Leitsatz (amtlich)
Begehrt der Versicherte anstelle einer ihm bewilligten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit deren zeitlich unbegrenzte Gewährung, so ist davon auszugehen, daß er im Zeitpunkt des Rentenbeginns erwerbsunfähig gewesen ist, und lediglich zu prüfen bleibt, ob spätestens bei Erteilung des Rentenbescheides begründete Aussicht auf Behebung der Erwerbsunfähigkeit bestanden hat.
Normenkette
RVO § 1247 Abs 1 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs 2 Fassung: 1957-02-23, § 1276 Abs 1 Fassung: 1957-02-23, § 1276 Abs 2 Fassung: 1957-02-23, § 1276 Abs 3 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 21.01.1980; Aktenzeichen L 9 J 1560/79-2) |
SG Mannheim (Entscheidung vom 26.04.1979; Aktenzeichen S 3 J 234/77) |
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch auf zeitlich unbefristete Gewährung einer Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit oder Berufsunfähigkeit.
Der im Jahre 1937 geborene Kläger ist spanischer Staatsangehöriger. Er war in der Bundesrepublik Deutschland als ungelernter Arbeiter versicherungspflichtig beschäftigt. Im Oktober 1973 erlitt er einen Herzinfarkt. Im Jahre 1975 mußte er sich einer Herzoperation unterziehen.
Mit Bescheid vom 25. September 1975 bewilligte ihm die Beklagte für den Zeitraum vom 1. Mai 1975 bis 30. Juni 1976 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit. Auf den Antrag vom 28. Juni 1976 gewährte sie diese Rente durch Bescheid vom 28. Januar 1977 weiter bis zum 31. Oktober 1976.
Mit der deswegen erhobenen Klage hat der Kläger die Gewährung einer zeitlich unbefristeten Rente begehrt. Das Sozialgericht (SG) Mannheim hat nach weiterer Sachaufklärung die Klage abgewiesen (Urteil vom 26. April 1979). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 21. Januar 1980). Zur Begründung hat es ausgeführt:
Nach dem vom SG eingeholten internistischen Gutachten vom 19. Oktober 1977 sei der Kläger seit Oktober 1975 und damit auch zum Zeitpunkt des Ablaufs seiner Rente am 1. November 1976 gesundheitlich wieder in der Lage, leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten. Durch die in dem Gutachten aufgeführten Einschränkungen sei ihm der Arbeitsmarkt nicht praktisch verschlossen. Diese Einschränkungen könnten entgegen der Ansicht des vom SG beauftragten Sachverständigen Dr R nicht einfach addiert und nach dem Zahlenergebnis beurteilt werden, weil eine Vielzahl dieser Einschränkungen sich dem Begriff der leichten Arbeit unterordnen ließen und unter diesem Gesichtspunkt (teil-)identisch seien. Das treffe insoweit zu, als der Kläger keine Lasten von 10 kg und mehr heben und tragen, nicht häufig Treppen steigen, keine Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, keine Akkordarbeiten und keine Nachtarbeiten verrichten dürfe. Diese Tätigkeiten schieden schon vom Begriff her aus, weil der Kläger nur noch leichte Arbeiten verrichten könne. Zahlreiche weitere Tätigkeiten bildeten zur Masse der übrigen vorkommenden Arbeiten wenn nicht die Ausnahme, so doch einen deren Massenhaftigkeit nicht in Frage stellenden Anteil. Das gelte für Arbeiten unter Einwirkung von Kälte, Staub, Gasen und Dämpfen, am Fließband und in Schicht sowie für alle diejenigen Tätigkeiten, die in dem Gutachten unter Berücksichtigung der psychischen und geistigen Lage des Klägers als ungeeignet bezeichnet worden seien. Soweit im Gutachten Arbeiten, die überwiegend im Sitzen zu verrichten seien, für möglich gehalten würden, würden damit zugleich Arbeiten in gleichförmiger Körperhaltung und mit langem Gehen außer Betracht gestellt. Im Hinblick auf die Häufigkeit entsprechender Arbeitsplätze bleibe demnach lediglich die Frage relevant, ob es in ausreichender Zahl leichte Tätigkeiten gebe, die abwechselnd im überwiegenden Sitzen und im Stehen ausgeübt werden könnten. Nach seinem (des LSG) Wissen seien solche Arbeitsplätze in der Industrie in nicht unerheblichem Maße vorhanden.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Im Gutachten des Sachverständigen Dr R vom 30. Oktober 1978 sei festgestellt worden, daß er (Kläger) nur noch weniger als 4 Stunden täglich arbeiten könne. Zu Unrecht habe das LSG dieses Gutachten als ungeeignet zur Begründung von Zweifeln an dem internistischen Gutachten vom 19. Oktober 1977 angesehen. Der Sachverständige Dr R habe seine Feststellung nicht nur mit der fehlenden Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes begründet. Vielmehr beziehe sich seine Aussage über die zumutbare Arbeitsdauer ausschließlich auf seine (Klägers) körperliche Leistungsfähigkeit. Das Urteil des LSG sei auch deswegen fehlerhaft, weil angesichts der vielfältigen Einschränkungen seiner (Klägers) körperlichen Leistungsfähigkeit das Vorhandensein von Arbeitsplätzen nicht offensichtlich sei und daher in Betracht kommende Tätigkeiten hätten genannt werden müssen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
unter Abänderung der Urteile des Sozialgerichts
Mannheim vom 26. April 1979 und des
Landessozialgerichts Baden-Württemberg
vom 21. Januar 1980 sowie des Bescheides
vom 28. Januar 1977 die Beklagte zu verurteilen,
ihm über den 31. Oktober 1976 hinaus Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit zu zahlen.
Die Beklagte hat einen Sachantrag nicht gestellt. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision des Klägers ist zulässig und im Sinne einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Vorinstanz begründet.
Das angefochtene Urteil kann keinen Bestand haben. Das Berufungsgericht hat den Streitgegenstand verkannt und deswegen unter Heranziehung unzutreffender Rechtsgrundlagen und unter Überschreitung des Umfanges seiner Entscheidungsbefugnis die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Mit seiner kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) hat sich der Kläger gegen den Bescheid der Beklagten vom 28. Januar 1977 gewandt und die Gewährung einer zeitlich unbefristeten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit begehrt. Demgegenüber hat ihm die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid lediglich eine bis zum 31. Oktober 1976 befristete Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit bewilligt. Rechtsgrundlage für die zeitlich begrenzte Bewilligung einer Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit ist § 1276 Abs 1 und 3 RVO. Die Vorinstanzen hätten daher das Klagebegehren auf der Grundlage dieser Vorschrift prüfen müssen.
Nach § 1276 Abs 1 und 3 RVO in der hier noch maßgebenden Fassung des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) vom 23. Februar 1957 (BGBl I S 45) - die Neufassung durch Art 2 § 1 Nr 21 des Zwanzigsten Rentenanpassungsgesetzes (20. RAG) vom 27. Juni 1977 (BGBl I S 1040) gilt erst seit dem 1. Juli 1977 (Art 3 § 6 des 20. RAG) - ist dann, wenn begründete Aussicht besteht, daß die Berufsunfähigkeit oder die Erwerbsunfähigkeit in absehbarer Zeit behoben sein wird, die Rente wegen Berufsunfähigkeit oder wegen Erwerbsunfähigkeit vom Beginn der 27. Woche an, jedoch nur auf Zeit und längstens für zwei Jahre von der Bewilligung an zu gewähren (§ 1276 Abs 1 RVO). Die Rente auf Zeit kann wiederholt gewährt werden, jedoch nicht über die Dauer von vier Jahren seit dem ersten Rentenbeginn hinaus, wenn sich die Bezugszeiten unmittelbar anschließen (§ 1276 Abs 3 RVO). Die Gewährung einer Zeitrente ist demnach primär von zwei Voraussetzungen abhängig. Einmal muß der Versicherte berufs- oder erwerbsunfähig sein. Zum anderen muß begründete Aussicht bestehen, daß die Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit in absehbarer Zeit behoben sein wird.
Im vorliegenden Rechtsstreit ist allein über letztere Voraussetzung zu befinden. Hingegen haben die Vorinstanzen zu Unrecht darüber entschieden, ob der Kläger berufsunfähig oder erwerbsunfähig ist. Hierüber herrscht unter den Beteiligten kein Streit.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist auch bei der Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit oder wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit der Versicherungsfall allein der Eintritt der Berufsunfähigkeit bzw Erwerbsunfähigkeit. Die begründete Aussicht, daß diese Einschränkung der Erwerbsfähigkeit in absehbarer Zeit behoben sein werde, hat mit dem Versicherungsfall als solchem nichts zu tun und ist von Bedeutung lediglich für die Dauer des sich daraus ergebenden Anspruchs (BSGE 22, 278, 280 ff = SozR Nr 2 zu § 1276 RVO; BSG SozR Nr 3 zu § 1276 RVO; vgl auch BSG SozR 2200 § 580 Nr 1 S 3; § 1247 Nr 16 S 28; § 1277 Nr 2 S 2). Demgemäß enthält der angefochtene Bescheid vom 28. Januar 1977 mehrere der Bindung nach § 77 SGG fähige Verfügungssätze. Zunächst hat die Beklagte dem Kläger auch für die Zeit nach dem 30. Juni 1976 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bewilligt. Sodann hat sie die Bezugsdauer der bewilligten Rente auf die Zeit bis zum 31. Oktober 1976 begrenzt und hierdurch auf der Grundlage des dafür maßgeblichen § 1276 Abs 1 RVO die den Kläger belastende Entscheidung getroffen, daß begründete Aussicht auf Behebung seiner Erwerbsunfähigkeit bis zu diesem Zeitpunkt bestehe. Bezüglich der Rechtmäßigkeit des ersten Verfügungssatzes herrscht unter den Beteiligten kein Streit. Die Beklagte selbst ist davon ausgegangen, daß der Kläger über den 30. Juni 1976 hinaus erwerbsunfähig ist. Der Kläger seinerseits hat insoweit keine Einwendungen erhoben. Bei verständiger Würdigung seines Vorbringens und Begehrens wendet er sich - schon mangels einer insoweit gegebenen Beschwer - nicht dagegen, daß die Beklagte das Fortbestehen von Erwerbsunfähigkeit über den 30. Juni 1976 hinaus anerkannt hat. Dies hätten auch die Vorinstanzen beachten müssen. Hierdurch ist ihnen eine Entscheidung darüber, ob der Kläger über den 30. Juni 1976 hinaus erwerbsunfähig gewesen sei, verwehrt gewesen. Hiervon ist vielmehr bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides auszugehen und demgemäß diese Prüfung auf die unter den Beteiligten allein streitige Frage zu beschränken, ob begründete Aussicht auf Behebung der vorhandenen Erwerbsunfähigkeit bis zum 31. Oktober 1976 besteht bzw bestanden hat.
Bei der Entscheidung hierüber ist zu berücksichtigen, daß § 1276 Abs 1 RVO an sich eine Prognose über die vermutliche Dauer der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit erfordert (BSGE 22, 278, 283 = SozR Nr 2 zu § 1276 RVO; BSGE 25, 133, 135 = SozR Nr 10 zu § 1286 RVO). Dies schließt jedoch nicht aus, daß - wie im vorliegenden Fall - eine Versichertenrente auf Zeit auch für einen im Zeitpunkt der Bewilligung ausschließlich in der Vergangenheit liegenden Zeitraum gewährt wird (BSGE 27, 52 = SozR Nr 6 zu § 1276 RVO; BSG SozR Nr 7 zu § 1276 RVO). Dem Versicherungsträger ist es in diesem Falle nicht verwehrt, alle bis zum Zeitpunkt der Rentenbewilligung eingetretenen Umstände zu berücksichtigen mit der Folge, daß sich bis dahin die nach § 1276 Abs 1 RVO erforderliche "Aussicht" auf Behebung der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zur "Gewißheit" verdichtet haben kann (BSGE 27, 52, 53 = SozR Nr 6 zu § 1276 RVO). Andererseits aber ist der Zeitpunkt der Erteilung des Bescheides auch für die Beurteilung von dessen Rechtmäßigkeit in einem nachfolgenden Streitverfahren maßgebend. Das Gericht hat die Vorausschau auf den Zeitpunkt der Bescheiderteilung zurückzuverlegen (BSG SozR 2200 § 1247 Nr 16 S 27) und darf nach diesem Zeitpunkt eingetretene Umstände wie insbesondere eine spätere Behebung der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit nicht berücksichtigen (BSG SozR Nr 7 zu § 1276 RVO S Aa 7).
Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt somit von der Frage ab, ob im Zeitpunkt der Erteilung des angefochtenen Bescheides vom 28. Januar 1977 die - möglicherweise zur Gewißheit erstarkte - begründete Aussicht bestanden hat, daß die von der Beklagten auch für die Zeit ab 1. Juli 1976 anerkannte Erwerbsunfähigkeit des Klägers bis zum 31. Oktober 1976 behoben sein werde. Der Senat kann diese Frage nicht entscheiden.
Die vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen reichen hierfür nicht aus. Das LSG hat sich im wesentlichen auf die Feststellung beschränkt, der Kläger sei seit Oktober 1975 und "also auch zum Zeitpunkt des Ablaufs seiner Rente auf Zeit am 1. November 1976" wieder zur vollschichtigen Verrichtung leichter Arbeiten in der Lage. Das ist aus obigen Gründen unerheblich und läßt insbesondere außer Betracht, daß die Beklagte im Bescheid vom 28. Januar 1977 Erwerbsunfähigkeit des Klägers auch noch in der Zeit nach Oktober 1975 anerkannt hat. Hiervon hat das LSG bei seiner erneuten Entscheidung auszugehen und auf dieser Grundlage festzustellen und zu entscheiden, ob im Zeitpunkt der Erteilung des Bescheides begründete Aussicht auf Behebung der anerkannten Erwerbsunfähigkeit bestanden hat.
Der Rechtsstreit ist nach alledem an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Dieses wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen