Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufungszulassung. Gesetzwidrigkeit
Orientierungssatz
1. Das LSG darf die Zulassung der Berufung nur dann als "offensichtlich gesetzwidrig" und damit als nicht bindend ansehen, wenn das SG die Berufung aus anderen als den in § 150 Nr 1 SGG enthaltenen Gründen zugelassen hat und dies eindeutig erkennbar ist.
2. Der Umstand, daß das SG die Zulassungsentscheidung nicht begründet - es ist hierzu auch nicht verpflichtet - rechtfertigt jedenfalls nicht scho schon die Schlußfolgerung, das SG habe die Berufung zugelassen, obwohl es keinen gesetzlichen Grund hierfür als vorliegend erachtet habe.
Normenkette
SGG § 150 Nr. 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 05.07.1962) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 29.09.1959) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Juli 1962 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Kläger bezieht auf Grund des Bescheides des Versorgungsamts (VersorgA) Dortmund vom 8. September 1951 - Umanerkennung - wegen verschiedener Schädigungsfolgen - Ohrenleiden, Rachen- und Kehlkopfkatarrh, Verschlimmerung eines Magenleidens - Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 v. H.. Einen Antrag des Klägers, die Rente, insbesondere unter Berücksichtigung seines Berufs (§ 30 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -), zu erhöhen, lehnte das VersorgA - nach Heranziehung weiterer Unterlagen - mit Bescheid vom 7. November 1957 ab. Den Widerspruch wies das Landesversorgungsamt mit Bescheid vom 31. Januar 1958 zurück. Das Sozialgericht (SG) Dortmund wies die Klage mit Urteil vom 29. September 1959 ab. Es führte u. a. aus, der Kläger habe keine Berufsausbildung gehabt, er habe vor der Schädigung wiederholt seinen Beruf gewechselt, er sei u. a. sechs Jahre in der Landwirtschaft und vier Jahre als Steinstößer tätig gewesen; beide beruflichen Tätigkeiten seien als "vor der Schädigung ausgeübter Beruf" anzusehen; der Kläger sei von 1948 bis 1952 Maurer gewesen, er sei daher auch in der Lage gewesen, als Landwirt oder Steinstößer zu arbeiten, sein späterer Berufswechsel zum Waschkauenwärter im Jahre 1952 sei auf körperliche Beschwerden - Schwächeerscheinungen, Kraftlosigkeit, Rückenbeschwerden - zurückzuführen, die nicht mit den Versorgungsleiden zusammenhingen; diese Berufsänderung sei nicht schädigungsbedingt; die Voraussetzungen des § 30 BVG für eine Höherbewertung der MdE, weil der Kläger durch die Schädigungsfolgen in seinem Beruf besonders betroffen sei, lägen daher nicht vor. Die Entscheidungsgründe schließen mit dem Satz: "Die Kammer hat die Berufung gegen dieses Urteil gemäß § 150 Ziff. 1 SGG zugelassen." Der Kläger legte Berufung ein; er machte geltend, das SG habe zu Unrecht verneint, daß er durch seine Schädigungsfolgen in die - gegenüber einem Steinstößer oder Maurer - beruflich und wirtschaftlich schlechtere Stellung eines Waschkauenwärters herabgesunken sei; die Entscheidung des SG beruhe insoweit auch auf Verfahrensmängeln, weil das SG nicht genügend geklärt habe, ob der Kläger seinen Beruf als Maurer wegen seiner Versorgungsleiden habe aufgeben müssen; der Kläger begehrte eine Rente nach einer MdE von 60 v. H..
Das Landessozialgericht (LSG) verwarf die Berufung mit Urteil vom 5. Juli 1962 als unzulässig. Es führte aus, die nach § 148 Ziff. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossene Berufung sei nicht nach anderen Vorschriften statthaft; das SG habe zwar die Berufung zugelassen (§ 150 Ziff. 1 SGG), es habe dies aber nur getan, um die Prüfung von Fragen zu ermöglichen, die der Gesetzgeber der Nachprüfung durch das Berufungsgericht wegen ihrer geringen Bedeutung entzogen habe. Die Zulassung der Berufung sei "offensichtlich gesetzwidrig" und deshalb unwirksam und für das LSG nicht bindend; ein wesentlicher Verfahrensmangel des SG (§ 150 Ziff. 2 SGG) liege nicht vor. Das LSG ließ die Revision zu.
Das Urteil des LSG wurde dem Kläger am 6. August 1962 zugestellt.
Der Kläger legte am 13. August 1962 Revision ein; er beantragte,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 5. Juli 1962 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Er begründete die Revision am 29. August 1962; er machte geltend, das LSG habe § 150 Ziff. 1 SGG verletzt, es habe zu Unrecht angenommen, die Zulassung der Berufung durch das SG sei "offensichtlich gesetzwidrig" und deshalb für das LSG nicht bindend. Das LSG habe auch gegen § 150 Ziff. 2 SGG verstoßen, weil es zu Unrecht angenommen habe, die Verfahrensrüge des Klägers, das SG habe den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt (§ 103 SGG), greife nicht durch.
Der Beklagte stellte keinen Gegenantrag. Er führte ebenfalls aus, das SG habe die Zulassung der Berufung nicht als "offensichtlich gesetzwidrig" ansehen dürfen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 in Verbindung mit §§ 153 und 165 SGG) einverstanden.
II.
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft; der Kläger hat sie frist- und formgerecht eingelegt, die Revision ist daher zulässig. Sie ist auch begründet.
Das LSG hat die nach § 150 Ziff. 1 SGG zugelassene Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, weil die Zulassung der Berufung "offensichtlich gesetzwidrig" und deshalb "unwirksam und für das LSG nicht bindend" sei.
Das LSG hat die Sachentscheidung über die Berufung nicht schon dann ablehnen dürfen, wenn es die Auffassung des SG, die Berufung müsse nach § 150 Ziff. 1 SGG zugelassen werden, nicht geteilt hat; es hat die Zulassung der Berufung vielmehr nur dann als "offensichtlich gesetzwidrig" und damit als nicht bindend ansehen dürfen, wenn das SG die Berufung aus anderen als den in § 150 Ziff. 1 SGG enthaltenen Gründen zugelassen hat und dies eindeutig erkennbar gewesen ist (vgl. auch Ule, Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1960, Anm. 3 zu § 132 BVerwGG mit weiteren Hinweisen; BSG 6, 70; 10, 269). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.
Das LSG hat zum vorliegenden Fall lediglich ausgeführt, es sei weder aus den Gründen des Urteils des SG noch aus dem gesamten Verfahren zu entnehmen, weshalb die Berufung zugelassen worden sei. Die Vorinstanz habe sich darauf beschränkt, am Schluß der Entscheidungsgründe auszuführen, daß sie die Berufung gemäß § 150 Ziff. 1 SGG zugelassen habe. Sie habe damit offensichtlich die Berufung nur deshalb zugelassen, um die Prüfung von Fragen zu ermöglichen, die der Gesetzgeber der Nachprüfung durch das Berufungsgericht wegen ihrer geringen Bedeutung entzogen habe. Das LSG hat damit zwar zum Ausdruck gebracht, daß seiner Ansicht nach das SG die Berufung aus einem anderen als den in § 150 Ziff. 1 SGG enthaltenen Gründen zugelassen habe, es hat dies aber allenfalls nur vermuten, keineswegs aber eindeutig feststellen können. Wenn das LSG nicht hat erkennen können, weshalb das SG die Berufung zugelassen hat, so hat es auch nicht feststellen können, daß das SG die Berufung aus einem anderen Grunde als dem der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache, über die es entschieden hat, zugelassen hat. Weder die Gründe des Urteils des SG noch "das gesamte Verfahren" schließen jedenfalls aus, daß das SG die Berufung zugelassen hat, weil es der Auffassung gewesen ist, seine Entscheidung darüber, ob die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen einer Rentenerhöhung nach § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG aF (in der Fassung vor dem Neuordnungsgesetz) erfüllt seien, sei eine "Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung" im Sinne des § 150 Ziff. 1 SGG; es ist für die Bindung des LSG an die Zulassung nicht darauf angekommen, ob diese auf einem "richterlichen Werturteil" beruhende Auffassung des SG richtig gewesen ist oder nicht (vgl. auch Urteil des BSG vom 23.11.1962 - 8 RV 1065/60 -). Der Umstand, daß das SG die Zulassungsentscheidung nicht begründet hat - es ist hierzu auch nicht verpflichtet gewesen - hat jedenfalls nicht schon die Schlußfolgerung gerechtfertigt, das SG habe die Berufung zugelassen, obwohl es keinen gesetzlichen Grund hierfür als vorliegend erachtet habe.
Das LSG ist danach zu Unrecht zu dem Ergebnis gekommen, die Zulassung der Berufung sei offensichtlich gesetzwidrig und damit unwirksam; es hat deshalb zu Unrecht die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Hat aber das LSG die Berufung als unzulässig verworfen, obwohl es eine Sachentscheidung hat treffen müssen, so leidet das Verfahren an einem wesentlichen Mangel (BSG 1, 283 ff); dieser Mangel ist bei einer zugelassenen Revision von Amts wegen zu berücksichtigen (BSG 2, 245), er ist überdies von dem Kläger auch in der nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG gebotenen Form gerügt worden.
Die Revision ist danach begründet; das Urteil des LSG ist aufzuheben; die Sache ist nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zu neuer Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen