Entscheidungsstichwort (Thema)
Mitverursachung. Gewalttat. Versagung. Putativnotwehr. Beweislast. wesentliche Ursache. subjektive Gesichtspunkte
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Schädigung ist nur dann iS des § 2 Abs. 1 S 1 Alt 1 OEG verursacht, wenn der Tatbeitrag des Gewaltopfers wesentliche (Mit-)Ursache der Schädigung war (Bestätigung von BSGE 66, 115 = SozR 3800 § 2 Nr. 7).
2. Handelt das Opfer in der Vorstellung, einen ihm vermeintlich drohenden Angriff abzuwehren (Putativnotwehr), und verursacht es dadurch eine an ihm begangene Gewalttat iS des § 1 Abs. 1 S 1 OEG, so braucht sein Verhalten selbst dann nicht wesentlich mitursächlich für die Schädigung zu sein, wenn es dabei rechtswidrig und fahrlässig handelte.
3. Die Beweislast dafür, daß der Tatbeitrag des Gewaltopfers wesentlich mitursächlich für die Schädigung war, trifft den Versorgungsträger.
Normenkette
OEG § 2 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 18.01.1994; Aktenzeichen L 8 Vg 1/93) |
SG Braunschweig (Urteil vom 25.05.1993; Aktenzeichen S 10 Vg 9/92) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 18. Januar 1994 und das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 25. Mai 1993 abgeändert.
Der Bescheid des Beklagten vom 28. Oktober 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 1992 wird aufgehoben.
Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab September 1990 wegen der Folgen der Gewalttat vom 18. September 1990 Beschädigtenversorgung zu gewähren.
Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über den Anspruch des Klägers auf Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) wegen einer am 18. September 1990 an ihm begangenen Gewalttat.
Der 1964 geborene Kläger, seinerzeit Tanzlehrer, besuchte in der Nacht vom 17. auf den 18. September 1990 eine Diskothek. Dort hielt sich bereits der mehrfach vorbestrafte H. B. (B) mit einem Freund auf. Sowohl B als auch der Kläger hatten schon mehrere Gläser Bier getrunken. Nachdem B zu seinem Freund Bemerkungen über die gepflegte Kleidung (Anzug) des Klägers gemacht hatte, trat dieser zu ihm an die Theke, wo aus ungeklärter Ursache Bier aus seinem Glas über B's Jacke floß. Darauf kam es zu einer Auseinandersetzung, während welcher sich beide mit erhobenen Biergläsern gegenüberstanden. Ein Beschäftigter der Diskothek wies darauf beide aus dem Lokal. Der Kläger, der die Polizei benachrichtigen wollte, ging auf seinen Wunsch als erster hinaus und rief im Freien nach der Polizei. B wollte ihn davon abhalten und legte ihm die Hand auf die Schulter. Darauf schlug ihm der Kläger mit der Faust ins Gesicht. Im weiteren Verlauf des Handgemenges stürzte der Kläger. Als er sich aufrichten wollte, trat ihm B mit dem Fuß ins Gesicht. Der Kläger trug eine schwere Gehirnerschütterung, eine Jochbeinsplitterung rechts, einen Nasenbeinbruch, erhebliche Schäden an den Zähnen und einen Bruch des rechten Handwurzelknochens davon. Er mußte sich bis zum 11. Oktober 1990 stationärer Behandlung unterziehen und blieb bis zum 4. Februar 1991 arbeitsunfähig krank. B wurde – unter Einbeziehung weiterer (leichterer) Straftaten – wegen dieser Tat vom Jugendschöffengericht zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Der vom Kläger im Dezember 1990 gestellte Antrag auf Opferentschädigung blieb erfolglos (Bescheid des Versorgungsamts vom 28. Oktober 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 1992). Auch die Klage zum Sozialgericht ≪SG≫ (Urteil vom 25. Mai 1993) und die Berufung (Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 18. Januar 1994) hatten keinen Erfolg. Im angefochtenen Urteil ist das LSG davon ausgegangen, daß der Kläger die Schädigung iS des § 2 Abs. 1 OEG mitverursacht habe. Er habe sich in einem Milieu, in dem er auf andere Bargäste offensichtlich allein vom Äußeren her wie ein Fremdkörper ge wirkt habe, nicht konfliktlösend, sondern eher stimulierend und aggressiv verhalten. Er sei – ebenso wie B – zur Tatzeit angetrunken gewesen und mit B aus nichtigem Anlaß in Streit geraten. Als B ihn habe abhalten wollen, die Polizei zu benachrichtigen, habe er nicht ausgleichend reagiert, sondern ohne Notwendigkeit auf B eingeschlagen und ihn am Auge getroffen. Dieses für angetrunkene Gäste im Kneipenmilieu nicht untypische Verhalten sei geeignet gewesen, gewaltsame Gegenreaktionen hervorzurufen.
Mit seiner Revision macht der Kläger geltend, ihm dürfe nicht die Beweislast dafür aufgebürdet werden, daß Versagensgründe iS des § 2 OEG nicht vorlägen. Er habe seine friedlichen Absichten dadurch unter Beweis gestellt, daß er allein und nicht zusammen mit dem Täter habe die Diskothek verlassen wollen. Er habe außerdem verlangt, daß die Polizei verständigt werde. Er habe in letzter Not einen Abwehrschlag gegen den auf ihn einstürmenden B geführt, um nicht zum willen- und wehrlosen Opfer zu werden.
Er beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 18. Januar 1994 und das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 25. Mai 1993 sowie den Bescheid des Beklagten vom 28. Oktober 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 1992 aufzuheben und den Beklagten dem Grunde nach zu verurteilen, dem Kläger Versorgung wegen der Folgen der Gewalttat vom 18. September 1990 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Angelegenheit zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht Niedersachsen zurückzuverweisen.
Er hält die Entscheidung des LSG für richtig. Der Darstellung des Klägers, er habe in letzter Not einen Abwehrschlag gegen B geführt, widerspricht er nicht. Er beruft sich lediglich auf die Feststellung des LSG, daß der den Kläger verfolgende B keine Angriffsabsichten gehabt habe. Dessen Versuch, den Kläger von einer Anzeigeerstattung bei der Polizei abzubringen, sei vom Kläger mit einer Überreaktion beantwortet worden. Die folgende Überreaktion des B habe dieser daher mitverursacht.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist begründet. Zu Unrecht hat das LSG angenommen, daß dem Kläger eine Entschädigung wegen der Folgen der am 18. September 1990 an ihm begangenen Gewalttat deswegen zu versagen gewesen sei, weil er die Schädigung mitverursacht habe.
Zutreffend führt das LSG aus, daß für eine Mitverursachung iS des § 2 Abs. 1 OEG die Schädigung wesentlich iS der entschädigungsrechtlichen Kausalitätsnorm, dh in etwa gleichwertig mit dem Tatbeitrag des Schädigers gewesen sein muß (BSGE 66, 115, 118 = SozR 3800 § 2 Nr. 7). Davon ausgehend verkennt es jedoch, daß im Gewaltopferrecht bei der Beurteilung der Wesentlichkeit eines ursachensetzenden Geschehens subjektive Gesichtspunkte nicht außer acht bleiben, sondern sogar entscheidend sein können. Wie der Senat bereits in der zitierten Entscheidung ausgeführt hat, ist der entschädigungsrechtliche Kausalitätsmaßstab ein wertender, elastischer Maßstab, nach dem die Einzelursachen in ihrer Bedeutung gewichtet werden. Ein Leistungsausschluß ist nur dann gerechtfertigt, wenn das Verhalten des Tatopfers von der Rechtsordnung in ähnlicher Weise wie das des Angreifers mißbilligt wird. Mißbilligt in diesem Sinn kann allerdings auch ein selbstgefährdendes Verhalten sein (vgl BSGE 72, 136, 137 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 2; ferner Urteil vom 18. Oktober 1995 – 9 RVg 5/95 –, zur Veröffentlichung vorgesehen). Fehlt dagegen sowohl die gesetzliche Mißbilligung als auch eine Selbstgefährdung, so wird der Tatbeitrag des Opfers im allgemeinen nicht als wesentliche Mitverursachung gelten können. Die Selbstgefährdung ist wiederum dann unbeachtlich, wenn das Opfer sie in der Absicht auf sich genommen hat, einen rechtlich gebilligten Zweck zu verfolgen, zB gütliche Vermittlung zwischen Streitenden (BSGE 66, 115 = SozR 3800 § 2 Nr. 7) oder Notwehrverhalten (BSGE 52, 281 – SozR 3800 § 2 Nr. 3).
Im Sinne dieser Rechtsprechung hätte der Kläger die Tat nur dann wesentlich mitverursacht, wenn er subjektiv rechtsfeindlich gehandelt hätte. Dies hat das LSG nicht festgestellt. Solche Feststellungen ließen sich wegen der retrograden Amnesie des Klägers jedenfalls durch eine Befragung des Klägers auch nicht mehr treffen. Eine rechtsfeindliche Einstellung des Klägers könnte allenfalls aus den Umständen der Tat gefolgert werden. Aber auch solche Umstände hat das LSG nicht festgestellt. Es hat lediglich festgestellt, daß eine objektive Notwehrsituation nicht vorlag, dh daß B (noch) keinen Angriff auf den Kläger beabsichtigte, als er ihn berührte. Die festgestellten Tatumstände lassen aber die Möglichkeit zu, daß der Kläger, als er den Faustschlag gegen B führte, irrig eine Notwehrsituation annahm (§ 16 Abs. 2 iVm § 32 des Strafgesetzbuches ≪StGB≫). Diese Feststellung brauchte das LSG nicht ausdrücklich zu treffen. Es reicht aus, daß seine Feststellungen einer solchen Annahme nicht entgegenstehen. Denn zwar trifft das Tatopfer die Beweislast dafür, daß ein Entschädigungstatbestand iS des § 1 OEG vorliegt (vgl dazu Urteil des Senats SozR 1500 § 128 Nr. 35 S 35 ff). Die Unaufklärbarkeit der Frage, ob ein Ausnahmetatbestand iS des § 2 OEG (hier Mitverursachung iS des § 2 Abs. 1 OEG) vorliegt, geht dagegen zu Lasten des Versorgungsträgers. Das gilt auch für die Frage, ob die Mitverursachung durch das Tatopfer wesentlich iS des entschädigungsrechtlichen Ursachenbegriffs war. Es ist also, solange die Umstände keine gegenteilige Feststellung gebieten, im Zweifel davon auszugehen, daß Umstände vorliegen, die den Tatbeitrag des Opfers als nicht wesentlich ursächlich erscheinen lassen. Darum trifft den Versorgungsträger auch die Beweislast, daß das Verhalten des Opfers schuldhaft war und daß das Verschulden des Opfers gleich schwer zu bewerten ist wie das des Täters.
Das LSG hat festgestellt, daß bereits innerhalb der Diskothek eine handgreifliche Auseinandersetzung drohte, zu deren Abwendung beide Streitbeteiligten des Lokals verwiesen wurden, ferner, daß der Kläger den Wunsch hatte, vor B aus dem Lokal gelassen zu werden, und versuchte, vor dem Lokal die Polizei zu alarmieren. Ebenso ist unangefochten festgestellt, daß B den Kläger in der Absicht berührte, ihn von der Benachrichtigung der Polizei abzuhalten. Von weicher Vorstellung der Kläger ausging, als er B daraufhin einen Faustschlag versetzte, ist nicht aufklärbar. Es ist aber sehr wohl möglich, daß der Kläger meinte, B werde die im Lokal gerade noch vermiedene Schlägerei nunmehr beginnen, und sich gegen ihm drohende Mißhandlungen zur Wehr setzen wollte. In diesem möglichen Fall hätte der Kläger in Putativnotwehr gehandelt (vgl Lenckner bei Schönke/Schröder, StGB, 24. Aufl Anm 65 zu § 32; Dreher/Tröndie. StGB, 47. Aufl Anm 27 zu § 32 StGB und Lackner, StGB Rdz 10 zu § 17 StGB). Dann wäre sein Verhalten zwar rechtswidrig gewesen, hätte aber keine vorsätzliche Tat dargestellt (§ 16 Abs. 1 StGB analog, vgl auch das vorstehend angegebene Schrifttum mwN). Hat aber das Opfer in irrtümlicher Annahme einer Notwehrsituation die an ihm später begangene (rechtswidrige) Gewalttat mitverursacht, so ist die Mitverursachung nicht als wesentlich anzusehen: Handelt das Opfer in der irrtümlichen Annahme strafrechtlich rechtfertigender Umstände (Erlaubnistatbestandsirrtum), so verhält es sich subjektiv nicht rechtsfeindlich oder selbstgefährlich, verursacht also die Schädigung nicht wesentlich iS des § 2 Abs. 1 OEG. Denn sein Tatbeitrag ist, weil es nicht vorsätzlich handelt, als dem vorsätzlichen Tatbeitrag des Täters gegenüber deutlich nachgeordnet zu werten. Sein Verhalten ist nur (objektiv) widerrechtlich, möglicherweise (auch subjektiv) fahrlässig, aber jedenfalls nicht rechtsfeindlich.
Der Berücksichtigung von subjektiven Momenten als ausschlaggebend für die Wesentlichkeit eines Tatbeitrags des Opfers iS des § 2 Abs. 1 OEG steht es nicht entgegen, daß sich derjenige, gegen den sich die Putativnotwehr richtet, gegen diese grundsätzlich rechtmäßig zur Wehr setzen darf und dabei nach § 1 Abs. 1 Satz 2 OEG geschützt ist. In einem solchen Fall käme nämlich der rechtmäßig handelnde „Gegner” nur als Opfer, nicht aber mehr als Täter iS des OEG in Betracht, weil der Täter immer rechtswidrig handeln muß. Infolgedessen entfällt in einem solchen Fall auch die Frage nach dem Mitverschulden des in vermeintlicher Notwehr handelnden Beteiligten, da dieser dann ja (nur) Täter wäre. Handeln – wie hier – beide am Geschehensablauf Beteiligten rechtswidrig, schließt dagegen die Rechtswidrigkeit des vom Opfer geleisteten Tatbeitrages den Entschädigungsanspruch nach dem OEG nicht schlechthin aus. Es ist vielmehr in diesen Fällen abzuwägen, ob der Tatbeitrag des Opfers als wesentlich anzusehen ist. Für die Beurteilung dieser Frage verbleiben dann in der Regel nur subjektive Gesichtspunkte. Entscheidend ist dann, ob das Opfer seinerseits in rechtsfeindlicher Absicht (vorsätzlich) gehandelt hat. Sprechen – wie hier – die Umstände der am Opfer begangenen Gewalttat nicht gegen ein wenigstens subjektiv rechtstreues, den strafrechtlichen Vorsatz ausschließendes Verhalten des Opfers bei der Mitverursachung der Gewalttat, so ist zu seinen Gunsten davon auszugehen, daß das Opfer die Gewalttat und somit seine Schädigung nicht wesentlich mitverursacht hat.
Ob in allen Fällen, in denen der Tatbeitrag des Opfers nicht auf Vorsatz, sondern etwa auf Fahrlässigkeit beruht, eine wesentliche Mitverursachung nach § 2 Abs. 1 OEG ausscheidet (anders wohl Kunz-Zellner, OEG, 3. Aufl, RdZiff 5 zu § 2), braucht hier nicht entschieden zu werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Entscheidung kann nach Lage der Akten ergehen, weil die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 SGG vorliegen.
Fundstellen
Haufe-Index 1049483 |
BSGE, 270 |
SozSi 1997, 319 |