ob der bisherige Gewährleistungsbescheid seine Wirkung verlieren sollte.
Die Klägerin beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Die - Revision ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat für die Nachversicherung ihrer Angestellten Sch. einen Beitrag von 14 % der Bezüge abzuführen.
Sowohl die Vorschriften des früheren als auch des derzeitigen Rechts der Rentenversicherung sehen vor, daß Personen, die wegen der Gewährleistung von Versorgungsleistungen bestimmten Umfangs versicherungsfrei waren und aus dieser versicherungsfreien Beschäftigung ohne Versorgung ausscheiden, für die Zeit, in der sie sonst versicherungspflichtig gewesen wären, nachzuversichern sind (§ 18 AVG aF i. V. m. § 1242 a RVO aF; § 9 AVG nF). Diese Vorschriften gehen davon aus, daß diese Personen aus der versicherungsfreien Beschäftigung tatsächlich ausscheiden; der Nachversicherungsfall tritt dann mit dem Ausscheiden aus dieser Beschäftigung ein (BSG 1, 219). In den Rentengesetzen ist jedoch nicht geregelt, was gelten soll, wenn das Beschäftigungsverhältnis ununterbrochen weiterbesteht und sich nur - wie etwa 1957 durch das AnVNG - die Rechtslage ändert, und zwar insofern, als die Voraussetzungen für die Versicherungsfreiheit erschwert werden. Vom 1. März 1957 an konnten Personen, die - wie die Angestellte Sch. - bisher versicherungsfrei waren, ohne jede Änderung in ihrem Beschäftigungsverhältnis und den damit verbundenen Versorgungsansprüchen wieder versicherungspflichtig werden (§§ 2, 6 AVG nF, Art. 3 § 7 AnVNG). Das versicherungsfreie Beschäftigungsverhältnis wandelte sich in ein versicherungspflichtiges um. Die Interessenlage der von dieser Gesetzesänderung berührten Personen gleicht derjenigen, für die in der Regel eine Nachversicherung gewollt ist. Es erscheint daher berechtigt, Angestellte wie die Angestellte Sch. im Hinblick auf ihre Alterssicherung und Hinterbliebenenversorgung ebenso zu behandeln wie Personen, bei denen der Regelfall der Nachversicherung vorliegt. Der Wortlaut und der Zweck der Vorschriften über die Nachversicherung lassen eine erweiternde Auslegung in diesem Sinne zu. Sie zwingen nicht dazu, die Nachversicherung auf die Fälle des tatsächlichen Ausscheidens aus einer versicherungsfreien Beschäftigung zu beschränken. Auch bei einer Fortdauer des bisherigen Beschäftigungsverhältnisses kann vielmehr ein Nachversicherungsfall eintreten (ebenso: Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, S. 45). Dafür ist auch kein völliger Verlust der Versorgungsanwartschaften erforderlich. Ein Nachversicherungsfall kann sich schon ergeben, wenn zwar Versorgungsanwartschaften bestehen, aber nicht in einem Umfange, wie er für die Versicherungsfreiheit vorausgesetzt wird. Der Umstand, daß sich das versicherungsfreie Beschäftigungsverhältnis der Angestellten Sch. in ein versicherungspflichtiges umwandelte und sie keine Versorgungsleistungen, die dem § 6 Abs. 1 AVG nF entsprechen, erwarten kann, stellt deshalb einen Nachversicherungsfall dar. Auf ihn ist § 9 AVG nF entsprechend anzuwenden (Art. 2 § 4 AnVNG). Davon gehen beide Beteiligten auch aus.
Für den Regelfall einer Nachversicherung hat der Arbeitgeber die Beiträge nach den Vorschriften zu entrichten, die z. Zt. des Ausscheidens aus der versicherungsfreien Beschäftigung für die Berechnung von Beiträgen maßgebend sind (§ 124 Abs. 1 AVG nF; vgl. auch BSG aaO). In Fällen wie dem vorliegenden gibt es jedoch, weil das Arbeitsverhältnis unverändert fortbesteht, kein Ausscheiden aus einer Beschäftigung. Wie § 9 kann daher auch § 124 Abs. 1 AVG nF nur entsprechend angewendet werden. Dabei muß sinngemäß an die Stelle des Ausscheidens aus der versicherungsfreien Beschäftigung die versicherungsrechtliche Umwandlung des Beschäftigungsverhältnisses treten. Dadurch wird der Nachversicherungsfall herbeigeführt. Die Umwandlung des Beschäftigungsverhältnisses erfolgt jedoch durch das neue Recht und darum frühestens mit seinem Inkrafttreten. Deshalb ist für den vorliegenden Rechtsstreit der Beginn des 1. März und nicht das Ende des 28. Februar 1957 der maßgebliche Zeitpunkt für den Eintritt des Nachversicherungsfalls. Das hat zur Folge, daß die Nachversicherung der Angestellten Sch. mit Beiträgen in Höhe von 14 % der Bezüge (§ 112 Abs. 1 AVG nF) durchzuführen ist.
Das LSG hat zu Unrecht den Fall der Angestellten Sch. dem Regelfall des Ausscheidens aus einer versicherungsfreien Beschäftigung gleichgesetzt; es hat nicht beachtet, daß beide tatsächlich anders liegen. Die Beendigung einer Beschäftigung geschieht spätestens mit dem Ablauf des letzten Tages, an dem das Beschäftigungsverhältnis noch bestand. Dieser Tag ist dann der Tag des Ausscheidens aus der versicherungsfreien Beschäftigung und damit der maßgebliche Zeitpunkt im Sinne des § 124 Abs. 1 AVG nF. An dem Beschäftigungsverhältnis der Angestellten Sch. und auch an ihrer Versicherungsfreiheit hat sich jedoch bis zum 28. Februar 1957, 24.00 Uhr, nichts geändert; der bisherige Zustand bestand tatsächlich und rechtlich gleichbleibend fort. Erst das vom 1. März 1957, 0 Uhr, an geltende Recht vermochte Änderungen zu bewirken und u. a. den Nachversicherungsfall herbeizuführen. Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob das neue Recht diese Wirkung unmittelbar entfaltete oder ob es hierzu der Aufhebung des Gewährleistungsbeschlusses vom 22. Dezember 1915 bedurfte, denn auch die Aufhebung dieses Gewährleistungsbeschlusses erfolgte auf der Grundlage des neuen Rechts durch Beschluß der Klägerin vom 5. August 1957 mit Wirkung vom 1. März 1957 an. In der Regel tritt zwar, wie das LSG mit Recht annimmt, die Nachversicherungspflicht mit dem Ende des versicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisses oder mit dem Erlöschen der Gewährleistung ausreichender Versorgungsansprüche ein; das LSG übersieht aber, daß im vorliegenden Fall die gewährleisteten Versorgungsansprüche erst durch und mit dem Inkrafttreten des neuen Rechts nicht mehr ausreichten und daß darum auch dann erst die Nachversicherungspflicht eintrat.
Die Urteile der Vorinstanzen waren daher aufzuheben und die Klage abzuweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 4 SGG.
Fundstellen