Leitsatz (amtlich)

Ehemalige Gerichtsreferendare, die nach dem Inkrafttreten der Nachversicherungsvorschriften des AnVNG aus dem Vorbereitungs- und zugleich aus dem Staatsdienst des Landes Nordrhein-Westfalen ausgeschieden sind, sind für die vor dem Inkrafttreten dieser Vorschriften (1957-03-01) liegende Zeit des Vorbereitungsdienstes nicht nachzuversichern.

 

Normenkette

ArVNG Art. 2 § 3 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1232 Fassung: 1961-04-25, § 172 Fassung: 1956-06-12; AnVNG Art. 2 § 4 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. September 1961 wird aufgehoben.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 28. Januar 1959 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Rechtsstreit wird um die Frage geführt, ob ehemalige Gerichtsreferendare, die nach dem Inkrafttreten der Nachversicherungsvorschriften des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) aus dem Vorbereitungs- und zugleich aus dem Staatsdienst des Landes Nordrhein-Westfalen ausgeschieden sind, auch für die Zeit vor dem Inkrafttreten dieser Vorschriften (1. März 1957) nachversichert werden müssen oder nicht.

Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) war der Kläger von Oktober 1953 bis August 1957 in Nordrhein-Westfalen (Bereich der ehemals brit. Zone) Gerichtsreferendar im Beamtenverhältnis und bezog Unterhaltszuschuß. Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung wurden für ihn nicht abgeführt, er wurde als versicherungsfrei behandelt. Das Justizministerium des Landes hatte auf Grund des § 172 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (in der für den Bereich der ehem. brit. Zone geltenden Fassung) durch Ausführungsverordnung vom 21. November 1953 - in Kraft seit dem 1. Januar 1954 - für die Beamten im Vorbereitungsdienst Versicherungsfreiheit nach § 172 Abs. 1 Nr. 1 RVO in der Krankenversicherung und damit auch in der Rentenversicherung (§ 1 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - aF) allgemein anerkannt. Mit dem 15. August 1957 schied der Kläger aus dem Vorbereitungs- und dem Staatsdienst ohne Versorgung aus. Er wurde für die Zeit von März 1957 an nachversichert.

Der Kläger wünscht die Nachversicherung auch für die Zeit vorher. Die Beklagte lehnte dies ab. Die Klage hatte keinen Erfolg. Auf die Berufung des Klägers verpflichtete das LSG Nordrhein-Westfalen die Beklagte, den Kläger zusätzlich für die Zeit von Januar 1954 bis Februar 1957 nachzuversichern. Insoweit sah das LSG den Nachversicherungsanspruch auf Grund des Art. 2 § 4 Abs. 1 AnVNG in Verbindung mit § 9 Abs. 1 AVG als begründet an. Der Kläger sei während dieser Zeit nach der - dem § 6 Abs. 1 Nr. 2 AVG entsprechenden - Bestimmung des § 172 Abs. 1 Nr. 1 RVO versicherungsfrei und wäre "sonst" versicherungspflichtig gewesen; letzteres treffe selbst dann zu, wenn außerdem Versicherungsfreiheit nach Nr. 5 des § 172 Abs. 1 RVO bestanden hätte; eine "sonstige" Versicherungspflicht lasse sich nämlich nur dann verneinen, wenn trotz des Wegfalls der tatsächlichen Voraussetzungen der Nr. 1 noch die Voraussetzungen zur Anwendung der Nr. 5 bestehen geblieben wären; beim Kläger sei das jedoch nicht der Fall, weil beide Freistellungsgründe auf denselben tatsächlichen Umständen - der Beschäftigung im juristischen Vorbereitungsdienst als Beamter - beruht hätten. Wenn das Bundessozialgericht (BSG) das Wort "sonst" in § 1242 a RVO aF - und damit auch in § 9 AVG - anders ausgelegt habe (BSG 11, 278, 281), so könne das LSG dem nicht folgen.

Gegen das Urteil legten die Beklagte und das beigeladene Land die vom LSG zugelassene Revision ein. Die Beklagte beantragte,

unter Aufhebung des Urteils die Berufung zurückzuweisen.

Der Beigeladene stellte den Antrag,

unter Abänderung des Urteils die Klage abzuweisen.

Beide Revisionskläger rügten eine unrichtige Anwendung des Art. 2 § 4 Abs. 1 AnVNG, der Beigeladene auch des § 9 AVG.

Der Kläger beantragte,

beide Revisionen zurückzuweisen.

Die Rechtsmittel sind zulässig und begründet.

Anspruchsgrundlage für die vom Kläger begehrte weitergehende Nachversicherung ist Art. 2 § 4 Abs. 1 AnVNG. Diese Vorschrift läßt in Satz 1 für Personen, die aus einer versicherungsfreien Beschäftigung nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ausscheiden, § 9 AVG auch für die Zeit vorher gelten, wenn in dieser Zeit Versicherungsfreiheit nach den jeweils geltenden, dem § 6 Abs. 1 Nr. 2-6 und dem § 8 AVG sinngemäß entsprechenden Vorschriften bestanden hat. Das LSG hat angenommen, daß der Kläger in der Rentenversicherung der Angestellten vor März 1957 nach § 172 Abs. 1 Nr. 1 RVO (i. V. m. § 1 Abs. 2 AVG aF), später nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 AVG versicherungsfrei gewesen ist und daß sich beide Vorschriften sinngemäß decken. Bei der weiteren rechtlichen Beurteilung kann der Senat diese Schlußfolgerungen des LSG als zutreffend ansehen, weil gleichwohl ein Nachversicherungsanspruch für die Zeit vor dem Inkrafttreten des AnVNG nicht gegeben ist.

Entgegen der Meinung des Klägers ist Art. 2 § 4 Abs. 1 Satz 1 AnVNG nicht so zu verstehen, als ob in allen Fällen, in denen sich aus § 9 AVG die Pflicht zur Nachversicherung für die Zeit nach dem Inkrafttreten des AnVNG ergibt, die Nachversicherung ohne jede weitere Prüfung auch auf die vorhergehende Zeit der versicherungsfreien Beschäftigung zu erstrecken, eine "sonstige Versicherungspflicht" in der vorhergehenden Zeit also nicht zu erörtern sei. Der Kläger gehört zu den Personen, deren Nachversicherung § 9 Abs. 1 AVG regelt. Diese Vorschrift gebietet, die versicherungsfreien Personen nachzuversichern "für die Zeit, in der sie sonst in der Rentenversicherung der Angestellten versicherungspflichtig gewesen wären". Die Nachversicherung wird also davon abhängig gemacht, ob ohne die Versicherungsfreiheit eine Versicherungspflicht bestanden hätte. In Übergangsfällen - wie dem vorliegenden - ist die Frage nach der "sonstigen Versicherungspflicht" auch für die Zeit vor März 1957 zu stellen. Weder aus dem Wortlaut noch aus dem Sinn und Zweck des Art. 2 § 4 Abs. 1 Satz 1 AnVNG ergibt sich das Gegenteil. Wenn diese Vorschrift den "§ 9 AVG" auch für die Zeit vor dem Inkrafttreten des AnVNG "gelten" läßt, so besagt dies, daß die Nachversicherung unter den gleichen Bedingungen stattfinden soll, die § 9 AVG für die Nachversicherungsfähigkeit der unmittelbar hiervon erfaßten Zeiten fordert. Insoweit behandelt der Gesetzgeber die Zeiten vor und nach dem Inkrafttreten des AnVNG gleich.

Wenn der Gesetzgeber demnach die Nachversicherung nur für die Zeiten zugelassen hat, in denen die versicherungsfreien Personen "sonst versicherungspflichtig gewesen wären", so kann diese Frage für die Zeiten vor dem Inkrafttreten des AnVNG nur nach den damals gültigen Rechtsvorschriften beurteilt werden. So ist auch das LSG verfahren; es ist aber zu Unrecht zu dem Schluß gekommen, der Kläger wäre in der Zeit von Januar 1954 bis Februar 1957 "sonst", d. h. ohne die Versicherungsfreiheit nach § 172 Abs. 1 Nr. 1 RVO, versicherungspflichtig gewesen.

Das LSG hat offengelassen, ob in der Zeit vor März 1957 außerdem Versicherungsfreiheit nach der Nr. 5 des § 172 Abs. 1 RVO (i. V. m. § 1 Abs. 2 AVG aF) bestanden hat. Das ist nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG jedoch zu bejahen. Als Gerichtsreferendar im juristischen Vorbereitungsdienst gehörte der Kläger zu den Personen, die "zu oder während ihrer wissenschaftlichen Ausbildung für den zukünftigen Beruf tätig sind". Dies hat der Senat schon in einer früheren Entscheidung (BSG 11, 278) ausgesprochen und eingehend begründet; davon abzugehen, besteht kein Anlaß. In jener Entscheidung hat der Senat allerdings noch offengelassen, ob der Unterhaltszuschuß, der den Referendaren gewährt wird, ein Entgelt im Sinne der §§ 160, 165, 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO darstellt. Nach der neueren Rechtsprechung ist diese Frage zu bejahen. Wie der 3. Senat (BSG 15, 65) entschieden hat, richtet sich die Entgeltlichkeit des Beschäftigungsverhältnisses seit dem Inkrafttreten des Gemeinsamen Erlasses des Reichsfinanzministers und des Reichsarbeitsministers vom 10. September 1944 (AN 1944, 281) regelmäßig danach, ob der jeweilige Bezug lohnsteuerpflichtig ist; Unterhaltszuschüsse an Referendare unterliegen aber der Lohnsteuerpflicht (BSG aaO, 69 f). Dieser Auffassung des 3. Senats schließt sich der erkennende Senat an.

Die gleichzeitige Versicherungsfreiheit des Klägers nach § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO wirkt sich entgegen der Meinung des LSG dahin aus, daß der Kläger in der Zeit von Januar 1954 bis Februar 1957 nicht als eine "sonst versicherungspflichtige" Person angesehen werden kann. Dabei ist dem LSG darin zuzustimmen, daß die Anwendbarkeit der Nr. 5 die gleichzeitige Anwendung der Nr. 1 des § 172 Abs. 1 RVO (und umgekehrt) nicht ausschließt; beide Vorschriften stehen selbständig nebeneinander; unter ihnen besteht weder eine Rangfolge (so schon BSG 11, 278, 284) noch ein sonstiges Zuordnungsverhältnis. Ist der Tatbestand der Nr. 1 aber auch der von Nr. 5 erfüllt, so ist demnach Versicherungsfreiheit aus zwei Gründen gegeben. Da es sich aber immer nur um eine Versicherungsfreiheit handelte, war es während der Beschäftigung des Klägers im Vorbereitungsdienst letztlich unerheblich, auf welche Begründung die Freiheit der Gerichtsreferendare von der Versicherungspflicht gestützt wurde; die zweifache Begründbarkeit wird aber bedeutsam, wenn die Nachversicherung zu erörtern ist.

Das Gesetz knüpft insoweit an eine nach bestimmten Vorschriften begründete Versicherungsfreiheit an; es setzt Versicherungsfreiheit nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 bis 5 oder nach § 8 Abs. 1 AVG und für die Zeit vor dem Inkrafttreten des AnVNG Versicherungsfreiheit nach einer Vorschrift voraus, die einer der in § 6 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 und § 8 AVG genannten sinngemäß entspricht. Wäre § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO - wie Nr. 1 - eine Vorschrift dieser Art, so wäre die zweifache Begründbarkeit der früheren Versicherungsfreiheit weiterhin unerheblich; Nr. 5 hat aber in den Bestimmungen des § 6 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 und § 8 Abs. 1 AVG keine sinngemäße Parallele gefunden.

Wenn nun zu entscheiden ist, ob ohne die Versicherungsfreiheit nach einer der vom Gesetzgeber angeführten Vorschriften die versicherungsfreie Person "sonst versicherungspflichtig" gewesen wäre, so ist für den vorliegenden Fall, wie der Senat bereits in BSG 11, 278, 281, 285 zu § 1242 a RVO aF entschieden hat, darauf abzustellen, wie die Rechtslage wäre "ohne die Versicherungsfreiheit nach § 172 Abs. 1 Nr. 1 RVO" oder "wenn der beamtenrechtliche Grund der Versicherungsfreiheit hinweggedacht wird".

Da das Wort "sonst" einen gedachten Zustand umschreibt, kommt es darauf an, welches Merkmal des wirklich gegebenen Zustandes hinwegzudenken ist. Das richtet sich wiederum danach, zu welchem Merkmal das Wort "sonst" in Beziehung steht, an welches es anknüpft. Wie schon dargelegt, hat der Gesetzgeber in § 9 AVG und Art. 2 § 4 Abs. 1 AnVNG an die Versicherungsfreiheit nach bestimmten Vorschriften angeknüpft; diese, d. h. der sie aussprechende Rechtssatz, ist daher außer acht zu lassen. Die der Versicherungsfreiheit zugrunde liegenden tatsächlichen Verhältnisse sind dagegen nicht als Anknüpfungspunkt ausgewählt; es ist daher nicht statthaft, wie es das LSG getan hat, auch noch den konkreten Sachverhalt hinwegzudenken, der der Versicherungsfreiheit nach § 172 Abs. 1 Nr. 1 RVO zugrunde lag.

Entfällt aber (nur) die Versicherungsfreiheit nach Nr. 1 des § 172 Abs. 1 RVO, so wäre der Kläger immer noch nach Nr. 5 dieser Vorschrift versicherungsfrei geblieben. Dies bedeutet, daß es an einer "sonstigen Versicherungspflicht in der Zeit vor dem Inkrafttreten des AnVNG fehlt, und hat zur Folge, daß der Anspruch auf eine Nachversicherung für diese Zeit nicht gerechtfertigt ist.

Ein anderes Ergebnis läßt sich auch nicht über den Satz 2 von Art. 2 § 4 Abs. 1 AnVNG erzielen. Satz 2 und ebenso Satz 3 erstrecken die Nachversicherung - regelwidrig - zwar auf Zeiten, in denen eine Versicherungspflicht nach altem Recht von vornherein nicht in Betracht kam, weil ein Entgelt nicht bezogen oder die Versicherungspflichtgrenze überschritten wurde. Beide Ausnahmen kommen hier nicht in Betracht; denn nach den Feststellungen des LSG hat der Kläger einen Unterhaltszuschuß und damit Entgelt bezogen, ohne daß dieses über der Versicherungspflichtgrenze lag.

Der Senat hat bereits anläßlich seiner früheren Entscheidung klargestellt, daß es nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz) verstößt, wenn für eine Nachversicherung nur die Referendare in Betracht kommen, die nach dem Inkrafttreten des AnVNG aus dem Staatsdienst ausgeschieden sind. Nach seiner Ansicht verletzt es den Gleichheitssatz auch nicht, wenn der Vorbereitungsdienst dieser - überhaupt nachzuversichernden - Referendare entweder ganz oder nur zu einem Teil nachversichert wird, je nachdem, ob der Vorbereitungsdienst ganz oder nur zu einem Teil nach dem gesetzlichen Stichtag (1. März 1957) liegt. Der Vorbereitungsdienst wird gleichbehandelt, wenn er von einem bestimmten Tag an der Nachversicherung unterfällt. Es ist nicht notwendig, wie der Kläger meint, daß alle Referendare, deren Nachversicherungsfall nach dem Inkrafttreten der Neuregelung liegt, einen Anspruch auf die Nachversicherung der gesamten Referendarzeit haben müssen. Der Gesetzgeber ist berechtigt, bei Neuregelungen Stichtage allgemein festzulegen, es sei denn, die durch einen Stichtag entstehende unterschiedliche Behandlung bestimmter Sachverhalte müßte als Willkür erscheinen. Dafür, daß dies bei der in diesem Rechtsstreit umstrittenen Regelung so sein könnte, hat der Kläger nichts vorgebracht; auch sonst sind keine Anzeichen für eine Grundgesetzwidrigkeit erkennbar.

Weil sonach Gerichtsreferendare in Nordrhein-Westfalen, die den juristischen Vorbereitungsdienst für die Laufbahn des Richters und Staatsanwalts vor dem Inkrafttreten der Nachversicherungsvorschriften des AnVNG begonnen und danach beendet haben, für die Zeit vor dem 1. März 1957 nicht nachzuversichern sind, ist das angefochtene Urteil unrichtig und aufzuheben. Zugleich ist, da der Senat in der Sache selbst entscheiden kann, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen. Dieses Urteil hat zwar noch die Klage in ihrer früheren Gestalt - als gegen das beigeladene Land gerichtete Feststellungsklage - abgewiesen; nach der zulässigen Klageänderung im Berufungsverfahren ist die Abweisung jedoch auf die nunmehr gegen die Beklagte gerichtete Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zu beziehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2324138

BSGE, 206

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