Leitsatz (redaktionell)
Nicht der kriegseigentümliche Gefahrenbereich, sondern das Verhalten des Verletzten ist wesentliche Bedingung für dessen Schädigung, wenn der Verletzte fähig war (hier: 15 1/2jähriger Oberschüler) die Gefährlichkeit seines Tuns (hier: Experimentieren mit Brandbombensprengsatz) zu erkennen und seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen.
Normenkette
BVG § 5 Abs. 1 Buchst. a Fassung: 1953-08-07
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. Dezember 1958 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger begehrt Versorgung wegen der Folgen eines Unfalls, den er im September 1944 als damals 15 1/2 jähriger Oberschüler erlitten hat. Der Unfall ereignete sich dadurch, daß der Kläger einen Sprengsatz, den ein Freund des Klägers aus einer aufgefundenen Brandbombe ausgebaut und zunächst mit nach Hause genommen hatte, in einem Park mit einem Streichholz anzündete und dadurch zur Explosion brachte; dabei wurde dem Kläger die rechte Hand im Handgelenk weggerissen.
Den ersten Antrag des Klägers auf Versorgung vom April 1948 lehnte die Landesversicherungsanstalt (LVA) Württemberg durch Bescheid vom 2. Juni 1948 ab, weil die Schädigung keine Folge unmittelbarer Kriegseinwirkungen sei; der Bescheid wurde bindend. Im September 1952 beantragte der Kläger erneut Versorgung. Dieser Antrag wurde ohne erneute Sachprüfung durch Bescheid des Versorgungsamts I S vom 13. Dezember 1954 unter Hinweis auf den Bescheid vom 2. Juni 1948 abgelehnt. Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg (Bescheid vom 15. Dezember 1955). Der Kläger erhob daraufhin Klage. Während des Klageverfahrens stellte das Versorgungsamt neue Ermittlungen an und lehnte den Antrag durch Bescheid vom 29. Januar 1957 auch aus sachlichen Gründen ab. Das Sozialgericht (SG) Stuttgart wies die Klage durch Urteil vom 4. Dezember 1957 ab. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung des Klägers durch Urteil vom 10. Dezember 1958 zurück: Zwar sei die Sprengwirkung trotz Ausbaues des Sprengsatzes aus der Bombe und mehrfacher Verlagerung dieses Sprengsatzes durch die Freunde des Klägers noch dem durch den Abwurf der Bombe entstandenen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich zuzuordnen; dieser kriegseigentümliche Gefahrenbereich sei jedoch nicht als wesentliche Bedingung und damit als Ursache im Rechtssinne für die Schädigung anzusehen, vielmehr sei die Entzündung des Sprengsatzes durch den Kläger für die Entstehung des Schadens "ausschlaggebend" gewesen. Der Kläger sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auf Grund seiner geistigen und körperlichen Entwicklung in der Lage gewesen, das Gefährliche seines Tuns zu erkennen, er sei auch fähig gewesen, seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen; dies bestätige auch das Urteil des Jugendgerichts in Ulm vom 28. Juni 1944, das den Kläger wegen eines Verkehrsdelikts zu einer Jugendstrafe verurteilt habe; in diesem Urteil werde der Kläger u. a. als "aufgeweckter" Junge bezeichnet. Der Kläger habe zwar vielleicht die Wirkung des Sprengsatzes nicht genau gekannt, darauf komme es jedoch nicht an, entscheidend sei, daß er der Überlegung fähig gewesen sei, mit seinem Tun könnten Gefahren verbunden sein, diese Fähigkeit habe er gehabt, denn seine Freunde hätten sich vor dem Unfall sehr drastisch über die Wirkung der Sprengsätze geäußert; der Kläger habe zumindest mit solchen Gefahren rechnen müssen, wie sie mit dem Abbrennen starker Feuerwerkskörper verbunden sind, solche Überlegungen seien ihm zuzumuten gewesen.
Das LSG ließ die Revision zu.
Das Urteil wurde dem Kläger am 15. Mai 1959 zugestellt. Am 19. Mai 1959 legte er Revision ein und beantragte,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 10. Dezember 1958 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Am 12. August 1959 - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 13. August 1959 - begründete er die Revision; er rügte Verletzung der §§ 1, 5 Abs. 1 Buchst. 9 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG): Das LSG habe zu Unrecht festgestellt, daß er fähig gewesen sei, das Gefährliche seines Tuns zu erkennen und seine Handlungsweise dieser Erkenntnis gemäß einzurichten. Weder seine eigenen Angaben noch die Aussage des Zeugen D ließen den Schluß zu, daß er die typische Gefährlichkeit des von einer Papphülle umschlossenen Sprengsatzes erkannt habe und deshalb in der Lage gewesen sei, vernünftige Erwägungen über die besonderen Gefahren des Hantierens mit dem Sprengsatz anzustellen. Selbst wenn er die erforderliche Einsicht in die Gefährlichkeit seiner Handlungsweise besessen habe, sei er jedenfalls damit nicht auch ohne weiteres fähig gewesen, seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen. Das LSG habe prüfen müssen, ob er gerade auf dem hier in Rede stehenden Gebiet in der Lage gewesen sei, einsichts- und willensmäßig eigenverantwortlich zu handeln, es habe hierzu den Kläger und den Zeugen D hören müssen. Wenn es dies nicht getan habe, habe es seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 SGG), verletzt und auch sein Recht, das Gesamtergebnis des Verfahrens frei zu würdigen (§ 128 SGG), überschritten.
Der Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft; der Kläger hat sie frist- und formgerecht eingelegt, sie ist daher zulässig; die Revision ist jedoch nicht begründet.
Als Rechtsgrundlage für den Versorgungsanspruch des Klägers kommt allein § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG in Betracht. Danach hat Anspruch auf Versorgung, wer durch nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben, einen gesundheitlichen Schaden erlitten hat. Dieser versorgungsrechtlich geschützte Tatbestand umfaßt eine Ursachenreihe, die sich aus drei Gliedern zusammensetzt, dem kriegerischen Vorgang, dem daraus entstandenen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich und dem schädigenden Ereignis in nachträglicher Auswirkung dieses Gefahrenbereichs. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, von denen das Revisionsgericht auszugehen hat, weil insoweit keine Revisionsgründe vorgebracht sind (§ 163 SGG), ist die Schädigung, wegen der der Kläger Versorgung begehrt (Verlust der rechten Hand im Handgelenk), durch die Explosion des Sprengsatzes einer Brandbombe eingetreten; dieser Sprengsatz ist von dem Freund des Klägers, dem Zeugen D. am Vormittag des Unfalltages aus einer im Rosensteinpark gefundenen Brandbombe ausgebaut, mit nach Hause genommen und auf Vorhaltungen seiner Mutter wieder zurückgebracht und in einem Gebüsch niedergelegt worden; im Rosensteinpark hat dann der Kläger in Gegenwart des Zeugen D und eines anderen Freundes den Sprengsatz in die Hand genommen und die Zündschnur mit einem Streichholz angezündet; dabei ist der Sprengsatz explodiert, wodurch dem Kläger die rechte Hand im Handgelenk weggerissen worden ist. Das LSG hat im Ergebnis zutreffend entschieden, daß die Voraussetzungen eines Versorgungsanspruchs nach § 1 Abs. 2 Buchst. a in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG nicht erfüllt sind. Es kann dahingestellt bleiben, ob das LSG zu Recht angenommen hat, daß "das schädigende Ereignis (die Sprengwirkung des Sprengsatzes) noch dem kriegseigentümlichen Gefahrenbereich zuzurechnen" sei, obwohl die Schädigung nicht eine Folge der - abgeworfenen und herumliegenden - Brandbombe selbst und nicht einmal des aus dieser Bombe von dem Freund des Klägers "ausgebauten" und mehrfach "verlagerten" Sprengsatzes selbst gewesen, sondern dadurch bewirkt worden ist, daß der Kläger den Sprengsatz mit einem Streichholz angezündet hat (vgl. hierzu BSG 6, 102). Wenn, wie das LSG angenommen hat, der kriegseigentümliche Gefahrenbereich bei dem Eintritt des schädigenden Ereignisses noch bestanden hat -und damit der Versorgungsanspruch nach § 1 Abs. 2 Buchst. a in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG nicht schon deshalb entfällt, weil es an dem Tatbestandsmerkmal "kriegseigentümlicher Gefahrenbereich" gefehlt hat - so hat das LSG jedenfalls zutreffend den ursächlichen Zusammenhang (im Sinne des Versorgungsrechts) zwischen diesem kriegseigentümlichen Gefahrenbereich und der gesundheitlichen Schädigung des Klägers verneint. Das LSG hat richtig erkannt und gewürdigt, daß erst die willentliche Entzündung des Sprengsatzes der Bombe durch den Kläger die bis dahin latente Gefahr hat wirksam werden lassen, daß also - neben dem vom LSG angenommenen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich - auch das Verhalten des Klägers eine Bedingung für den schädigenden "Erfolg" gesetzt hat. Das LSG hat daher mit Recht geprüft, welche Bedeutung und Tragweite jede dieser Bedingungen in dem Geschehensablauf einnimmt, in dem es zu dem "Erfolg" gekommen ist; es hat die im Versorgungsrecht geltende Kausalitätsnorm richtig angewandt, wenn es bei dieser Prüfung zu dem Ergebnis gekommen ist, daß nicht der kriegseigentümliche Gefahrenbereich, sondern die Entzündung des Sprengsatzes durch den Kläger für die Entstehung des Schadens "ausschlaggebend" gewesen ist und daß allein in diesem Verhalten des Klägers die wesentliche Bedingung für den "Erfolg" zu erblicken ist. Nach der im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätsnorm ist Ursache nicht jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele, sondern nur diejenige Bedingung, die wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (vgl. BSG 1, 72, 150, 268). Im vorliegenden Fall ist das Verhalten des Klägers deshalb die allein wesentliche Bedingung und damit Ursache im Rechtssinne für die eingetretene Schädigung, weil der Kläger nach den Feststellungen des LSG fähig gewesen ist, die Gefährlichkeit seines Tuns zu erkennen und seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen (vgl. auch BSG 1, 72, 76 und Urteil des 10. Senats vom 17. April 1962 - 10 RV 299/59 -). Diese Feststellung ist für das BSG bindend; denn die Rügen des Klägers, das LSG habe insoweit den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt (§ 103 SGG) und auch die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten (§ 128 SGG), greifen nicht durch. Das LSG hat nicht die Grenzen seines Recht, das Gesamtergebnis des Verfahrens frei zu würdigen (BSG 2, 236 ff), überschritten, wenn es festgestellt hat, der Kläger habe nach seiner körperlichen und geistigen Entwicklung die Fähigkeit gehabt, das Gefährliche seines Tuns zu erkennen und dieser Einsicht gemäß zu handeln. Das LSG hat sich dabei nicht, wie die Revision offenbar meint, nur auf allgemeine Erwägungen gestützt, es hat vielmehr alle Umstände des besonderen Falles des Klägers geprüft; es hat auch nicht Denkgesetze und Erfahrungssätze des täglichen Lebens verletzt. Auf Grund seiner tatsächlichen, von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen hat das LSG davon ausgehen dürfen, daß der Kläger den Sprengsatz als Sprengkörper erkannt hat. Wie das LSG ausdrücklich festgestellt hat, haben die Freunde des Klägers ihm erzählt, daß der "Gegenstand" aus einer Brandbombe herrühre, daß man damit "Rabatz machen" könne und daß es "krache wie ein Kanonenschlag". Das LSG hat dazu zutreffend ausgeführt, es komme nicht darauf an, ob der Kläger die "typische Gefährlichkeit" des Sprengkörpers gekannt, d. h. ob er das Ausmaß der Explosionswirkung genau übersehen habe; entscheidend sei, daß er überhaupt mit einer Gefahr gerechnet habe oder jedenfalls habe rechnen müssen. Das aber kann bei der vom Kläger mit Willen vorgenommenen Entzündung des Sprengsatzes nicht zweifelhaft sein, denn seine Handlungsweise ist darauf abgestellt gewesen, den "Gegenstand" zur Explosion zu bringen. Das LSG hat annehmen dürfen, daß sich der Kläger auch der Gefährlichkeit seines Tuns bewußt gewesen ist. Der Kläger ist im Zeitpunkt des Unfalls 15 1/2 Jahre alt und Oberschüler gewesen; er ist, wie das LSG ebenfalls bindend festgestellt hat, wiederholt, zuletzt fünf Tage vor dem Unfall, in der Schule über die Gefährlichkeit des Umgangs mit Kriegsgerät belehrt worden, darüber hinaus haben ihm seine Freunde vorher die Wirkung der beabsichtigten Entzündung gerade dieses "Gegenstandes" sehr drastisch geschildert. Auch die weitere Feststellung des LSG, daß der Kläger auch die Fähigkeit gehabt habe, seinen Willen dieser Einsicht in die Gefährlichkeit seines Vorhabens gemäß zu bestimmen, läßt keinen Verstoß gegen § 128 SGG erkennen. Das LSG hat dies aus dem Alter und aus der Schulbildung des Klägers entnehmen dürfen. Der Kläger hat mit 15 1/2 Jahren im Zeitpunkt des Unfalls das schulpflichtige Alter bereits überschritten gehabt und ist, auch wenn er noch die Oberschule besucht hat, aus der rein kindlichen Sphäre herausgewachsen gewesen. Das LSG hat sich insoweit auch darauf stützen dürfen, daß der Klassenlehrer des Klägers ausdrücklich bescheinigt hat, der Kläger habe die "nötige Einsicht" gehabt. Mit Recht hat auch das LSG bei der Prüfung dieser Frage berücksichtigt, daß der Kläger von dem Jugendgericht in Ulm wegen eines Verkehrsunfalles, den er fünf Monate vor dem hier in Rede stehenden Unfall verursacht hat, verurteilt worden ist, denn aus dieser Verurteilung ergibt sich, daß das Jugendgericht den Kläger für "einsichts- und willensfähig" gehalten und als "aufgeweckten Jungen" bezeichnet hat. Wenn das Jugendgericht auch einen anders gearteten Sachverhalt beurteilt hat, so ist diese Verurteilung doch geeignet, Rückschlüsse auf die geistige und sittliche Reife des Klägers im Zeitpunkt des Unfalls durch das Entzünden des Sprengsatzes zu ziehen. Das LSG hat, wenn es festgestellt hat, der Kläger sei sich bewußt gewesen, daß sein Tun gefährlich und verboten sei, und er habe auch die geistige Reife gehabt, dieser Erkenntnis gemäß zu handeln, jedenfalls die Grenzen eingehalten, die ihm durch seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 128 SGG) und zur Beachtung von Denkgesetzen und Erfahrungssätzen des täglichen Lebens gezogen sind; die Beweiswürdigung des LSG ist daher gesetzmäßig; § 128 SGG ist nicht verletzt.
Das LSG hat auch ausreichende Unterlagen gehabt, um die "Willens- und Einsichtsfähigkeit" des Klägers beurteilen zu können; es hat selbst den Kläger und den Zeugen D gehört, es hat auch alle sonstigen Unterlagen erschöpfend ermittelt; einer weiteren Sachaufklärung hat es nicht bedurft. Das LSG hat daher auch nicht gegen § 103 SGG verstoßen.
Die tatsächlichen Feststellungen des LSG sind danach auch insoweit, als sie die "Einsichts- und Willensfähigkeit" des Klägers im Zeitpunkt des Unfalls betreffen, für das BSG bindend; die Revisionsrügen, die der Kläger insoweit geltend gemacht hat, sind nicht begründet. Das LSG hat aus diesen Feststellungen auch zutreffende rechtliche Schlußfolgerungen gezogen; es hat den Anspruch des Klägers auf Versorgung nach § 1 Abs. 2 Buchst. a in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG - in Übereinstimmung mit den Vorinstanzen - zu Recht verneint. Die Revision des Klägers ist unbegründet, sie ist zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen