Leitsatz (amtlich)
Die Anrechnung einer Ersatzzeit ohne vorhergehende Versicherungszeiten nach RVO § 1251 Abs 2 S 2 Buchst a setzt voraus, daß für die fristgerecht aufgenommene "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" Beiträge zur RV entrichtet worden sind oder als entrichtet gelten.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 2 S. 2 Buchst. a Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 9. Mai 1961 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin, welche Rente wegen Erwerbsunfähigkeit begehrt, die Jahre 1945 und 1946 nach § 1251 Abs. 1 Nr. 6 und Abs. 2 Satz 2 Buchst. a der Reichsversicherungsordnung (RVO) als Ersatzzeit für die Erfüllung der Wartezeit anzurechnen sind.
Die als Vertriebene anerkannte Klägerin kam im Jahre 1946 mit ihrer Familie aus dem Sudetenland in die Bundesrepublik. Bis dahin war sie nie rentenversicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Im Jahre 1947 fand die Familie ein Unterkommen auf einem Gut im Taunus. Der Ehemann betätigte sich dort als Schmiedemeister; die Klägerin selbst arbeitete 48 bis 50 Stunden wöchentlich in der Gärtnerei des Gutes, außerdem wurde sie zum Brotbacken und gelegentlich zu Haushaltsarbeiten herangezogen. Als Entgelt erhielt sie 45 RM (später 45 DM) monatlich bei freier Verpflegung und Unterkunft.
Von November 1951 an - damals schied ihr Ehemann aus den Diensten des Gutes aus - wurde die Klägerin stundenweise mit 1 DM entlohnt; sie kam dabei auf ein Monatseinkommen von 100 DM im Durchschnitt. Erst von dieser Zeit an wurden für sie Pflichtbeiträge an die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) geleistet. Am 17. Juni 1957 endete ihr Arbeitsverhältnis. Damals waren für sie 54 Monatsbeiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter entrichtet.
Den im Oktober 1957 gestellten Antrag der Klägerin auf Versichertenrente lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 16. Juni 1958 ab, weil die gesetzliche Wartezeit von 60 Versicherungsmonaten nicht erfüllt sei.
Hiergegen hat die Klägerin Aufhebungs- und Leistungsklage erhoben und zu deren Begründung ausgeführt: Die Wartezeit sei erfüllt, weil nach § 1251 Abs. 1 Nr. 6 RVO die Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 als Ersatzzeit anzurechnen sei. Die Voraussetzungen dafür seien gegeben, denn sie sei Vertriebene und habe innerhalb von zwei Jahren nach Beendigung der Ersatzzeit, nämlich im Jahre 1947, eine "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen". Daß damals keine Beiträge geleistet worden seien, habe sie nicht zu vertreten; sie und ihr Arbeitgeber hätten sie auf Grund einer Auskunft des Prüfers der Einzugsstelle nicht für beitragspflichtig gehalten.
Das Sozialgericht (SG) Frankfurt/M. hat den Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. Oktober 1957 an zu zahlen. Das SG hat den Rechtsstandpunkt vertreten, in Abs. 2 Satz 2 Buchst. a des § 1251 RVO werde nur die fristgerechte Aufnahme einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit gefordert, dagegen keine Beitragsleistung.
Auf die Berufung der Beklagten hin hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 9. Mai 1961 die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat unterstellt, daß die Klägerin bereits von April 1947 an eine die Versicherungspflicht in der Rentenversicherung nach sich ziehende Beschäftigung ausgeübt habe. Gleichwohl hat es die Voraussetzungen für die Anrechnung der Ersatzzeit des § 1251 Abs. 1 Nr. 6 RVO nicht als erfüllt angesehen, weil es außer der Beschäftigungsaufnahme innerhalb von zwei Jahren nach dem 31. Dezember 1946 der Leistung mindestens eines Beitrags für diese Zeit bedurft hätte.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Revision rügt eine Verletzung des § 1251 Abs. 2 Satz 2 RVO. Sie meint, es komme nach dem Wortlaut und dem Sinn des Gesetzes nur darauf an, daß innerhalb von zwei Jahren nach Beendigung der Ersatzzeit eine an sich rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen worden sei, nicht aber auch darauf, daß Beiträge entrichtet worden seien. Außerdem hält sie das Ergebnis, zu dem das LSG gekommen ist, für unbillig. Schließlich weist sie darauf hin, daß der angefochtene Bescheid nicht - wie dem Urteil des LSG zu entnehmen sei - das Datum vom 16. Oktober 1958, sondern das vom 16. Juni 1958 trage und daß mit der Klage Rente nicht nur wegen Berufsunfähigkeit sondern wegen Erwerbsunfähigkeit beansprucht werde.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Frankfurt/Main vom 25. November 1959 zurückzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Die Aufhebungsklage ist, worauf die Revision zutreffend hinweist, gegen den Bescheid der Beklagten vom 16. Juni 1958, die mit ihr verbundene Leistungsklage auf Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gerichtet. Soweit die Sachdarstellung im Urteil des LSG hiervon abweicht, beruht sie offensichtlich auf einem Versehen. Dies ändert jedoch nichts daran, daß das LSG die Klage mit Recht mangels Erfüllung der Wartezeit von 60 Versicherungsmonaten (§ 1247 Abs. 3 RVO) abgewiesen hat.
Die Entscheidung hängt, worüber die Beteiligten sich einig sind, allein davon ab, ob der Klägerin für die Erfüllung der Wartezeit die Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 6 RVO angerechnet werden darf, und dies wieder davon, was unter einer "rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung" im Sinne des Abs. 2 Satz 2 Buchst. a dieser Vorschrift zu verstehen ist, vor allem ob es dabei nur auf das Beschäftigt sein oder auch auf die Entrichtung von Beiträgen ankommt. Es kann in Übereinstimmung mit dem LSG und dem Vorbringen der Revision unterstellt werden, daß die Klägerin schon von 1947 an eine Beschäftigung ausgeübt hat, deretwegen sie nach § 1227 RVO rentenversicherungspflichtig gewesen ist, und daß auch kein Sachverhalt vorgelegen hat, der nach §§ 1228 ff RVO eine Ausnahme von der Versicherungspflicht begründet hat. Daraus folgt aber entgegen der Auffassung der Revision noch nicht, daß die Voraussetzungen des § 1251 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a RVO vorlägen. Dies träfe nur dann zu, wenn die Vorschrift nicht mehr verlangte als die Aufnahme einer Beschäftigung, die nach §§ 1227 ff RVO die Versicherungspflicht in der Rentenversicherung begründet. Eine solche Schlußfolgerung ist schon deshalb nicht ohne weiteres angängig, weil gerade die Wortfolge "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" in § 1227 RVO nicht erscheint, mag auch diese Vorschrift von der Vorstellung ausgehen, daß der dort umschriebene Personenkreis eine der Rentenversicherungspflicht unterliegende und deshalb üblicherweise - wenn auch sprachlich angreifbar - als "rentenversicherungspflichtig" bezeichnete Tätigkeit ausübt (BSG 17, 110, 113). Der herkömmlich angenommene Begriffsinhalt zwingt nicht dazu, ihn für das gesamte Recht der Rentenversicherung ausschließlich in diesem Sinne zu verstehen; aus dem konkreten Zusammenhang der Vorschrift, in der er zu finden ist, kann er anders verstanden werden, in den einzelnen Vorschriften (zB § 1233 Abs. 1, § 1248 Abs. 2 und 3, § 1259 Abs. 1 RVO, § 10 Abs. 1, § 25 Abs. 2 und 3, § 28 Abs. 2, § 36 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -) auch unterschiedlich sein. So wird es zB für den Wegfall des an eine Arbeitslosigkeit geknüpften vorzeitigen Altersruhegeldes (§ 1248 Abs. 2 RVO) genügen, daß der Berechtigte eine ihrer Art nach rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aufnimmt, ohne daß es darauf ankommt, ob diese Beschäftigung im konkreten Falle Versicherungspflicht nach sich zieht oder ob Beiträge entrichtet werden. Dagegen ist - nach BSG 16, 284 - beim vorzeitigen Altersruhegeld einer weiblichen Versicherten (§ 1248 Abs. 3 RVO, § 25 Abs. 3 AVG) die Anspruchsvoraussetzungen einer "rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung" von mehr als 10 Jahren nicht erfüllt, wenn es sich um eine Beschäftigung handelt, die nur ihrer Art nach rentenversicherungspflichtig, im konkreten Falle aber versicherungsfrei ist. Schließlich wird in BSG 11, 274, 276 - die Entscheidung betrifft § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG, der die Anrechnung einer Ausfallzeit regelt, wenn im Anschluß an eine Schulausbildung innerhalb von zwei Jahren eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist verlangt, daß nicht nur eine Beschäftigung aufgenommen, sondern dafür auch Beiträge entrichtet worden sind.
Der Begriff der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung im Sinne des § 1251 Abs. 2 Satz 2 RVO muß aus dieser Vorschrift heraus ausgelegt und dabei die Gestaltung der Ersatzzeitenregelung für die Erfüllung der Wartezeit gebührend berücksichtigt werden. Bis zur Zeit nach dem zweiten Weltkrieg durften Ersatzzeiten nur angerechnet werden, wenn bereits vorher eine Versicherung bestanden hatte. Dazu gehörte, daß im Falle der Aufnahme einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung auch Beiträge entrichtet worden waren oder als entrichtet galten. Eine Ausnahme von dieser Regelung sah erstmalig § 4 Abs. 6 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung vom 22. August 1949 zugunsten von Verfolgten vor. Die Neuregelung der Rentenversicherung 1957 geht in Übereinstimmung mit dem bisherigen Recht von dem Grundsatz aus, daß Ersatzzeiten eine Versicherung vorausgehen muß; dies darf aus § 1251 Abs. 2 Satz 1 RVO, insbesondere aus dem Gebrauch des Wortes "nur", gefolgert werden. Sie gestattet jedoch nach § 1251 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a RVO ausnahmsweise die Anrechnung von Ersatzzeiten auch ohne vorhergehende Versicherungszeiten, wenn "innerhalb von zwei Jahren nach Beendigung der Ersatzzeit oder ... eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist". Der Grundgedanke der Vergünstigung für vorher nicht Versicherte ist darin zu sehen, daß angenommen wird, es wäre während der in § 1251 Abs. 1 RVO aufgeführten Zeiten zu einem Eintritt in die Versicherung gekommen, wenn nicht die besonders gekennzeichneten Verhältnisse dies verhindert hätten. Eine solche Annahme ist aber nur dann vertretbar, wenn die Gestaltung der Verhältnisse des Rentenbewerbers innerhalb von zwei Jahren nach Beendigung der "Zwangslage" entsprechende Rückschlüsse zuläßt. Schließt sich zwar eine Beschäftigungszeit, aber keine - durch Beiträge belegte - Versicherungszeit innerhalb von zwei Jahren an die in § 1251 Abs. 1 RVO aufgeführten Zeiten an, so läßt sich die Annahme nicht rechtfertigen, es habe lediglich die "Zwangslage" dem Eintritt in die Versicherung im Wege gestanden. Deshalb ist der Auffassung des LSG zuzustimmen, daß nach dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift nicht nur die fristgerechte Aufnahme einer im konkreten Falle versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit, sondern auch eine Beitragsleistung gefordert werden muß. Es würde dem - gerade durch die Reformgesetzgebung von 1957 wieder belebten - Versicherungsprinzip zuwiderlaufen, wenn Beschäftigungszeiten ohne Beiträge dazu dienen könnten, andere beitragsfreie Zeiten zu anrechenbaren Versicherungszeiten zu machen.
Dieser Auslegung steht der Wortlaut der Vorschrift nicht entscheidend entgegen. Bei der Anrechnung der Ersatzzeiten wird unterschieden zwischen Ersatzzeiten, die sich an eine Versicherungszeit anschließen, und solchen ohne vorhergehende Versicherungszeiten. Ist eine Versicherung vorhergegangen, so ist es für die Anrechnung der Ersatzzeit unerheblich, ob jene Versicherung eine Pflichtversicherung oder eine freiwillige Versicherung war. Ist dagegen keine Versicherung vorhergegangen, so hängt die Anrechenbarkeit der Ersatzzeit davon ab, daß es sich bei der innerhalb von zwei Jahren nach ihrer Beendigung eingegangenen Versicherung um eine Pflichtversicherung handelt. Vergegenwärtigt man sich dies, so wird es verständlich, daß der Gesetzgeber, um den Unterschied zwischen einer Versicherung schlechthin und einer Pflichtversicherung deutlich hervortreten zu lassen, den Ausdruck "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung" gewählt hat, ohne zugleich das dem Versicherungsprinzip entsprechende und insofern selbstverständliche Erfordernis der Beitragsleistung ausdrücklich zu normieren. Weil es auf den Eintritt in eine Pflichtversicherung ankam, konnte der Gesetzgeber auch nicht einfach den Hinzutritt einer "Beitragszeit" innerhalb von zwei Jahren als weitere Voraussetzung für die Anrechenbarkeit der Ersatzzeiten ohne vorhergegangene Versicherung fordern. Wenn auch nicht zu verkennen ist, daß es möglich gewesen wäre, die der Auffassung des Senats entsprechende Bedeutung des Begriffs der "rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung" im Sinne des § 1251 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a RVO klarer zum Ausdruck zu bringen, so schließt jedenfalls der Wortlaut des Gesetzes die vom LSG vorgenommene und von dem erkennenden Senat als zutreffend angesehene Auslegung nicht aus.
Für die in dieser Entscheidung vertretene Auffassung läßt sich auch noch anführen, daß es zu erheblichen Schwierigkeiten in der Praxis führen würde, wenn man Ersatzzeiten ohne Beitragsleistung, also allein auf Grund der Aufnahme einer an sich rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung innerhalb der Zweijahresfrist, anrechnen wollte. Die Versicherungsträger wären beim Fehlen von Beiträgen vielfach zu sehr langwierigen Ermittlungen über die Art des Beschäftigungsverhältnisses gezwungen, die u. U. weit in die Vergangenheit zurückreichen müßten.
Die Auffassung des Senats wird im Schrifttum geteilt von Jantz-Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, § 1251 RVO Anm. I S. 92 und Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band III S. 674 a (vgl. auch BSG 16, 284 zu § 25 Abs. 3 AVG; aA Gurgel, SGb 1962, 411).
Da hiernach der Klägerin die Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 nicht als Ersatzzeit angerechnet werden kann, ist die Wartezeit nicht erfüllt und somit kein Anspruch auf Versichertenrente gegeben. Das LSG hat daher die Klage mit Recht abgewiesen. Die Revision der Klägerin muß als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen