Orientierungssatz

1. Für Ansprüche auf Witwerrente ist das Recht maßgebend, das zur Zeit des Todes der versicherten Ehefrau gegolten hat.

Nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Sinn des AVG § 28 Abs 4 aF (= RVO § 1257 aF) ist diese Vorschrift dahin auszulegen, daß der Ehemann schon beim Tode der Ehefrau erwerbsunfähig und bedürftig gewesen sein muß.

2. Der Gleichberechtigungsgrundsatz des GG wirkt weder auf die Zeit vor seinem Inkrafttreten zurück noch regelt er von diesem Zeitpunkt an Tatbestände neu, die abgeschlossen in der Vergangenheit liegen; er bewirkt nur Rechtsänderungen für die Zukunft, hat aber nicht die Funktion, nachteilige Folgen schon eingetretener Rechtslagen zu beseitigen.

 

Normenkette

AVG § 28 Abs. 4 Fassung: 1934-05-17; RVO § 1257 Fassung: 1934-05-17; GG Art. 3 Fassung: 1949-05-23

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. September 1956 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind dem Kläger nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Kläger beantragte im Jahre 1952 die Gewährung von Witwerrente aus der Angestelltenversicherung seiner am 4. April 1952 verstorbenen Ehefrau. Die Landesversicherungsanstalt R, die damals die Aufgaben der Angestelltenversicherung mit wahrnahm, lehnte den Antrag ab, weil sie die gesetzlichen Voraussetzungen nach § 28 Abs. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aF nicht für erfüllt hielt. Klage und Berufung blieben ohne Erfolg: Nach der Auffassung des Landessozialgerichts (LSG) ist auf den geltend gemachten Anspruch noch § 28 Abs. 4 AVG aF uneingeschränkt anzuwenden; der Gleichberechtigungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) stehe dem nicht entgegen, weil das ihm widersprechende Recht bis zum 31. März 1953 in Kraft geblieben (Art. 117 Abs. 1 GG), der Versicherungsfall aber vorher eingetreten sei; im übrigen lasse sich § 28 Abs. 4 AVG aF auch mit Art. 3 Abs. 2 GG vereinbaren; der Kläger erfülle die Voraussetzungen des § 28 Abs. 4 AVG aF nicht, weil er beim Tode seiner Frau weder erwerbsunfähig noch bedürftig gewesen sei und die Verstorbene den Unterhalt der Familie auch nicht überwiegend bestritten habe; aus den Akten des Versorgungsamts ergebe sich, daß die Gesundheitsstörungen des Klägers seine Erwerbsfähigkeit nur um 20 % einschränkten; selbst wenn der Grad der Erwerbsminderung - wie der Kläger behaupte - wesentlich höher läge, habe doch keine völlige Erwerbsunfähigkeit bestanden, zumal der Kläger nach dem Tode seiner Ehefrau den juristischen Vorbereitungsdienst als Referendar fortgesetzt habe. Während des Vorbereitungsdienstes habe der Kläger einen Unterhaltszuschuß erhalten, der mit Kinderzuschlägen seit April 1951 monatlich 342.- DM betragen habe; die Ehefrau habe demgegenüber nur einen monatlichen Bruttoverdienst von 288.- DM seit April 1951 gehabt. Danach könne, auch wenn man die Widerruflichkeit des Unterhaltszuschusses berücksichtige und die notwendigen Aufwendungen für den Vorbereitungsdienst abziehe, weder eine Bedürftigkeit des Klägers noch eine überwiegende Unterhaltsleistung der Ehefrau angenommen werden.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragte der Kläger - der nach Mitteilung seines Prozeßbevollmächtigten im Oktober 1954 wieder geheiratet hat -,

den angefochtenen Bescheid sowie die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung von Witwerrente seit dem Todestage der Ehefrau zu verurteilen.

Er rügt, das LSG habe "formelles Recht" verletzt und die materiell-rechtlichen Vorschriften des § 28 Abs. 4 AVG aF und der Art. 3 Abs. 2, 117 Abs. 1 GG fehlerhaft angewandt.

Die Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision des Klägers ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), aber unbegründet.

Für Ansprüche auf Witwerrente ist das Recht maßgebend, das zur Zeit des Todes der versicherten Ehefrau gegolten hat (vgl. Urteil des BSG vom 29.3.1962, 1 RA 188/56). Im vorliegenden Fall ist die Ehefrau des Klägers am 4. April 1952 gestorben. Die Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers bildet somit § 28 Abs. 4 AVG aF. Die Neufassung dieser Vorschrift (§ 43 AVG) durch das 1957 in Kraft getretene Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) kann, weil ihr keine Rückwirkung beigelegt worden ist, im vorliegenden Rechtsstreit nicht angewandt werden (Art. 2 § 6 AnVNG).

Nach § 28 Abs. 4 AVG aF erhält der erwerbsunfähige, bedürftige Ehemann nach dem Tode seiner versicherten Ehefrau eine Witwerrente, wenn die Verstorbene den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat. Die gleichlautende Vorschrift des § 1257 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF hat der 4. Senat des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG 5, 17) nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Sinn dahin ausgelegt, daß der Ehemann schon beim Tode der Ehefrau erwerbsunfähig und bedürftig gewesen sein muß; in gleicher Weise hat der 1. Senat § 28 Abs. 4 AVG aF ausgelegt (Urteile vom 29.3.1962 - 1 RA 188/56 - und vom 29.5.1963 - 1 RA 22/58 -); auch der erkennende Senat stimmt dieser Auslegung zu. Daß nach den §§ 42 AVG aF, 1294 RVO aF die Witwerrente bei Fortfall der Erwerbsunfähigkeit oder der Bedürftigkeit zu entziehen war, steht dieser Auffassung nicht entgegen, weil sich daraus nur ergibt, daß zwei Voraussetzungen für die Entstehung des Anspruchs auf Witwerrente während des Bezugs dieser Rente fortbestehen müssen und deshalb im Falle des Wegfalls einer dieser Voraussetzungen die Rente zu entziehen ist.

In Übereinstimmung mit den genannten Urteilen des 1. Senats hat das LSG zu Recht Art. 3 Abs. 2 GG auf den vorliegenden Fall nicht angewandt, weil nach der Übergangsvorschrift des Art. 117 Abs. 1 GG das dem Gleichberechtigungsgrundsatz entgegenstehende Recht bis zum 31. März 1953 in Kraft geblieben ist, wenn es nicht später diesem Grundsatz angepaßt worden ist. Entgegen der Meinung des Klägers hat das Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgrundsatzes zum 1. April 1953 auch nicht bewirkt, daß wenigstens von diesem Zeitpunkt an Art. 3 Abs. 2 GG auf den Anspruch des Klägers anzuwenden wäre. Der von § 28 Abs. 4 AVG aF geregelte Tatbestand - überwiegende Unterhaltsgewährung durch die Frau, Erwerbsunfähigkeit und Bedürftigkeit des Mannes zur Zeit ihres Todes - hat beim Tode der Ehefrau am 4. April 1952 in vollem Umfang vorliegen müssen, sonst ist kein Anspruch auf die Witwerrente entstanden; der Gleichberechtigungsgrundsatz des Grundgesetzes wirkt aber weder auf die Zeit vor seinem Inkrafttreten zurück noch regelt er von diesem Zeitpunkt an Tatbestände neu, die abgeschlossen in der Vergangenheit liegen; er bewirkt nur Rechtsänderungen für die Zukunft, hat aber nicht die Funktion, nachteilige Folgen schon eingetretener Rechtslagen zu beseitigen.

Das LSG hat demnach den vom Kläger geltend gemachten Anspruch zutreffend allein nach § 28 AVG aF beurteilt. Nach dieser Vorschrift kann der Kläger nur dann eine Witwerrente beanspruchen, wenn ihre sämtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Fehlt auch nur eine von ihnen, so ist der Anspruch unbegründet und kann dahingestellt bleiben, ob die übrigen Tatbestandsmerkmale gegeben sind. Im vorliegenden Falle ist der Kläger nach den Feststellungen des LSG im Zeitpunkt des Todes seiner Ehefrau nicht bedürftig gewesen; es bedarf deshalb nicht der Prüfung, ob er auch erwerbsunfähig gewesen ist und die Ehefrau den Familienunterhalt überwiegend bestritten hat. Aus dem gleichen Grunde braucht auf die Verfahrensrügen des Klägers nicht eingegangen zu werden, weil mit ihnen die tatsächlichen Feststellungen des LSG zur Frage der Bedürftigkeit nicht angegriffen, diese mithin für das BSG bindend sind (§ 163 SGG).

Im Sinne des § 28 Abs. 4 AVG aF ist "bedürftig", wer außerstande ist, sich selbst in ausreichendem Maße zu unterhalten (vgl. dazu auch BSG 1, 184, 187 und 11, 136, 140, letztere Entscheidung in Verbindung mit § 1602 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -). Dem Kläger haben beim Tode seiner Ehefrau im April 1952 zur Bestreitung seines eigenen Unterhalts ausreichende Mittel zur Verfügung gestanden, weil er seinerzeit als Referendar einen Unterhaltszuschuß von monatlich 342.- DM bezogen hat. Dies gilt selbst dann, wenn die für den Unterhalt der drei Kinder gedachten Kinderzuschläge außer Betracht bleiben. Daß der Unterhaltszuschuß nur widerruflich gewährt worden ist, hat das LSG mit Recht für unerheblich erachtet. Solange ein Unterhaltszuschuß noch nicht widerrufen worden ist, muß er - jedenfalls im Rahmen einer Bedürftigkeitsprüfung - als Einkommen des Berechtigten berücksichtigt werden (vgl. auch BSG 5, 210, 12, 260).

Die Revision des Klägers ist deshalb als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325574

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge