Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Mai 1966 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Betriebskrankenkasse (BKK) verpflichtet ist, dem klagenden Sozialhilfeträger die Kosten zu erstatten, die durch die Unterbringung der Ehefrau eines Mitglieds der Beklagten im Rheinischen Landeskrankenhaus Süchteln zur Durchführung einer Alkoholentziehungsbehandlung in Höhe von 770,– DM entstanden sind.
Am 2. Oktober 1962 beantragte das Ordnungsamt der Stadt Duisburg bei dem Amtsgericht (AG) Duisburg, die Ehefrau Wilma G. (G.) wegen Alkoholismus in einer geschlossenen Anstalt unterzubringen, weil nach einem Attest des behandelnden Nervenarztes Dr. E. Frau G. seit Monaten übermäßig Alkohol getrunken und sowohl ihr Kind als auch ihren Haushalt vernachlässigt habe und eine ambulant durchgeführte Exhorran-Kur keine Wirkung gezeigt habe. Durch Beschluß vom 3. Oktober 1962 ordnete das AG Duisburg die einstweilige Unterbringung von Frau G. für die Dauer von sechs Wochen gemäß § 2 des Gesetzes über die Unterbringung geisteskranker, geistesschwacher und suchtkranker Personen des Landes Nordrhein-Westfalen vom 16. Oktober 1956 (GVBL S. 300 – UnterbringungsG NRW –) an. Der bei dem Landeskrankenhaus tätige Landesmedizinalrat Dr. L. führte in dem für das AG am 25. Oktober 1962 erstatteten Gutachten aus, der Alkoholabusus habe bei Frau G. bereits zu einer deutlich faßbaren Leberschädigung geführt. Auch in psychischer Hinsicht sei sie noch in keiner Weise gefestigt und würde außerhalb der Anstalt alsbald wieder rückfällig werden. Im Interesse der Kranken, ihrer Familie und der öffentlichen Sicherheit und Ordnung könne auf eine längere Entziehungskur nicht verzichtet werden.
Aufgrund dieses Gutachtens ordnete das AG durch Beschluß vom 8. November 1962 die Fortdauer der Unterbringung an. Nach einer Beurlaubung am 19. Dezember 1962 kehrte Frau G. nicht mehr in das Landeskrankenhaus zurück. Dr. L. und der Amtsarzt der Stadt Duisburg äußerten gegen die Einstellung des Unterbringungsverfahrens keine Bedenken, hielten jedoch eine weitere Behandlung durch den Nervenarzt Dr. E. und eine Betreuung durch die Trinkerfürsorge für erforderlich.
Der klagende Landschaftsverband als Sozialhilfeträger trug die Krankenhauspflegekosten für Frau G. in Höhe von 770,– DM. Seine Aufforderung, ihm diese Kosten zu erstatten, lehnte die beklagte BKK ab, weil es sich um einen Suchtfall und nicht um eine Krankheit im Sinne der Reichsversicherungsordnung (RVO) gehandelt habe. Hierfür berief sie sich auf eine Äußerung des Obervertrauensarztes Dr. K., der zu der Beurteilung gelangt war, Frau G. leide weder an psychischen Störungen noch an behandlungsbedürftigen Körperschäden.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage auf Kostenerstattung abgewiesen. Dagegen hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, an den Kläger 770,– DM zu zahlen. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, der Anspruch des Klägers sei aus den §§ 1531, 184, 205 RVO begründet. Frau G. habe ein Anspruch auf Krankenhauspflege gegen die Beklagte im Rahmen der Familienhilfe zugestanden. Zwar stelle die einfache Trunksucht für sich allein noch keine Krankheit im Sinne des 2. Buches der RVO dar, sie sei aber als Krankheit anzusehen, wenn sie so weit fortgeschritten sei, daß sie durch krankhafte Veränderungen innerer Organe und eine Schwächung des Nervensystems oder durch eine krankhafte Willensschwäche gegenüber der Neigung zum Alkoholgenuß, durch krankhafte Reizbarkeit und sonstigen Erscheinungen von Nervenschwäche gekennzeichnet sei.
Frau G. habe unter einer solchen Trunksucht erheblichen Grades gelitten, weil ihr Zustand bereits chronisch gewesen sei und zu einer deutlich faßbaren Leberschädigung geführt habe. Diese ergebe sich eindeutig aus den Gutachten der Ärzte des Landeskrankenhauses Süchteln vom 25. Oktober 1962 und 30. Juli 1963 die durch die nicht näher begründete Äußerung des Obervertrauensarztes vom 25. Oktober 1962 nicht hätte entkräftet werden können. Die Art der Erkrankung habe eine stationäre Behandlung erfordert, da sie in Anbetracht der Willensschwäche der Patientin und ihrer Haltlosigkeit gegenüber dem Alkohol nur auf diese Weise habe geheilt werden können. Die Notwendigkeit der stationären Heilbehandlung werde zudem durch die Erfolglosigkeit der zuvor ambulant durchgeführten Exhorran-Kur bestätigt. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Sie führt aus, das LSG habe verkannt, daß nicht die Trunksucht als solche, selbst wenn sie krankhafte Veränderungen im Gefolge habe, sondern ausschließlich die Folge- oder Begleiterkrankungen der Trunksucht einen Leistungsanspruch gegenüber der Krankenkasse auslösen könnten. Dementsprechend hätten die Krankenkassen Kosten einer stationären Behandlung nur dann zu tragen, wenn die Folge- bzw. Begleiterkrankungen nicht ambulant behandelt werden könnten.
Bei Frau G. hätten derartige krankenhauspflegebedürftige Folge- oder Begleiterkrankungen nicht vorgelegen. Soweit die tatsächlichen Feststellungen des LSG dem entgegenstünden, beruhten sie auf einer mangelhaften Aufklärung des Sachverhalts. Bereits in dem Gutachten des Dr. Sch. vom 30. Juli 1963 werde erklärt, die Aufnahme von Frau G. sei nach dem Unterbringungsgesetz NRW wegen zunehmender Leberschädigung und zur Durchführung einer Entziehungsbehandlung erfolgt. Bei Frau G. sei es im Gefolge der Trunksucht zu einer Leberschädigung gekommen, die nach den erhobenen Befunden wohl ärztlicher Behandlung bedurft habe, derentwegen allein jedoch eine stationäre Behandlung nicht notwendig gewesen sei. Sowohl aus dem Gutachten des Dr. L. vom 25. Oktober 1962 als auch aus dem Attest des Dr. E. gehe nichts Gegenteiliges hervor. Wenn das LSG demgegenüber von krankenhauspflegebedürftigen körperlichen Folge- oder Begleiterkrankungen habe ausgehen wollen, dann hätte es die entgegenstehende Begutachtung des Obervertrauensarztes nicht einfach übergehen dürfen, sondern weitere Ermittlungen anstellen müssen, wenn es nicht selbst die nötige Sachkunde besessen hätte; dies hätte aber dargelegt werden müssen. Aus den verwendeten Gutachten gehe hervor, daß keine krankenhauspflegebedürftigen Folge- oder Begleiterkrankungen vorgelegen hätten. Da das LSG zudem behandlungsbedürftige psychische Folge- oder Begleiterkrankungen ausdrücklich nicht zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht habe, sei entweder der rechtliche Schluß auf das Vorliegen einer krankenhauspflegebedürftigen Krankheit der Frau G. im Sinne der RVO nicht gerechtfertigt oder aber der Sachverhalt fehlerhaft aufgeklärt.
Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung des Urteils des LSG Nordrhein-Westfalen vom 12. Mai 1966 die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist nicht begründet. Denn die Beklagte hat nach § 1531 RVO dem Kläger die Kosten der Unterbringung zu erstatten, weil Frau G. an einer Krankheit gelitten hat, die eine Krankenhausbehandlung erforderlich machte.
Nach der feststehenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) – vgl. die Entscheidung des Senats vom 28. April 1967, BSG 26, 241, 242 mit weiteren Nachweisen – ist unter Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung der regelwidrige Körper- oder Geisteszustand zu verstehen, dessen Eintritt entweder allein die Notwendigkeit einer Heilbehandlung oder zugleich oder ausschließlich Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Es muß also ein objektiv faßbarer regelwidriger Zustand des Körpers oder des Geistes oder beider zugleich vorliegen, der von der Norm abweicht und der durch eine Heilbehandlung behoben, gelindert oder zumindest vor einer drohenden Verschlimmerung bewahrt werden kann (vgl. die Entscheidung vom 28. April 1967 aaO S. 243). Dies war bei Frau G. nach den insoweit nicht angegriffenen und damit nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für den Senat bindenden Feststellungen des LSG der Fall. Denn auch Trunksucht in der vorliegenden Form ist eine Krankheit. Dabei ist der Kern des Suchtbegriffes die langandauernde, zwanghafte Abhängigkeit von dem Suchtmittel; dies gilt insbesondere auch für die Trunksucht (vgl. Zurukzoglu, Ist Trunksucht eine Krankheit?, Beihefte zur Alkoholfrage in der Schweiz, Heft 35, 1963, S. 21). So vertreten auch Schulte und Mende, Direktor und Oberarzt der Universitäts-Nervenklinik Tübingen („partner”, Monatszeitschrift des Evangelischen Gesamtverbandes des zur Abwehr der Suchtgefahren, Nr. 5, Mai 1968, S. 4 f; auch zitiert bei Krasney, Trunksucht als Krankheit im Sinne der RVO, SozVers 1967, 214 ff) die Meinung, die Trunksucht, d. h. das süchtige Trinken als besondere Form des Alkoholismus, sei auch unabhängig von körperlichen oder psychischen Folgeerscheinungen oder chronischer Alkoholintoxikation wie jede andere Sucht ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand und bedürfe der ärztlichen Behandlung. Die Regelwidrigkeit bestehe in der körperlichen wie auch psychischen Abhängigkeit vom Alkohol, welche es dem süchtigen Trinker in den meisten Fällen nicht mehr erlaube, mit eigener Willensanstrengung vom Alkohol loszukommen.
Schließlich hat der Fachausschuß für Alkohol und Alkoholismus der Weltgesundheitsorganisation in dem Bericht über eine Sitzung vom 27. September bis zum 2. Oktober 1954 (in Habernoll, Das Problem des Alkoholismus, Heft 3 der Schriftenreihe aus dem Gebiete des öffentlichen Gesundheitswesens, Stuttgart 1956, S. 48 ff, 49) sowohl das „Nichtaufhörenkönnen” als auch den „Verlust der Selbstkontrolle” als zwei verschiedene, aber gleichwertige Kriterien der Trunksucht bezeichnet.
Die hier vorliegende Alkoholsüchtigkeit schweren Grades braucht sich nicht als eine Geisteskrankheit im engeren Sinne darzustellen oder sich schon in „körperlichen Erscheinungsformen” zu äußern. Vielmehr ist der Verlust der Selbstkontrolle das Merkmal dieser körperlich-seelischen Komplexerkrankung. Dieser Zustand erfordert aber eine ärztliche Behandlung.
Wenn die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA) zur Trunksucht (GE 2140 vom 12. Oktober 1915, AN 1916, 341 f; Entscheidung vom 12. September 1936, DOK 1936, 1336; Entscheidung vom 27. April 1940, ArbVers 1941, 53 f; Entscheidung vom 21. Mai 1942, Breithaupt 1942, 250 ff) diesem Ergebnis entgegensteht, kann ihr nicht mehr gefolgt werden. Soweit dieser Rechtsprechung zu entnehmen ist, daß die Trunksucht im Stadium des Verlustes der Selbstkontrolle und des Nichtaufhörenkönnens bei Fehlen weiterer körperlicher oder psychischer Begleit- oder Folgeerkrankungen keine Trunksucht in fortgeschrittenem Grade und deshalb keine Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung sei, muß diese Ansicht als durch die Fortschritte der medizinischen Erkenntnis überholt bezeichnet werden. Aber schon das RVA hätte bei einem entsprechenden Stande der medizinischen Wissenschaft in der damaligen Zeit diesen Grundsätzen sich auch nicht verschlossen. Denn es halbbereits in der GE 2140 (aaO S. 342) ausdrücklich darauf abgestellt, daß Trunksucht dann eine pathologische, also krankhafte Erscheinung sei, wenn sie den körperlich und psychisch näher bezeichneten „fortgeschrittenen” Grad erreicht habe, und daß diese pathologische Erscheinung nicht mehr unheilbar, sondern häufig einer Heilbehandlung zugänglich sei. Auch in der Entscheidung vom 27. April 1940 (aaO S. 54) hat es betont, mit den Ausführungen in der GE 2140 könnte nicht gemeint sein, daß vorgeschrittene Trunksucht nur dann anzunehmen sei, wenn die im einzelnen aufgeführten regelwidrigen Erscheinungen in ihrer Gesamtheit vorlägen. Es genüge vielmehr, daß die Trunksucht einen erheblichen Grad erreicht habe; es bedeute eine Verkennung des Begriffs „Krankheit”, die Trunksucht schon dann nicht als Krankheit zu beurteilen, wenn sie noch nicht greifbare, gröbere Veränderungen innerer Organe herbeigeführt habe.
Im vorliegenden Fall war eine Krankenhausbehandlung für die bei Frau G. vorhandene Krankheit notwendig. Die bisherige ambulante Behandlung der schweren Form von Süchtigkeit hatte bei Frau G. keinen Erfolg gehabt. Auch eine bereits eingetretene Lebererkrankung hatte sie nicht veranlaßt, das hemmungslose Trinken aufzugeben. Unter diesen Umständen durfte die Beklagte nicht die Krankenhauspflege versagen (vgl. BSG 9, 232; 13, 240). Die Leistungspflicht einer Krankenkasse wird ebenfalls nicht dadurch berührt, daß auch Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für die Vornahme der notwendigen Heilbehandlung sprechen (vgl. ebenso Bösken, SozVers 1966, 333).
Die Revision der Beklagten muß daher zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.
Unterschriften
Senatspräsident Dr. Langkeit ist beurlaubt. Dr. Krebs, Schroeder-Printzen, Dr. Krebs
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 18.06.1968 durch Schäfers Reg. Obersekretär Schriftführer
Fundstellen