Leitsatz (redaktionell)

Beweiswürdigung auf Grund von einer Vermutung.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Dezember 1970 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Kläger - deutscher Staatsangehöriger, 1901 geboren von Beruf Tischler - hatte in der Invalidenversicherung eine Beitragszeit vom 46. Monaten zurückgelegt. 1924 wanderte er nach Argentinien aus. Am 16. September 1939 meldete er sich auf Grund wehrrechtlicher Vorschriften bei der deutschen Botschaft in B. Tatsächlich blieb er aber in Argentinien. Dort lebt er noch heute. Er wird für erwerbsunfähig gehalten.

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag ab. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen; das Landessozialgericht (LSG) hat dagegen den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte zur Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit verurteilt. Seines Erachtens sind die Anspruchsvoraussetzungen, insbesondere die Wartezeit erfüllt. Anstelle der fehlenden Beitragszeit komme dem Kläger die Ersatzzeit des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zugute. Er sei während des Krieges durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus dem Ausland verhindert gewesen. Eine Passage über den Atlantischen Ozean sei für Deutsche nach Kriegsbeginn so gut wie ausgeschlossen gewesen. Für neutrale Flug- und Schiffahrtsgesellschaften habe ein Verbot bestanden, Deutsche nach Europa mitzunehmen. Der Versuch, mit einem Schiff zu reisen, sei außerdem mit dem Risiko einer Gefangennahme in Gibraltar verbunden gewesen. Für die Route über den Pazifik und über Rußland habe dem Kläger das Geld gefehlt. Im übrigen müsse man - so auch das Bundessozialgericht (BSG) SozR Nr. 13 zu § 1251 RVO - unterstellen, daß ein Deutscher im Kriege in aller Regel den Willen gehabt habe, sich nach Deutschland zu begeben. Für den Rückkehrwillen des Klägers spreche seine Meldung bei der deutschen Botschaft in B. Daß diese Meldung ernst gewesen sei, dürfe man annehmen, weil eine Unterlassung der Meldung "für den im neutralen Ausland lebenden Kläger kaum Nachteile gebracht" hätte. Man könne nicht ausschließen, daß der Kläger die Vorstellung einer freiwilligen Meldung gehabt oder bei Nichtannahme als Soldat eine Tätigkeit anstelle eines einberufenen Arbeiters beabsichtigt habe. "Die vom BSG als Regel aufgestellte Rückkehrwilligkeit" lasse sich "hier nicht widerlegen".

Die Beklagte hat die vom LSG nicht zugelassene Revision eingelegt und beantragt, das Berufungsurteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen. Sie beanstandet die Feststellung, daß der Kläger zu Beginn des zweiten Weltkrieges die Absicht gehabt habe, aus dem Ausland zurückzukehren. Dieser Urteilsfeststellung liege keine Sachaufklärung zugrunde. Hierzu hätte sich das LSG aber ua. deshalb gedrängt fühlen müssen, weil die Bereitschaft zur Erfüllung der Wehrpflicht nicht zugleich das Vorhaben bedeute, den Mittelpunkt des persönlichen Lebensbereichs wieder nach Deutschland zu verlegen. Davon sei namentlich bei einem Verheirateten auszugehen. Über die wirkliche Absicht des Klägers zur Zeit des Kriegsausbruchs hätte - so meint die Revision - das LSG die Ehefrau und sonstige Zeugen vernehmen lassen müssen. Die Meldung des Klägers bei der deutschen Botschaft beweise nicht den Rückkehrwillen; mit ihr sei der Kläger nur seiner wehrgesetzlichen Pflicht nachgekommen (§§ 5, 4, 17 des Wehrgesetzes vom 21. Mai 1935 - RGBl. I, 609 -). Ohne Nachprüfung habe außerdem das LSG als wahr unterstellt, daß der Kläger sich freiwillig zum Kriegsdienst habe stellen oder eine Tätigkeit in Deutschland habe aufnehmen wollen.

Der Kläger beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen; hilfsweise sie zurückzuweisen.

Die Revision ist zulässig, weil mit ihr ein wesentlicher Mangel des Verfahrens geltend gemacht worden ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 2, § 164 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Nach der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts kam es bei der Entscheidung dieses Rechtsstreits auf das Vorhandensein eines Rückkehrwillens beim Kläger an. Das LSG hat sich nun - wie die Revision zutreffend dargelegt hat und wie im angefochtenen Urteil auch hervorgehoben worden ist - bei seiner Beweiswürdigung von einer Vermutung leiten lassen. Die Berechtigung dieser Vermutung kann nicht anerkannt werden. Es besteht nicht allgemein schlechthin eine Regel des Inhalts, daß ein Deutscher bei Kriegsausbruch ohne die Verhinderung durch feindliche Maßnahmen aus eigenem Antrieb ins Inland zurückgekehrt wäre. Diesen Satz hat auch das BSG nicht aufgestellt. Das BSG hatte in der von dem Berufungsgericht zitierten und in SozR Nr. 13 zu § 1251 RVO veröffentlichten Entscheidung darüber zu befinden, ob von einer "Rückkehr aus dem Ausland" auch gesprochen werden dürfe, wenn der Versicherte sich vorher niemals im Inland aufgehalten hatte, mithin rein sprachlich nicht von einem "Rückkehrer" die Rede sein konnte. Von diesem für die angeführte Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkt her sind die weiteren Urteilserwägungen zu verstehen. Daran, daß der Versicherte des damaligen Rechtsstreits in jedem Fall von dem Wunsch beseelt war nach Deutschland zu reisen, diesen Entschluß aber nicht verwirklichen konnte, weil er 1914 als Deutscher in Rußland interniert wurde, bestand kein Zweifel. Tatsächlich war er auch nach Kriegsende 1918 nach Deutschland gekommen. Durch diese Umstände unterscheidet sich der damals beurteilte Sachverhalt vom dem des gegenwärtigen Rechtsstreits. Schon deshalb können die damaligen Urteilsüberlegungen nicht uneingeschränkt als Richtschnur für die hier zu treffende Entscheidung übernommen werden. Vor allem aber hat das BSG die gesetzliche Beweislastverteilung nicht umkehren wollen. Es ist auch sonst kein Grund zu erkennen, wonach der Tatbestand einer verhinderten Rückkehr im Sinne des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO, der begrifflich den Rückkehrwillen des Versicherten und damit die Erfüllung eines subjektiven Merkmals voraussetzt, durch eine Vermutung verkürzt werden sollte. Vielmehr sind für den Nachweis einer Verwirklichung dieses Kriteriums greifbare Tatsachen zu fordern (ebenso BSG SozR Nr. 55 zu § 1251 RVO).

Mit dem Rückgriff auf eine Vermutung ist dem Berufungsrichter ein Verfahrensmangel unterlaufen. Er hat sich über das Bestehen einer Rechtsnorm geirrt, durch welche der Weg seiner Urteilsfindung bestimmt worden ist; er hat den rechtserheblichen Sachverhalt nicht vollständig aufgeklärt (§ 103, 128 Abs. 1 Satz 1 SGG). Mit dem darauf gegründeten Revisionsangriff hat sich die Beklagte das Rechtsmittel eröffnet. Weil nicht auszuschließen ist, daß das Berufungsurteil ohne den bezeichneten Mangel anders ausgefallen wäre, ist die Revision auch begründet. Insbesondere kann der Wille zur Rückkehr nicht allein und zwingend schon daraus gefolgert werden, daß der Versicherte sich im September 1939 bei der deutschen Botschaft in B gemeldet hat (ebenso BSG SozR Nr. 55 zu § 1251 RVO). Dieser Ansicht war auch das LSG; denn sonst hätte es seine Entscheidung insoweit nicht auf eine Vermutung zu stützen brauchen. Weitere Beweismöglichkeiten auf welche die Beklagte hingewiesen hat (etwa Anhörung des Klägers, Vernehmung seiner Ehefrau und der Nachbarn). bieten sich an. Damit die noch nötigen Ermittlungen nachgeholt werden können, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Über die Pflicht zur Kostenerstattung für das Revisionsverfahren bleibt die Entscheidung dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657452

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge