Leitsatz (amtlich)

Nimmt ein Antragsteller im Vorverfahren auf Grund einer Erklärung der Behörde, sie sei auf Grund neuer Ermittlungsergebnisse bereit, ihm die begehrte Leistung zu gewähren, seinen Einspruch zurück, so haben die Beteiligten keinen außergerichtlichen Vergleich geschlossen, vielmehr hat die Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt durch einen anderen Verwaltungsakt ersetzt; damit ist das Vorverfahren erledigt.

 

Leitsatz (redaktionell)

Ein Vergleich ist ein gegenseitiger Vertrag, durch den der Streit oder die (auch nur subjektive) Ungewißheit der Parteien über ein Rechtsverhältnis oder über einen Anspruch oder dessen Verwirklichung im Wege gegenseitigen Nachgebens beseitigt wird.

 

Normenkette

BGB § 779 Fassung: 1896-08-18; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03, § 86 Fassung: 1954-08-10

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Juli 1956 wird aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der Kläger erhielt nach dem Bescheid des Versorgungsamts (VersorgA.) D vom 21. November 1944 auf Grund der damaligen versorgungsrechtlichen Vorschriften wegen a) "Versteifung und mäßige Verkrümmung der unteren Brust- und Lendenwirbelsäule nach hinten (Bechterewsche Erkrankung) im Sinne der Verschlimmerung" und b) "zu Rückfällen neigende Darmstörungen im Sinne der Entstehung" als Schädigungsfolgen ein Versehrtengeld nach Stufe II.

Mit Bescheid vom 2. April 1948 bewilligte die Ruhrknappschaft in B dem Kläger auf Grund der Sozialversicherungsdirektive Nr. 27 (SVD Nr. 27) ab 1. August 1947 eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 50 v. H.; "auf Kriegseinwirkungen zurückzuführen" seien: "Versteifung und mäßige Verkrümmung der unteren Brust- und Lendenwirbelsäule nach hinten (Bechterewsche Erkrankung), zu Rückfällen neigende Darmstörungen". Am 16. Dezember 1948 erteilte die Ruhrknappschaft dem Kläger einen weiteren Bescheid nach der SVD Nr. 27; darin wurden als Folge von Kriegseinwirkungen "Bechterewsche Erkrankung schweren Grades und Zustand nach wiederholter Analprolaps-Operation" anerkannt; die MdE. wurde vom 1. Oktober 1947 an mit 70 v. H. bewertet. Mit Bescheid vom 9. Dezember 1949 setzte die Ruhrknappschaft die MdE. vom 1. September 1949 an auf 80 v. H. fest; die Schädigungsfolgen bezeichnete sie wie bisher. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 2. Januar 1950 Einspruch: seine MdE. betrage mindestens 90 v. H. Die Ruhrknappschaft holte im Einspruchsverfahren ein Gutachten des Prof. Dr. B. vom Knappschaftskrankenhaus H ein. Dieser Sachverständige führte in seinem Gutachten vom 5. April 1950 aus, infolge Zunahme der Krankheitserscheinungen an der Wirbelsäule liege bei dem Kläger nunmehr eine MdE. von 100 v. H. vor; es treffe zu, daß der Kläger sich nicht mehr allein ausziehen könne.

Mit Schreiben vom 1. Juni 1950 teilte die Ruhrknappschaft dem Kläger den wesentlichen Inhalt des Gutachtens von Prof. Dr. B. mit; sie fügte hinzu, daß sie sich dieser Beurteilung anschließe; sie sei außerdem bereit, dem Kläger ab 23. Februar 1950 ein Pflegegeld nach Stufe I zu gewähren; er sei auch befugt, die II. Wagenklasse zu benutzen und eine Begleitperson mitzunehmen; abschließend hieß es: "Bei dieser Sachlage bitten wir innerhalb von vierzehn Tagen um Mitteilung nach hier, ob Sie Ihren Einspruch zurückziehen". Mit Schreiben vom 26. Juni 1950 erklärte der Kläger, daß er den Einspruch zurücknehme, dabei setze er voraus, daß die Ruhrknappschaft entsprechend ihrem Schreiben vom 1. Juni 1950 ab 23. Februar 1950 eine Rente nach einer MdE. von 100 v. H. und Pflegegeld gewähre.

Am 29. August 1950 teilte die Ruhrknappschaft dem Kläger mit, bei einer Überprüfung seiner Versorgungsangelegenheit sei festgestellt worden, daß die Bechterewsche Erkrankung ursprünglich (durch Bescheid des Versorgungsamts D vom 21.11.1944) nur im Sinne der Verschlimmerung als Schädigungsfolge anerkannt worden sei; dies sei bisher übersehen worden; in den bisherigen Versorgungsbescheiden der Ruhrknappschaft sei daher die gesamte MdE. als Schädigungsfolge festgestellt und berentet worden; der Sachverständige Prof. B. habe in einem weiteren Gutachten vom 27. Juli 1950 ausgeführt, daß für die Erwerbsunfähigkeit des Klägers nicht ausschließlich der Wehrdienst verantwortlich sei; durch die Verschlimmerung erhöhe sich die MdE. auch jetzt noch von 50 v. H. auf 70 v. H., dagegen gingen weitere Verschlimmerungsschübe nicht mehr zu Lasten des Wehrdienstes; die Rente, die zuletzt nach einer MdE. von 80 v. H. berechnet worden sei, werde daher entzogen; die Rente werde entsprechend einer MdE. von 70 v. H. neu festgestellt; hierüber werde dem Kläger noch ein rechtsmittelfähiger Bescheid erteilt. Der angekündigte Bescheid erging am 18. September 1950; es hieß dort zunächst vorgedruckt: "Eine Rente für Kriegsbeschädigte nach den Grundsätzen der Unfallversicherung - SVD Nr. 27 in Verbindung mit den hierzu erlassenen Sozialversicherungsanordnungen (SVA) 11 und 33 - wird umgerechnet und neu festgestellt, wenn eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen, die für die Feststellung der Rente maßgebend waren, eingetreten ist". In dem Bescheid wurden die Versorgungsbezüge nunmehr ab 1. November 1950 neu festgestellt; dem Kläger wurde eine Rente nach einer MdE. von 70 v. H. gewährt; als Schädigungsfolgen wurden jetzt anerkannt: "1. Zustand nach wiederholter Analprolaps-Operation im Sinne der Entstehung, 2. Bechterewsche Erkrankung im Sinne der Verschlimmerung"; hinzugefügt wurde noch: "Bei der Beurteilung der bisherigen Erwerbseinbuße handelt es sich um eine Fehlbeurteilung. Nach dem Gutachten des Knappschafts-Krankenhauses H vom 27. Juli 1950 können Verschlimmerungsschübe, die über eine MdE. von 70 v. H. hinausgehen, nicht mehr dem Kriegsdienst zur Last gelegt werden; sie sind als schicksalsbedingt aufzufassen".

Der Beschwerdeausschuß bei der Ruhrknappschaft änderte am 11. Juni 1951 den Bescheid vom 18. September 1950 insofern, als er dem Kläger (neben der Rente nach einer MdE. von 70 v. H.) noch ein Pflegegeld nach Pflegegeldstufe I zusprach.

Der Kläger rief das Oberversicherungsamt (OVA.) D an; er begehrte, daß die Bechterewsche Erkrankung im Sinne der Entstehung anerkannt und ihm eine Rente nach einer MdE. von 100 v. H. gewährt werde.

Am 25. Februar 1952 stellte das VersorgA. Gelsenkirchen die Versorgungsbezüge des Klägers nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) - Umanerkennung - neu fest; es wurden dieselben Schädigungsfolgen anerkannt und dieselben Leistungen gewährt wie nach dem Bescheid vom 18. September 1950 mit der Änderung des Beschwerdeausschusses vom 11. Juni 1951.

Die Berufung an das OVA. D ging am 1. Januar 1954 als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Dortmund über. Das SG. entschied mit Urteil vom 6. Juli 1954: "Unter Aufhebung der Entscheidung des Beschwerdeausschusses bei der Ruhrknappschaft in B vom 11. Juni 1951 und in Abänderung des Bescheides der Ruhrknappschaft vom 18. September 1950 und des Umanerkennungsbescheides des VersorgA. G vom 25. Februar 1952 wird der Beklagte verurteilt, die Bechterewsche Erkrankung als Wehrdienstbeschädigung im Sinne des § 1 des BVG anzuerkennen und an den Kläger ab 1. Oktober 1950 eine Rente nach einer MdE. von 100 v. H. zu zahlen."

Mit der Berufung machte der Beklagte geltend, der angefochtene Bescheid vom 18. September 1950, der die früheren Bescheide teilweise aufgehoben habe, sei nach Ziff. 26 SVA 11 gerechtfertigt gewesen; aus mehreren ärztlichen Gutachten gehe hervor, daß die Bechterewsche Erkrankung nicht durch den Wehrdienst entstanden, sondern durch ihn nur verschlimmert worden sei; die Voraussetzungen der früheren Bescheide der Ruhrknappschaft hätten sich danach als unzutreffend erwiesen.

Das Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen wies mit Urteil vom 12. Juni 1956 die Berufung zurück: Durch das Schreiben der Ruhrknappschaft vom 1. Juni 1950 und durch die Antwort des Klägers vom 26. Juni 1950 sei ein außergerichtlicher Vergleich zustande gekommen; dessen Inhalt sei, daß der Beklagte die MdE. des Klägers mit 100 v. H. anerkannt und sich verpflichtet habe, entsprechende Leistungen zu gewähren und daß der Kläger seinen Einspruch zurückgenommen habe; an diesen rechtsgültigen Vergleich sei der Beklagte gebunden gewesen; schon deshalb sei die Klage begründet; im übrigen fehle dem "Berichtigungsbescheid vom 18. September 1950" die rechtliche Grundlage, dieser Bescheid könne auch nicht auf Ziff. 26 SVA Nr. 11 gestützt werden, diese Vorschrift finde auf Bescheide, die auf Grund der SVD Nr. 27 ergangen seien, keine Anwendung; der Beklagte sei an die SVD-Bescheide, in denen er die Bechterewsche Erkrankung ohne jede Einschränkung als Schädigungsfolge anerkannt habe, gebunden; er habe daher weder in dem "Berichtigungsbescheid vom 18. September 1950" noch in dem Umanerkennungsbescheid vom 25. Februar 1952 die Schädigungsfolge nur noch im Sinne der Verschlimmerung anerkennen dürfen; der Kläger sei nach dem Gutachten mehrerer ärztlicher Sachverständiger erwerbsunfähig, die Gewährung einer Rente nach einer MdE. von 100 v. H. sei daher gerechtfertigt. Das LSG. ließ die Revision zu.

Das Urteil des LSG. wurde dem Beklagten am 26. Januar 1957 zugestellt. Der Beklagte legte am 13. Februar 1957 Revision ein und beantragte,

das Urteil des LSG. Nordrhein-Westfalen vom 12. Juli 1956 und das Urteil des SG. Dortmund vom 6. Juli 1954 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Er begründete die Revision am 9. März 1957: Das LSG. habe Ziff. 26 SVA Nr. 11 unrichtig angewandt, diese Vorschrift habe die "Berichtigung" auch solcher Bescheide ermöglicht, die nach der SVD Nr. 27 ergangen seien; sie habe den Zweck verfolgt, die in der "ersten Nachkriegszeit" unterlaufenen, unrichtigen Anerkenntnisse von Schädigungsfolgen "zu bereinigen", deshalb sei auch ihre Geltungsdauer befristet gewesen.

Der Kläger beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

II.

Die Revision ist zulässig, sie ist auch begründet.

Der Beklagte hat zwar in der Revisionsbegründung vom 7. März 1957 nur Ausführungen über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids der Ruhrknappschaft vom 18. September 1950 gemacht, den außergerichtlichen Vergleich, auf den das LSG. den Klageanspruch in erster Linie gestützt hat, hat er nicht erwähnt; indessen hat das Bundessozialgericht (BSG.), da die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft ist und die Revisionsbegründung, soweit die Verletzung der Ziffer 26 der SVA Nr. 11 gerügt wird, den Formerfordernissen des § 164 Abs. 2 SGG entspricht, das angefochtene Urteil materiell-rechtlich vollständig nachzuprüfen; nur wenn die Statthaftigkeit der Revision auf Verfahrensmängel gestützt wird, ist das BSG. grundsätzlich auf die Nachprüfung des vom Revisionskläger vorgetragenen Prozeßstoffes beschränkt (BSG. 1, 227 (231)).

Das LSG. hat angenommen, der Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Versorgungsrente nach einer MdE. um 100 v. H. sei schon deshalb begründet, weil sich der Beklagte zu einer solchen Leistung vertraglich verpflichtet habe; es hat "festgestellt", das Schreiben des Beklagten vom 1. Juni 1950 sei ein Angebot, das Schreiben des Klägers vom 26. Juni 1950 dessen Annahme, dadurch sei zwischen den Beteiligten ein außergerichtlicher Vergleich zustande gekommen. Das LSG. hat aber insoweit nicht eine "Tatsache", an die das BSG. gebunden ist ( § 163 SGG ), "festgestellt", es hat vielmehr den Sachverhalt, insbesondere die Erklärungen der Beteiligten (vgl. auch BSG. 7, 53) rechtlich gewürdigt; der Senat muß prüfen, ob diese Würdigung zutrifft.

Ein Vergleich ist ein gegenseitiger Vertrag, durch den der Streit oder die (auch nur subjektive) Ungewißheit der Parteien über ein Rechtsverhältnis oder über einen Anspruch oder dessen Verwirklichung im Wege gegenseitigen Nachgebens beseitigt wird ( § 779 BGB ; Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl. S. 600). Es kann dahingestellt bleiben, inwieweit im Versorgungsrecht die Verwaltung und die Berechtigten ihre Beziehungen durch außergerichtlichen Vergleich regeln können; der Streit der Beteiligten ist hier nicht dadurch beseitigt worden, daß sie sich gegenseitig "Zugeständnisse" gemacht haben (vgl. auch Urteil des BAG. vom 19.9.1958, Juristenzeitung 1959 Nr. 1 S. 23, 24 mit weiteren Hinweisen und Anm. von Rosenberg). Im vorliegenden Falle hat die Ruhrknappschaft auf Grund der Behauptung des Klägers in seinem Einspruch gegen den Bescheid vom 23. August 1949, er sei nicht nur 80 v. H., sondern mindestens 90 v. H. in seiner Erwerbsfähigkeit beschränkt, ein neues ärztliches Gutachten eingeholt; der ärztliche Sachverständige hat angenommen, infolge Zunahme der Krankheitserscheinungen bestehe nunmehr bei dem Kläger Erwerbsunfähigkeit und darüber hinaus Hilflosigkeit; die Ruhrknappschaft hat daraufhin in ihrem Schreiben vom 1. Juni 1950 dem Kläger mitgeteilt, daß sie sich diesem Gutachten anschließe; sie hat dabei zum Ausdruck gebracht, daß sie dem Kläger dem Gutachten entsprechend eine Rente von 100 v. H. und außerdem Pflegegeld ab 23. Februar 1950 gewähren wolle; die Ruhrknappschaft hat damit kein Angebot zum Abschluß eines außergerichtlichen Vergleichs "im Wege gegenseitigen Nachgebens" gemacht, auch nicht dadurch, daß sie am Schluß der Erklärung den Kläger gebeten hat, ihr mitzuteilen, ob er "bei dieser Sachlage" den Einspruch zurücknehme; sie hat mit dieser Anfrage lediglich die formelle Erledigung des Einspruchsverfahrens erreichen wollen; der Kläger hat, wie sich aus seiner Antwort vom 26. Juni 1950 ergibt, nicht "nachgegeben"; er hat dazu gar keinen Anlaß gehabt, nachdem ihm im Einspruchsverfahren sogar mehr bewilligt worden ist, als er beantragt hat. In dem Schreiben der Ruhrknappschaft vom 1. Juni 1950 ist deshalb nichts anderes zu erblicken als ein neuer Bescheid, der den im Einspruchsverfahren angefochtenen Bescheid vom 9. Dezember 1949 ersetzt und das Vorverfahren durch die Gewährung der beantragten Leistung erledigt (vgl. auch Rohr, Der Versorgungsbeamte 1959 Heft 1 S. 3). Der Beklagte ist damit jedenfalls nicht durch einen Vertrag gehindert gewesen, das Versorgungsverhältnis durch den mit der Klage angefochtenen Bescheid der Ruhrknappschaft vom 18. September 1950 neu zu regeln. Zu prüfen bleibt aber, ob der Beklagte nicht an seine früheren Verwaltungsakte gebunden gewesen ist. Die Ruhrknappschaft hat in ihren Bescheiden vom 1. August 1947, 16. Dezember 1948, 9. Dezember 1949, 1. Juni 1950 die Bechterewsche Erkrankung des Klägers ohne jede Einschränkung, also im Sinne der Entstehung, als Schädigungsfolge anerkannt, sie hat die Höhe der Rente nach dem gesamten Leidenszustand festgestellt, und zwar bis zur Gewährung einer Rente nach einer MdE. von 100 v. H. nebst Pflegegeld durch den Bescheid vom 1. Juni 1950. Diese Bescheide sind Verwaltungsakte mit Dauerwirkung und ausschließlich begünstigender Natur; sie sind deshalb sowohl nach den §§ 77 SGG , 24 Verwaltungsverfahrensgesetz (VerwVG) wie nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts in dem Zeitpunkt, in dem sie dem Kläger zugegangen sind, für die Beteiligten in der Sache bindend geworden, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist; die §§ 77 SGG und 24 VerwVG erfassen als Vorschriften, die zugunsten der Berechtigten ergangen sind, nach ihrem zeitlichen Geltungswillen auch Verwaltungsakte, die vor ihrem Inkrafttreten erlassen worden sind (vgl. BSG. 7 S. 8 ff. (11) mit weiteren Hinweisen).

Der Bescheid der Ruhrknappschaft vom 18. September 1950, der zusammen mit der Erklärung derselben Behörde vom 29. August 1950 und der Entscheidung des Beschwerdeausschusses vom 11. Juni 1951 eine einheitliche Erklärung der Verwaltung darstellt (vgl. auch § 95 SGG ), nimmt die Bescheide vom 1. August 1947, 16. Dezember 1948, 9. Dezember 1949 und 1. Juni 1950, die alle auf Grund der SVD Nr. 27 erlassen worden sind, insoweit zurück, als in ihnen die Bechterewsche Erkrankung des Klägers ohne Einschränkung als Schädigungsfolge anerkannt und dem Kläger eine Rente nach einer MdE. von mehr als 70 v. H. bewilligt worden ist. Die Ruhrknappschaft hat darin zum Ausdruck gebracht, daß sie die angeführten Bescheide für rechtswidrig hält, weil übersehen worden sei, daß die "Erstanerkennung" in dem Bescheid des VersorgA. D vom 21. November 1944 nur eine Anerkennung der Bechterewschen Erkrankung im Sinne der Verschlimmerung gewesen sei und weil sich nunmehr herausgestellt habe, daß die bisherige Berentung des gesamten Leidenszustandes als Schädigungsfolge nicht den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen entsprochen habe, in Wirklichkeit sei der Wehrdienst nur für einen Verschlimmerungsanteil ursächlich geworden, dieser Anteil sei mit einer MdE. von 70 v. H. zu bewerten. Zu prüfen ist deshalb, ob dieser Bescheid rechtswirksam ist; das ist dann der Fall, wenn die Rücknahme der früheren Bescheide berechtigt gewesen ist. Für die Frage, ob ein Verwaltungsakt ohne Dauerwirkung - hier der Rücknahmebescheid vom 18. September 1950 ("Berichtigungsbescheid") - dessen Aufhebung mit der Klage begehrt wird, rechtmäßig oder rechtswidrig ist, kommt es auf die Sach- und Rechtslage in dem Zeitpunkt an, in dem die letzte Verwaltungsentscheidung, unter Umständen also die Entscheidung im Vorverfahren, ergangen ist, nicht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidungen (BSG. 7, 8 (13) mit weiteren Hinweisen). Der Bescheid vom 18. September 1950 hat nicht in § 41 VerwVG (erst in Kraft getreten am 1. April 1955, § 51 VerwVG ), wohl aber in Ziff. 26 SVA Nr. 11 vom 5. Juli 1947 (Amtsbl. für die brit. Zone 1947 S. 234) eine rechtliche Grundlage; nach dieser Vorschrift hat ein rechtskräftiger Bescheid, der auf Grund der SVD Nr. 27 erlassen worden ist, zurückgenommen werden können, "wenn die Voraussetzungen der Bescheiderteilung sich als unzutreffend erweisen" (vgl. dazu BSG. 3 S. 251 ff. (262); 7, 8 (13); auch Urteil des BSG. vom 17. Juli 1958 - 11/9 RV 968/55 -). Die Ziff. 26 der SVA Nr. 11, eine von dem Präsidenten des Zentralamts für Arbeit erlassene Vorschrift, hat auf der Ermächtigung des § 22 SVD Nr. 27 beruht; sie hat auch nicht gegen die §§ 1, 2 SVD Nr. 27 verstoßen; die SVA Nr. 11 hat Normen enthalten, die sich auf das ganze Gebiet der ehemals britischen Zone und damit über den Bereich des Berufungsgerichts hinaus erstreckt haben; sie ist "das Gesetz" im Sinne der §§ 77 SGG , 24 VerwVG , das den Beklagten ermächtigt hat, auch bindend gewordene begünstigende Verwaltungsakte zurückzunehmen.

Der Bescheid vom 18. September 1950 trägt zwar die Bezeichnung "Umrechnung der Rente"; in ihm ist auch die Ziff. 26 SVA Nr. 11 nicht erwähnt, es wird vielmehr darauf hingewiesen, daß die Rente neu festzustellen sei, wenn eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen, die für die Feststellung maßgebend waren, eingetreten sei; damit hat die Beklagte zunächst offenbar § 608 Reichsversicherungsordnung (RVO) als Rechtsgrundlage des Rücknahmebescheides angesehen; die Voraussetzungen dieser Vorschrift haben allerdings nicht vorgelegen; § 608 RVO ermächtigt die Verwaltung (ebenso wie später § 62 Abs. 1 BVG ) nur, Verwaltungsakte insoweit zurückzunehmen, als sie nach ihrem Erlaß, und sei es auch nur für einen Teil der Zeit, auf die sich ihre Dauerwirkung erstreckt, fehlerhaft geworden sind; Bescheide, die schon in dem Zeitpunkt, in dem die Verwaltung sie erlassen hat, ganz oder für einen Teil der Zeit, auf die sich ihre Wirkung erstreckt, rechtswidrig gewesen sind, haben nicht nach § 608 RVO zurückgenommen werden dürfen. Der Beklagte hat sich aber im Laufe des Rechtsstreits zur Begründung des strittigen Bescheides auf Ziff. 26 SVA Nr. 11 berufen. Ein solches "Nachschieben" von Gründen durch die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, ist jedenfalls dann zulässig, wenn der Verwaltungsakt durch die andere Begründung nach Voraussetzung, Inhalt und Wirkungen nicht etwas anderes wird; ein Verwaltungsakt ist nicht schon deshalb rechtswidrig, weil die rechtliche Begründung, die ihm von der Verwaltung beigegeben ist, nicht zutrifft (BSG. 7, 8 (12, 13) mit weiteren Hinweisen). Im vorliegenden Falle hat die "nachgeschobene" Begründung den Bescheid vom 18. September 1950 nicht in seinem Wesen verändert. Durch ihn sind die früheren Bescheide zurückgenommen und die Ansprüche des Klägers neu geregelt worden. Der Beklagte hat ihn auf die Ziff. 26 SVA Nr. 11 stützen können, wenn die Voraussetzungen dieser Vorschrift vorgelegen haben; offen ist nur die Frage, ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Ziff. 26 SVA Nr. 11 gegeben gewesen sind, d. h. ob und inwieweit sich die Voraussetzungen für den Erlaß der früheren Bescheide als unzutreffend erwiesen haben.

Es kommt deshalb darauf an, ob die Behauptung des Beklagten richtig ist, daß das Leiden des Klägers nur zum Teil Folge des Wehrdienstes ist und daß der Anteil, der auf die Verschlimmerung durch den Wehrdienst zurückgeht, mit einer MdE. von nicht mehr als 70 v. H. zu entschädigen ist. Über diese Frage hat das LSG. nicht entschieden; es hat von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt hierüber auch nicht zu entscheiden brauchen, es hätte aber, wenn es von zutreffenden rechtlichen Erwägungen ausgegangen wäre, hierüber entscheiden müssen; das BSG. kann diese Entscheidung nicht selbst treffen, weil es insoweit noch der Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen bedarf; das Urteil des LSG. ist deshalb aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen ( § 170 Abs. 2 SGG ). Das LSG. wird bei der neuen Entscheidung zu beachten haben, daß der Umanerkennungsbescheid des VersorgA. G vom 25. Februar 1952 nicht nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden ist; § 96 Abs. 1 SGG gilt nur für abändernde oder ersetzende Bescheide, die nach dem 31. Dezember 1953 (Inkrafttreten des SGG) ergangen sind (BSG. 4, 281; Beschluß des BSG. vom 7.12.1955 SozR. SGG § 96 Nr. 1 ).

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

RegNr, 791

Bundesversorgungsblatt, 69 (Leitsatz 1 und Gründe)

Die Kriegsopferversorgung, 141 (Leitsatz 1 und Gründe)

Die Praxis, 428 (red. Leitsatz 1 und Gründe)

MDR 1959, 432

SozR, (Leitsatz)

SozR, (Leitsatz)

SozR, (Leitsatz und Gründe)

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