Leitsatz (amtlich)
Übersteigen die Einkünfte eines zur Rückerstattung zu Unrecht empfangener Versorgungsleistungen Verpflichteten die ungekürzte Grund- und Ausgleichsrente eines Erwerbsunfähigen, so sind bei der Entscheidung, ob die Rückforderung vertretbar ist (KOV-VfG 47 Abs 2 Halbs 5 Fassung:1955-05-02), seine Einkünfte und die für seinen und seiner Familie notwendigen Lebensunterhalt (vergleiche BSG 1956-06-07 8 RV 411/54 = BSGE 3, 124, 127-128; BSG 1956-10-26 8 RV 17/55 = BSGE 4, 70, 72-73; BSG 1957-01-30 9 RV 54/55 = BSGE 4, 267, 269-270, BSG 1957-11-22 8 RV 229/55 = BSGE 6, 125, 126-127) erforderlichen Ausgaben zugrunde zu legen. Insoweit bindet VV KOV-VfG § 47 Nr 11 S 1 Fassung : 1956-02-08 die Gerichte nicht.
Leitsatz (redaktionell)
Die VV KOV-VfG § 47 Nr 11 Fassung: 1956-02-08 ist mit KOV-VfG § 47 Abs 2 Fassung: 1955-05-02 unvereinbar, soweit sie für die Beurteilung , ob die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse vertretbar ist, eine starre Begrenzung geben will.
Normenkette
KOVVfG § 47 Abs. 2 Hs. 5 Fassung: 1955-05-02, § 47 Nr. 11 S. 7 Fassung: 1956-02-08
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 26. November 1958 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger hatte auf Grund des Bayerischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetzes (KBLG) Versorgung bezogen. Durch Umanerkennungsbescheid vom 20. April 1951 wurden wegen des Verlustes des rechten Oberschenkels im Hüftgelenk die Grundrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 80 v.H. sowie eine Pauschalvergütung für Kleiderverschleiß bewilligt, die Gewährung einer Ausgleichsrente aber wegen der Höhe des sonstigen Einkommens abgelehnt. Durch den weiteren - verbindlich gewordenen - Bescheid vom 3. November 1952 wurde die Auszahlung der Grundrente mit Ende November 1952 eingestellt, weil der Kläger als Offizier der früheren Wehrmacht laut Mitteilung der Oberfinanzdirektion vom 1. April 1951 an Bezüge aus der beamtenrechtlichen Unfallfürsorge von monatlich 190,- DM bezöge; die Rente ruhe nach § 65 Abs. 1 Nr. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG); in der Zeit vom 1. April 1951 bis 30. November 1952 sei die Grundrente in Höhe von monatlich 55,- DM zu Unrecht gezahlt worden. Die Überzahlung in Höhe von 1100,- DM wurde schließlich durch den Bescheid vom 16. Dezember 1953 zurückgefordert, eine zwischenzeitliche teilweise Tilgung durch eine Überweisung von der für den Kläger zuständigen Regierungshauptkasse bestätigt und für den Rest eine Verpflichtung zur Rückzahlung in monatlichen Raten auferlegt.
Die Berufung des Klägers nach altem Recht ging nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht über. Dieses hat durch Urteil vom 14. April 1955 den Bescheid vom 16. Dezember 1953 insoweit aufgehoben, als ein 275,- DM übersteigender Betrag vom Kläger zurückgefordert worden ist, und im übrigen die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, die Grundrente ruhe vom 1. April 1951 an in Höhe des Unterschiedes zwischen den Bezügen nach der beamtenrechtlichen Unfallfürsorge und den allgemeinen beamtenrechtlichen Bestimmungen in Höhe von 70,- DM monatlich gemäß § 65 Abs. 1 Nr. 2 BVG. Für die Zeit vom 1. September 1951 an habe das Versorgungsamt die Überzahlung selbst verursacht. Die Rückzahlung dieses Betrages verstoße gegen Treu und Glauben.
Auf die Berufung des Beklagten ermittelte das Landessozialgericht die monatlichen Einkünfte und Ausgaben des Klägers und hat durch Urteil vom 26. November 1958 das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben, die Klage abgewiesen und entsprechend einem Antrag des Klägers die Revision zugelassen.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 14. April 1955 zurückzuweisen und den Beklagten zu verurteilen, DM 825,- an den Kläger zurückzuzahlen;
hilfsweise unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Er rügt mit näherer Begründung eine unrichtige Anwendung des § 47 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG).
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. November 1958 als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Das Landessozialgericht hat zwar nicht ausgeführt, wegen welcher Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung es die Revision zugelassen hat. Dies berührt die Wirksamkeit der Zulassung nicht, weil zwingende Gründe, welche der Zulassung entgegenstehen könnten, nicht gegeben sind. Die angefochtene Entscheidung beruht im übrigen auf der Auslegung des Rechtsbegriffs "wirtschaftliche Verhältnisse" im Sinne des § 47 Abs. 2 VerwVG. Bei der Frage, wie dieser Rechtsbegriff auszulegen ist, handelt es sich um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, so daß gegen die Zulassung der Revision Bedenken nicht zu erheben sind. Das Rechtsmittel ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft. Es ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher zulässig. Die Revision ist auch begründet.
Das Berufungsgericht hat die Zulässigkeit der Berufung im Ergebnis zu Recht bejaht, weil der Streit um die Rückforderung von Versorgungsbezügen geht und infolgedessen die Berufungsbeschränkungen der §§ 144 Abs. 1 Nr. 1 und 148 Nr. 2 SGG nicht Platz greifen können (BSG. 3 S. 234). Es hat durch die Bezugnahme auf die Mitteilung der Oberfinanzdirektion Nürnberg vom 28. Oktober 1952 festgestellt, daß nach den allgemeinen beamtenrechtlichen Bestimmungen der Abschlag auf die Bezüge des Klägers unter Berücksichtigung des Kinderzuschlages von 20,- DM monatlich 120,- DM, der aus der beamtenrechtlichen Unfallfürsorge monatlich 190,- DM und die Überzahlung 1100,- DM betragen haben. Nach diesen Feststellungen ist der Differenzbetrag höher als die Grundrente von 55,- DM, so daß das Berufungsgericht dementsprechend das Ruhen der Grundrente zu Recht angenommen hat, wobei es den Hinweis des Versorgungsamts auf § 65 Abs. 1 Nr. 1 BVG in § 65 Abs. 1 Nr. 2 BVG richtiggestellt hat. Diese Feststellungen sind von der Revision nicht angegriffen. Sie binden nach § 163 SGG das Revisionsgericht.
Die Rückzahlung der überhobenen Grundrente hat das Landessozialgericht zutreffend nach der Vorschrift des § 47 VerwVG entschieden, obwohl sie zu der Zeit noch nicht galt, als der angefochtene Bescheid erlassen wurde; denn diese Vorschrift ergreift nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts alle am Tage ihres Inkrafttretens - dem 1. April 1955 - anhängigen Rückforderungsfälle (BSG. 3 S. 234 = SozR. VerwVG § 47 Bl. Ca 1 Nr. 1). Nach § 47 Abs. 2 letzter Halbsatz VerwVG kann ein zu Unrecht gezahlter Betrag neben anderen Voraussetzungen nur zurückgefordert werden, wenn dies wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers vertretbar ist. Das Berufungsgericht hat bei der Anwendung dieser Vorschrift nicht geprüft, ob daneben der allgemeine Rechtsbegriff von Treu und Glauben, auf den das Sozialgericht sein Urteil gestützt hat, Platz greifen kann. Dies ist von der Revision nicht angegriffen worden und gibt zu Bedenken keinen Anlaß, weil keine besonderen Umstände festgestellt sind, welche die - ebenfalls auf diesem allgemeinen Rechtsbegriff beruhende - vom Gesetzgeber vorgenommene Abwägung der Belange der Allgemeinheit und des betroffenen Rentenberechtigten in diesem Einzelfall als nicht zutreffend erscheinen lassen könnten.
Die Revision rügt zu Recht eine unrichtige Anwendung des § 47 Abs. 2 VerwVG, weil das Landessozialgericht zwar die Einkünfte des Klägers ermittelt, seine Ausgaben aber in erheblichem Umfange nicht berücksichtigt habe, sondern stattdessen von der vollen Grund- und Ausgleichsrente eines Erwerbsunfähigen unter Berücksichtigung der Familienverhältnisse des Klägers ausgegangen sei und diese als ausreichend für die Bestreitung des Lebensunterhalts bezeichnet habe. Das Berufungsgericht hat sich hierbei auf Nr. 11 Satz 1 der Verwaltungsvorschriften zu § 47 VerwVG gestützt. Dort ist ausgeführt, eine Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Versorgungsempfängers sei vertretbar, wenn ihm netto mehr Einkünfte zur Verfügung ständen als er haben würde, wenn er nur die ungekürzte Grund- und Ausgleichsrente eines Erwerbsunfähigen beziehen würde. Das Landessozialgericht hat nicht gebührend berücksichtigt, daß in allen Fällen, in denen die Einkünfte eines zur Rückerstattung zu Unrecht empfangener Versorgungsleistungen Verpflichteten die ungekürzte Grund- und Ausgleichsrente eines Erwerbsunfähigen übersteigen, durch die Berechnung nach dieser Verwaltungsanordnung die wirtschaftlichen Verhältnisse nur zu einem Teil, nämlich hinsichtlich der Einnahmenseite erfaßt werden. Dies ist bei dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes nicht zulässig. Nach ihm ist es nicht angängig, bei der Vielfalt der Möglichkeiten hinsichtlich der Aufwendungen für den Lebensunterhalt eine starre Norm und nicht die bewegliche Berücksichtigung der Verhältnisse des Einzelfalls zu gestatten. Demnach ist Nr. 11 Satz 1 der Verwaltungsvorschriften zu § 47 VerwVG mit Abs. 2 letzter Halbsatz dieser Vorschrift in Fällen dieser Art nicht vereinbar. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts haben die Verwaltungsvorschriften keinen Gesetzesrang und können das Gesetz nicht ändern. Die Verwaltungsvorschrift Nr. 11 Satz 1 ist wegen ihrer Unvereinbarkeit mit § 47 Abs. 2 letzter Halbsatz VerwVG insoweit für die Gericht nicht bindend. Der Senat hat nicht verkannt, daß die Verwaltungsvorschrift Nr. 11 geeignet ist, die Arbeit der Versorgungsämter in den Fällen zu erleichtern, in denen die Einkünfte des Rentenberechtigten geringer als die volle Grund- und Ausgleichsrente eines Erwerbsunfähigen sind. Es braucht hier nicht geprüft zu werden, welche rechtliche Bedeutung der Verwaltungsvorschrift für derartige Fälle zukommt; denn der hier zu entscheidende Fall ist in tatsächlicher Hinsicht anders gelagert. Den Darlegungen des Beklagten, in Nr. 11 Satz 1 der Verwaltungsvorschriften zu § 47 VerwVG sei berücksichtigt, daß durch die volle Grund- und Ausgleichsrente eines Erwerbsunfähigen stets der notwendige Lebensunterhalt im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gewährleistet sei, kann nicht gefolgt werden. Vielmehr kommt es für die Ausgabenseite entscheidend darauf an, welche Aufwendungen der Kläger für seinen und seiner Familie notwendigen Lebensunterhalt machen muß. Wegen dieser Aufwendungen im einzelnen wird auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG. 3 S. 124 (127-128), 4 S. 70 (72-73), 267 (269-270), 6 S. 125 (126-127)) hingewiesen. Über diese Ausgaben des Klägers hat das Berufungsgericht nichts festgestellt. Das angefochtene Urteil beruht daher auf der unrichtigen Anwendung des § 47 Abs. 2 letzter Halbsatz VerwVG und mußte nach § 170 Abs. 2 SGG aufgehoben werden. Eine Entscheidung des Senats war nicht tunlich, weil noch Feststellungen getroffen werden müssen. Deshalb war der Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
In dem weiteren Verfahren wird das Berufungsgericht die Aufwendungen des Klägers für seinen und seiner Familie notwendigen Lebensunterhalt zu ermitteln und festzustellen haben. Dabei wird es u.a. auf die Berufsausbildung der Tochter einzugehen und zu prüfen haben, ob es sich um eine besonders kostspielige oder eine angemessene Ausbildung handelt und ob demgemäß hierfür die vollen Beträge eingesetzt werden können, die der Kläger angegeben hat. Das gleiche gilt hinsichtlich der Wohnungsmiete und anderer laufender Aufwendungen, z.B. für das Kraftfahrzeug des Klägers. Weiter wird das Landessozialgericht berücksichtigen müssen, daß das Ruhen der Versorgungsbezüge und die Höhe der Überzahlung nach der Mitteilung der Oberfinanzdirektion Nürnberg vom 28. Oktober 1952 berechnet worden sind, die sich aber nur mit Abschlagszahlungen an den Kläger auf Grund des Bundesgesetzes vom 11. Mai 1951 zu Art. 131 des Grundgesetzes befaßt, während nicht berücksichtigt worden ist, was der Kläger tatsächlich bekommen hat.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen