Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung des AVG § 28 Abs 4. Keine Rückwirkung der Gleichberechtigung
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Senat schließt sich der Auslegung des RVO § 1257 aF für AVG § 28 Abs 4 an, daß die Erwerbsunfähigkeit und die Bedürftigkeit des Ehemannes die überwiegende Unterhaltsgewährung durch die Frau bedingt und darum schon vor ihrem Tode bestanden haben müssen. Erwerbsunfähig ist ein Ehemann, wenn seine Fähigkeit zum Erwerb infolge seines Gesundheitszustandes soweit gemindert ist, daß er die Familie nicht überwiegend unterhalten kann.
2. Die Übergangsregelung des GG Art 117 Abs 1 spricht eindeutig gegen jegliche "Rückwirkung" des Gleichberechtigungsgrundsatzes.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 4 Fassung: 1934-05-17; RVO § 1257 Fassung: 1934-05-17; GG Art. 117 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Art. 3 Abs. 2 Fassung: 1949-05-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 24. Juli 1956 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der im Jahre 1886 geborene Kläger begehrt Witwerrente. Seine Ehefrau starb am 19. Juni 1944. Sie war Inhaberin einer Fleischerei und auf Grund des Handwerkerversorgungsgesetzes (HVG) in der Angestelltenversicherung (AV) versichert. Der Kläger war als Fleischermeister im Geschäft ohne Entgelt tätig. Der Unterhalt der Familie wurde aus den Betriebseinnahmen bestritten. Nach dem Tode der Frau erbte der Kläger das Geschäft und führte es im eigenen Namen bis 1953 fort.
Durch Bescheid vom 20. September 1954 lehnte die Beklagte den im Juni 1953 gestellten Rentenantrag ab, weil nicht die Ehefrau, sondern der Kläger als Leiter des Betriebs die Familie überwiegend unterhalten habe, der Kläger zudem nicht erwerbsunfähig sei. Das Sozialgericht (SG) Hamburg sprach im Urteil vom 14. Februar 1956 die Witwerrente von Juli 1953 an zu, ohne zu prüfen, ob ihre besonderen Tatbestandsmerkmale nach § 28 Abs. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aF vorlagen; sie seien nämlich infolge des Gleichberechtigungsgrundsatzes des Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) mit Wirkung vom 1. April 1953 (Art. 117 Abs. 1 GG) entfallen; seitdem habe der Witwer - selbst wenn der Versicherungsfall vorher eingetreten sei - einen Rentenanspruch gemäß den für die Witwe geltenden Bestimmungen. Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hob das Urteil auf, wies die Klage ab und ließ die Revision zu: § 28 Abs. 4 AVG aF widerspräche dem Gleichberechtigungsgrundsatz nicht; danach aber stehe dem Kläger keine Witwerrente zu, weil die Ehefrau nicht die Familie überwiegend unterhalten habe; das habe der Kläger getan; er habe die Fleischerei geleitet und die notwendigen Arbeiten zum weitaus größten Teil verrichtet; die Ehefrau habe keine handwerkliche Ausbildung genossen, sie sei deshalb ohne die entscheidende Mitarbeit des Klägers außerstande gewesen, den Betrieb aufrechtzuerhalten; der Wert seiner Arbeitsleistung habe ein Vielfaches des Betriebswertes ausgemacht (Urteil vom 24. Juli 1956).
Der Kläger legte Revision ein; er rügte in erster Linie - insoweit der Auffassung des SG folgend - Verletzung des Art. 3 Abs. 2 GG sowie der §§ 28 Abs. 4 AVG aF, 1257 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF, hilfsweise des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und beantragte,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,
hilfsweise: den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Verfahrensrüge begründete der Kläger damit, daß das LSG die Unterhaltsleistung der Ehefrau nicht genügend aufgeklärt habe; bei richtiger Erforschung des Sachverhalts - z.B. durch Befragung der Handwerkskammer - hätte das LSG feststellen müssen, daß die Ehefrau den Betrieb allein habe führen können, ihn auch selbst geleitet, die erforderlichen Fachkenntnisse besessen und die Hauptlast des Betriebs getragen habe, zumal er seit 1930 gehbehindert gewesen sei; hierauf hätte sich das LSG überzeugen müssen, daß das Betriebseinkommen überwiegend der Ehefrau zugestanden und sie darum auch überwiegend die Familie unterhalten habe.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Rentenansprüche sind nach dem Recht zu beurteilen, das beim Eintritt des Versicherungsfalles gilt. Der Versicherungsfall, der den Anspruch auf Witwerrente auslöst, ist der Tod der Versicherten. Er fällt hier in das Jahr 1944. Rechtsgrundlage des Anspruchs ist deshalb § 28 Abs. 4 AVG in der Fassung, die bis zum 31. Dezember 1956 galt. Die Neufassung durch das Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) ist im vorliegenden Rechtsstreit nicht anzuwenden (Art. 2 § 6 AnVNG).
Nach § 28 Abs. 4 AVG aF erhält Witwerrente der erwerbsunfähige, bedürftige Ehemann nach dem Tod seiner versicherten Ehefrau, wenn die Verstorbene den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat. Die gleichlautende Vorschrift des § 1257 RVO aF hat der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG 5, 17 ff) nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Sinn dahin ausgelegt, daß die Erwerbsunfähigkeit und die Bedürftigkeit des Ehemannes die überwiegende Unterhaltsgewährung durch die Frau bedingt und darum schon vor ihrem Tode bestanden haben müssen. Der Senat schließt sich dieser Auslegung für § 28 Abs. 4 AVG aF an. Der Ehemann mußte aber außerdem noch während der Bezugszeiten der Witwerrente erwerbsunfähig und bedürftig sein, da ihm sonst die Rente entzogen wurde (§§ 42 AVG aF, 1294 RVO aF).
Die Vorinstanzen haben sich nun überwiegend mit der Frage befaßt, ob diese besonderen Voraussetzungen der Witwerrente nach altem Recht dem Gleichberechtigungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 2 GG widersprechen. Die Frage braucht jedoch nicht gestellt zu werden, da der Versicherungsfall im Jahre 1944 eingetreten ist, als das GG noch nicht galt; es ist erst seit dem 24. Mai 1949 in Kraft; die Übergangsvorschrift des Art. 117 Abs. 1 GG hat das dem Gleichberechtigungsgrundsatz entgegenstehende Recht sogar bis zum 31. März 1953 bestehen lassen, sofern es nicht inzwischen diesem Grundsatz angepaßt worden war.
Das mit dem GG, insbesondere mit Art. 3 Abs. 2 GG geschaffene neue Recht wirkt auch nicht auf die Zeit vor seinem Inkrafttreten zurück; ebensowenig regelt es von seinem Inkrafttreten an Tatbestände, die abgeschlossen in der Vergangenheit liegen. Das Gegenteil hätte der Gesetzgeber ausdrücklich sagen müssen (BSG 7, 282, 284; Enneccerus/Nipperdey, Allgem. Teil des Bürgerlichen Rechts, 1. Halbband S. 221 ff); eine "Rückwirkung" im einen oder anderen Sinne hat er aber weder angeordnet noch läßt sich das GG dahin auslegen; die Übergangsregelung des Art. 117 Abs. 1 GG spricht vielmehr eindeutig gegen jegliche "Rückwirkung" des Gleichberechtigungsgrundsatzes.
Der von § 28 Abs. 4 AVG aF geregelte Tatbestand - überwiegende Unterhaltsgewährung durch die Frau, Erwerbsunfähigkeit und Bedürftigkeit des Mannes zur Zeit ihres Todes - mußte im Falle des Klägers beim Tod seiner Ehefrau im Jahre 1944 vollständig vorgelegen haben, da sonst kein Rentenanspruch entstand; der für die Begründung des Anspruchs maßgebende Sachverhalt war demnach beim Inkrafttreten des GG abgeschlossen. Der Rentenbezug erforderte zwar zusätzliche Erwerbsunfähigkeit und Bedürftigkeit des Ehemannes noch während der Bezugszeiten; darauf kam es aber nur an, wenn der Sachverhalt beim Eintritt des Versicherungsfalls den Anspruch überhaupt hätte entstehen lassen; die erst später eingetretene Erwerbsunfähigkeit und Bedürftigkeit konnten den Anspruch auf Witwerrente nicht begründen. Nur bei einem bereits entstandenen Rentenanspruch lag darum der Tatbestand teilweise nicht mehr in der Vergangenheit; in diesem Falle ließe sich dann allerdings fragen, ob es mit dem Gleichberechtigungsgrundsatz vereinbar sei, daß das Gesetz die Fortdauer der Erwerbsunfähigkeit und der Bedürftigkeit auch für Bezugszeiten nach dem 31. März 1953 verlangt; dieser Frage braucht hier jedoch nicht nachgegangen zu werden, da nach den Feststellungen des LSG ein Rentenanspruch von vornherein nicht entstanden und ein in den zeitlichen Geltungsbereich des GG hineinwirkendes Rechtsverhältnis somit nicht begründet worden ist.
Aus den Feststellungen des LSG ergibt sich, daß der Kläger jedenfalls beim Tode seiner Ehefrau nicht erwerbsunfähig gewesen ist. Erwerbsunfähig im Sinne des § 28 Abs. 4 AVG aF ist ein Ehemann, wenn seine Fähigkeit zum Erwerb infolge seines Gesundheitszustandes soweit gemindert ist, daß er die Familie nicht überwiegend unterhalten kann (BSG 5, 17, 19). Das LSG hat festgestellt, der Kläger habe die Fleischerei geleitet, die notwendigen Betriebsarbeiten zum weitaus überwiegenden Teil verrichtet, der Wert seiner Arbeitsleistung als Fleischermeister habe ein Vielfaches des Betriebswertes ausgemacht. Hiernach kann aber die Erwerbsfähigkeit des Klägers beim Tode seiner Ehefrau - zumal er den Betrieb bis 1953 fortgeführt hat - nicht in nennenswertem Umfang und keinesfalls in einem Grade gemindert gewesen sein, daß die Ehefrau aus diesem Grunde für den überwiegenden Familienunterhalt hätte sorgen müssen. Hat eine Erwerbsunfähigkeit aber seinerzeit nicht vorgelegen, so fehlt ein für die Begründung des Rentenanspruchs notwendiges Tatbestandsmerkmal. Wie es sich mit den übrigen Voraussetzungen des gesetzlichen Tatbestandes verhält, kann alsdann dahingestellt bleiben. Das gleiche gilt für eine etwaige - vom LSG nicht geklärte - Wiederheirat des Klägers im Jahre 1951 (vgl. Ziffer 16 b des Rentenantrages vom 11. Juni 1953), da auch dieser Umstand nur zusätzlich dem geltend gemachten Rentenanspruch entgegenstehen würde (§§ 41 Abs. 1 AVG aF, 1287 S. 1 RVO aF).
Der Kläger hat allerdings auch gegen die Feststellungen des LSG, auf Grund deren der Senat seine Erwerbsunfähigkeit beim Tode der Ehefrau verneint, verfahrensrechtliche Einwände erhoben; der Senat muß diese Einwände prüfen, obgleich sie ein anderes Tatbestandsmerkmal des Gesetzes betreffen, nämlich die Schlußfolgerung des LSG angreifen, daß die Ehefrau nicht die Familie überwiegend unterhalten habe. Die Verfahrensrüge kann jedoch keinen Erfolg haben, weil die Revisionsbegründung insoweit nicht den Erfordernissen entspricht, die § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG an eine ordnungsmäßige Verfahrensrüge stellt. Danach muß die Revisionsbegründung die Tatsachen und Beweismittel bezeichnen, die den Mangel ergeben. Das Vorbringen des Klägers läßt aber nicht auf eine unzureichende Sachaufklärung schließen. Der Kläger hat zwar dargelegt, welche nach der Ansicht des LSG rechtserheblichen Tatsachen nicht richtig aufgeklärt worden seien, er hat aber nicht angegeben, welche Hinweise und Anhaltspunkte das LSG zu weiteren Ermittlungen, insbesondere zur Befragung der Handwerkskammer über die Betriebsverhältnisse, hätten drängen müssen. Einer Darlegung dieser Gründe hätte es aber um so mehr bedurft, als der Inhalt der dem LSG vorliegenden Akten, insbesondere das Vorbringen des Klägers bis zum Abschluß der Berufungsverhandlung, dem LSG schon eine ausreichende Grundlage für die vom Kläger angegriffenen tatsächlichen Feststellungen geboten hat. Nach den Akten, die dem LSG vorlagen, hat der Kläger nicht geltend gemacht, daß er schon 1944 körperlich behindert gewesen sei und deshalb die Ehefrau die Hauptlast des Betriebs habe tragen müssen; in der Klageschrift hat er der Feststellung im Bescheid der Beklagten, daß er den Fleischereibetrieb geleitet habe, nicht widersprochen; die Verteilung der Arbeiten im Betrieb hat er mehrfach geschildert; im Verwaltungsverfahren hat er hierzu angegeben, seine Ehefrau habe den Ein- und Verkauf und die schriftlichen Arbeiten geleitet, er sei in der Fleischerei und im Geschäft tätig gewesen und habe die damit zusammenhängenden Arbeiten erledigt; vor dem LSG hat er laut der Niederschrift über die mündliche Verhandlung ferner erklärt, den Einkauf für die Fleischerei habe er besorgt; hier hat er auch eingeräumt, daß seine Ehefrau keine Prüfungen im Fleischergewerbe abgelegt habe. Das BSG ist deshalb an die tatsächlichen Feststellungen des LSG gebunden, weil zulässige und begründete Revisionsgründe dagegen nicht vorgebracht worden sind (§ 163 SGG).
Da nach diesen Feststellungen schon mangels einer Erwerbsunfähigkeit des Klägers beim Tode seiner Ehefrau ein Anspruch auf Witwerrente entfällt, ist die Revision unbegründet (§§ 124 Abs. 2, 170 Abs. 1, 193 SGG).
Fundstellen