Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitsunfähigkeit. Erwerbsunfähigkeit

 

Leitsatz (redaktionell)

Arbeitsunfähigkeit - Erwerbsunfähigkeit:

Der Beschädigte ist während der Zeit, in der er wegen Schädigungsfolgen arbeitsunfähig iS der KV ist, nicht zwangsläufig auch erwerbsunfähig iS der KOV, dh, um nicht mehr als 90 % erwerbsgemindert (ständige Rechtsprechung des BSG).

 

Normenkette

BVG § 31 Abs. 3 Fassung: 1960-06-27, § 30 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1971-12-16; RVO § 182 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Fassung: 1967-12-21

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. Februar 1975 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der Kläger bezog ab 1950 Beschädigtenrente entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 v. H. wegen verschiedener Schädigungsfolgen am linken Bein (Bescheide vom 20. Januar 1953 und vom 10. Dezember 1958). Im Februar 1970 beantragte er eine Neufeststellung wegen einer Verschlimmerung der Schädigungsfolgen. Nach Ablehnung des Antrages (Bescheid vom 17. Februar 1971) bewertete das Versorgungsamt in einem Abänderungsbescheid vom 28. Februar 1972 die MdE mit 70 v. H. für die Zeiten vom 24. Juli 1970 bis 18. Oktober 1970, 2. April 1971 bis 19. Juli 1971 und 17. bis 31. Dezember 1971, weil die Schädigungsfolgen jeweils Arbeitsunfähigkeit bedingt hätten; ab 1. Januar 1972 müßte der Kläger wegen der anerkannten Schädigungsfolgen mindestens 6 Monate lang arbeitsunfähig sein, was nicht der Fall gewesen sei. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen (Bescheid vom 10. März 1972). Während des Gerichtsverfahrens bezeichnete das Versorgungsamt aufgrund eines ärztlichen Gutachtens in einem Abänderungsbescheid vom 20. September 1973 die Schädigungsfolgen neu, beließ es bei der MdE von 70 v. H. für die vorübergehenden Zeiten und stellte im übrigen ab 1. Februar 1970 die MdE auf 60 v. H. fest. Außerdem gewährte der Beklagte dem Kläger durch Teilanerkenntnis Rente nach einer MdE um 70 v. H. für die Zeit vom 1. Februar bis 30. April 1970. Das Sozialgericht (SG) verurteilte den Beklagten, dem Kläger für die Zeiten vom 1. Februar 1970 bis 30. April 1970, 1. Juli 1970 bis 31. Oktober 1970, 1. April 1971 bis 31. Juli 1971 und 1. bis 31. Dezember 1971 Rente nach einer MdE um 100 v. H. zu gewähren; in diesen Zeiten sei er als Handelsvertreter arbeitsunfähig gewesen (Urteil vom 20. Mai 1974). Auf die - zugelassene-Berufung hob das Landessozialgericht (LSG) das Urteil auf und wies die Klage ab (Urteil vom 18. Februar 1975): Entgegen der Ansicht des SG, die sich auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. Februar 1972 (SozR Nr. 54 zu § 30 BVG = Breithaupt 1972, 775) stütze, sei beim Kläger in den Zeiten, in denen er wegen der Schädigungsfolgen arbeitsunfähig im Sinne der Krankenversicherung gewesen sei, die MdE nicht mit 100 v. H. zu bewerten. Die Begriffe der Erwerbsunfähigkeit als höchstem Grad der MdE im versorgungsrechtlichen Sinn und der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung seien nicht deckungsgleich.

Der Kläger hat die - zugelassene - Revision eingelegt, er hält das Urteil des SG für zutreffend und begründet dies ergänzend.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG als unbegründet zurückzuweisen.

Der Beklagte und der Vertreter der zum Verfahren beigeladenen Bundesrepublik Deutschland beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie treten der Auffassung des LSG bei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist insoweit erfolgreich, als der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Der Beklagte hat dem Kläger für die Zeiten, in denen dieser wegen der Schädigungsfolgen arbeitsunfähig im Sinne der Krankenversicherung (§ 182 Abs. 1 Nr. 2 Reichsversicherungsordnung - RVO -) war, durch den angefochtenen Neufeststellungsbescheid (§ 62 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz - BVG -), der während des Vorverfahrens ergangen ist (§ 86 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), und durch Teilanerkenntnis (§ 101 Abs. 2 SGG) während des Rechtsstreits Rente nach einer MdE um 70 v. H. gegenüber dem vorhergehenden MdE-Grad um 50 v. H. gewährt, außerdem durch den weiteren Abänderungsbescheid, der nach § 96 SGG in das Gerichtsverfahren einbezogen ist, aber vom Kläger nicht angefochten wird, für die gesamte übrige Zeit ab Februar 1970 Rente nach einer MdE um 60 v. H. Streitig ist allein die Rentenhöhe für die einzelnen Zeitabschnitte der Arbeitsunfähigkeit im krankenversicherungsrechtlichen Sinn. Das LSG ist der Rechtsauffassung des SG, das darüber hinaus dem Kläger für diese Zeiten wegen der schädigungsbedingten Arbeitsunfähigkeit Rente entsprechend der Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 30 Abs. 1 i. V. m. § 31 Abs. 3 BVG zuerkannt hat, zutreffend entgegengetreten. Allerdings fehlen in dem angefochtenen Urteil die notwendigen Tatsachenfeststellungen für eine endgültige Entscheidung darüber, wie der MdE-Grad nach anderen, rechtmäßigen Maßstäben für die vorübergehenden Zeiten zu bemessen ist. Auch den angefochtenen Bescheiden ist keine ausreichende tatsächliche Begründung dafür zu entnehmen, warum die MdE jeweils während der Arbeitsunfähigkeit nicht höher als mit 70 v. H. zu bewerten ist. Im Widerspruchsbescheid vom 10. März 1972 wird zur Begründung für eine MdE um 70 v. H. lediglich angegeben, daß der Kläger in den bezeichneten Zeiten der Arbeitsunfähigkeit das linke Bein nicht habe belasten können. Dies reicht für die Beurteilung der MdE nicht aus. Da die erforderlichen Tatsachen noch nicht festgestellt sind und nicht vom Revisionsgericht ermittelt werden können (BSG SozR Nr. 9 zu § 163 SGG), muß das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG; BSG SozR Nr. 6 zu § 163 SGG).

Der Beschädigte ist während der Zeit, in der er wegen Schädigungsfolgen arbeitsunfähig im Sinne der Krankenversicherung ist, nicht zwangsläufig auch erwerbsunfähig im Sinne der Kriegsopferversorgung, d. h. um mehr als 90 v. H. erwerbsgemindert. Die entgegenstehende Rechtsprechung des BSG im Urteil vom 10. Februar 1972, auf die das SG seine Entscheidung gestützt hat, hat der erkennende Senat nachträglich durch Urteil vom 4. Februar 1976 - 9 RV 136/75 - (SozR 3100 § 30 Nr. 13) aufgegeben. Dem hat sich der andere für Kriegsopfersachen zuständige Senat des BSG angeschlossen (Urteil vom 10. März 1976 - 10 RV 141/75). Die Begriffe der Erwerbsunfähigkeit und der Arbeitsunfähigkeit in dem hier zu erörternden Sinn sind nicht deckungsgleich; mit ihnen werden unterschiedliche Bedürfnisse berücksichtigt. Zwar setzt sowohl die Arbeitsunfähigkeit als die MdE, die - in Vomhundertsätzen abgestuft -, bis zur Erwerbsunfähigkeit reichen kann, eine Leistungseinbuße in bezug auf die Erwerbsfähigkeit voraus; dies folgt für die MdE nicht allein aus dem Begriff, sondern wird auch durch § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG in der seit dem 3. Gesetz über die Anpassung der Leistungen des BVG - 3. AnpG - KOV - vom 16. Dezember 1971 (BGBl I 1985) - geltenden Fassung verdeutlicht. Gleichwohl sind die maßgebenden Tätigkeitsfelder, auf die sich die Leistungseinbußen beziehen, verschiedenartig. Arbeitsunfähig ist derjenige, der seine zuletzt verrichtete Erwerbstätigkeit oder eine ähnlich geartete gar nicht mehr oder nur mit einer Verschlimmerungsgefahr ausüben kann (BSG 26, 288, 290, 292 = SozR Nr. 25 zu § 182 RVO). Dagegen wird die MdE nach der Beeinträchtigung der Arbeits- und Entfaltungsmöglichkeit im Erwerbsleben überhaupt bemessen, zudem in summarisch-pauschalierender Bewertung (BSG 33, 151, 154 = SozR Nr. 49 zu § 30 BVG). Außerdem wird der Grad der MdE kraft herkömmlicher Betrachtungsweise sowohl durch das Ausmaß der Schädigung in der körperlichen und geistigen Unversehrtheit als auch nach einem durch die Schädigungsfolgen verursachten Mehraufwand bestimmt (BSG 33, 151, 153 = SozR Nr. 49 zu § 30 BVG). Schließlich sind die Rechtsfolgen unterschiedlich, und das wirkt auf die verschiedenartigen Anspruchsvoraussetzungen zurück. Die Beschädigtenrente und dementsprechend die MdE, ihr Bemessungsmaßstab, sind nicht von einem konkreten Verdienstausfall abhängig und werden durch gegenwärtige Arbeitseinkünfte nicht geschmälert (BSG 30, 21, 25 = SozR Nr. 39 zu § 30 BVG; BSG 33, 112, 117 = SozR Nr. 43 zu § 62 BVG; SozR Nr. 54 zu § 30 BVG). Dagegen wird das wegen Arbeitsunfähigkeit zu zahlende Krankengeld nach dem entgangenen Arbeitsentgelt bemessen (§ 182 Absätze 4 ff RVO). Gegenüber diesen verschiedenartigen Bewertungsfaktoren steht und stand vor allem in der Vergangenheit, um die es hier geht, der Unterschied in der Dauer der Leistungen und der vorauszusetzenden Zustände - Arbeitsunfähigkeit bei vorübergehender Beeinträchtigung und Krankengeldzahlung für jeden Tag, MdE bei länger andauernder Einbuße (BSG 33, 116 f) - als Unterscheidungsmerkmal, das im übrigen nicht klar abgrenzbar ist, nicht definitionsmäßig im Vordergrund (vgl. § 183 Absätze 3 ff RVO, § 30 Abs. 1 BVG in der vor dem 3. AnpG - KOV geltenden Fassung i. V. m. § 62 Abs. 1 und 2 in der Auslegung durch BSG 33, 112; abweichend: § 30 Abs. 1 Sätze 3 und 4 BVG in der Fassung des 3. AnpG - KOV). Die Abgrenzung der Erwerbsunfähigkeit im Sinne der Rentenversicherung (§ 1247 Abs. 2 RVO) von der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung unter dem speziell sozialversicherungsrechtlichen Gesichtspunkt des § 580 Abs. 1 RVO, worauf der Beklagte hinweist (vgl. BSG SozR 2200 § 580 Nr. 1 = Breithaupt 1975, 475), paßt in keiner Weise zu dem Unterschied zwischen Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 31 Abs. 3 BVG und der Arbeitsunfähigkeit.

Das LSG hat nunmehr unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Beurteilungsmaßstäbe die Tatsachen, die für die MdE maßgeblich sind, aufzuklären und bei der Kontrolle der Verwaltungsentscheidungen zu würdigen. Ob die Gerichte die MdE als einen unbestimmten Rechtsbegriff ohne einen der Verwaltung vorbehaltenen Beurteilungsspielraum festzulegen haben oder ob sie nur eine Ermessensausübung durch die Verwaltung begrenzt kontrollieren dürfen, braucht hier nicht entschieden zu werden. Im einzelnen ist zu bewerten, wie sich die Verschlimmerung der Schädigungsfolgen während der Zeiten der Arbeitsunfähigkeit auf die allgemeine Erwerbsfähigkeit, die Versehrtheit und einen Mehraufwand auswirkte. Ein wichtiger Anhalt für eine systemgerechte und einheitliche Einstufung sind die Vomhundertsätze, die für einzelne Schädigungsfolgen gemäß § 30 Abs 1 Satz 3 BVG in der Fassung vor dem 3. AnpG - KOV (Satz 6 in der jetzt geltenden Fassung) festgesetzt sind; sie haben Rechtsnormcharakter (BSG 29, 41 = SozR Nr. 35 zu § 30 BVG; BSG vom 6. Mai 1969 - 9 RV 700/68 -, Sozialgerichtsbarkeit 1969, 428). Für den Regelfall wird auf eine gewisse Dauer ein durchschnittlicher Grad der MdE festzusetzen sein, bei dem vorübergehende Schwankungen im Zustand mit zu beachten sind (Anhaltspunkte für die Ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Ausgabe 1973, Nr. 14, Abs. 4; Rundschreiben des BMA vom 3. November 1961, Bundesversorgungsblatt 1961, 163, Nr. 94).

Bei der endgültigen Bemessung der MdE ist auch zu prüfen, ob und in welchem Umfang der Kläger in den Zeiten der Arbeitsunfähigkeit durch die Schädigungsfolgen besonders beruflich betroffen war (§ 30 Abs. 2 BVG). Die nach § 30 Abs. 1 und 2 BVG zu bewertende MdE ist eine Einheit (BSG 22, 82, 83 = SozR Nr. 15 zu § 35 BVG). Nach dem Vorbehalt im Bescheid vom 20. September 1973 und nach der übereinstimmenden Erklärung der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vom 20. Mai 1974 vor dem SG soll noch nicht in diesem Verfahren über ein besonderes berufliches Betroffensein entschieden werden. Allerdings hat sich der Kläger vorbehalten, seinen Anspruch für die Zeit vor dem 1. Januar 1972 auch auf § 30 Abs. 2 BVG zu stützen. Die Einbeziehung dieses Bewertungsfaktors in den vorliegenden Rechtsstreit wäre auch prozeßwirtschaftlich.

Außerdem ist noch über den auf eine Verschlimmerung gestützten Antrag auf Neufeststellung vom 29. November/4. Dezember 1973 zu befinden.

Das LSG hat auch über die Erstattung der Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649208

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