Leitsatz (redaktionell)
Zu den schädigenden Vorgängen iS des BVG § 5 Abs 1 Buchst d ist auch eine Strafe zu rechnen, die von einem Gericht der Besatzungsmacht verhängt worden ist, wenn sie dem Unrechtsgehalt des Verhaltens des Betroffenen nach deutscher Rechtsauffassung offensichtlich nicht entsprochen hat.
Normenkette
BVG § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 27. September 1961 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Ehemann und Vater der Kläger, N F, geb. 22. Sept. 1905 (F.) war im Jahre 1944 Polizeimeister und Leiter einer Gendarmeriestation in einem ländlichen Bezirk Hessens; er wurde im Jahre 1945 von einem amerikanischen Militärgericht zum Tode verurteilt; F. war zur Last gelegt, am 29. August 1944 bei der Tötung zweier notgelandeter amerikanischer Flieger mitgewirkt oder als diensttuender Polizeimeister das Verbrechen nicht verhindert zu haben. F. wurde am 1. April 1946 hingerichtet. Wegen des gleichen Vorgangs wurde auch der Postfacharbeiter Fl. zum Tode verurteilt und hingerichtet. In einer Zeitungsnotiz aus dem Jahre 1946 (Name der Zeitung und Datum der Veröffentlichung sind bisher nicht ermittelt) über "einen weiteren Kriegsverbrecherprozeß vor dem Militärgericht der 3. amerikanischen Armee" heißt es, "Zeugen haben ausgesagt, die Flieger seien von Fl. auf Befehl des F. totgeschlagen worden".
Die Kläger beantragten im September 1951 Hinterbliebenenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG); sie trugen vor, F. sei zu Unrecht zum Tode verurteilt worden, er sei an der Tötung der beiden Flieger nicht beteiligt gewesen.
Das Versorgungsamt Darmstadt stellte darauf Ermittlungen an. Der Hauptwachtmeister der Schutzpolizei a. D. St bekundete, an dem Tage, an dem die beiden Flieger umgebracht worden seien, habe gerade eine große Beerdigung der bei dem Luftangriff auf die Gemeinde Gefallenen stattgefunden, eine größere Menschenmenge habe eine drohende Haltung gegen die gefangenen Flieger eingenommen; wer sie erschlagen habe, habe er - St - nicht erfahren. Der Ob.Reg.Med.Rat i. R. Dr. Sch teilte dem Versorgungsamt mit, er habe als damaliger Kreisarzt den Tod der beiden amerikanischen Soldaten gerichtsärztlich bescheinigen müssen, er sei auch bei der Gerichtsverhandlung im Jahre 1945, in der F. und Fl. zum Tode verurteilt worden seien, als ärztlicher Sachverständiger aufgetreten; soweit er sich noch erinnere, sei F. nicht etwa beschuldigt worden, sich selbst an dem Mord beteiligt zu haben, seine Schuld sei vielmehr darin gesehen worden, daß er als zuständiger Leiter der Polizei des Ortes die beiden Soldaten nicht in Schutzhaft genommen, sondern durch sein Verhalten geduldet habe, daß sie von der Volksmenge mißhandelt worden seien; soviel er noch wisse, habe F. während der Mißhandlung das Polizeirevier verlassen und nach seiner Rückkehr eine Bemerkung gemacht, aus der zu entnehmen gewesen sei, daß er das Geschehene nicht mißbilligt habe.
Das Versorgungsamt lehnte mit Bescheid vom 6. Oktober 1954 das Versorgungsbegehren ab, weil nicht nachgeprüft werden könne, ob es sich bei dem Urteil des amerikanischen Militärgerichts um ein Fehlurteil gehandelt habe; ein Nachweis dafür, daß F. versucht habe, die gefangenen Flieger vor Mißhandlungen zu schützen, wozu er als Polizist verpflichtet gewesen wäre, sei nicht erbracht; ein schädigender Vorgang im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchstabe d BVG sei daher nicht gegeben. Das Landesversorgungsamt wies den Widerspruch am 13. Januar 1955 zurück. Mit der Klage machten die Kläger geltend, F. sei nicht schuldig am Tode der gefangenen Flieger, er sei im Zeitpunkt des Geschehens nicht an dem Tatort gewesen, er habe auch dem Postfacharbeiter Fl. keinen Befehl zum Töten der Gefangenen gegeben; er habe die verwerfliche Lynchjustiz der aufgebrachten Menge nicht verhindern können. Die Kläger überreichten eine Erklärung des Oberpfarrers a. D. Msgr. K. M aus L vom 22. November 1960. Darin heißt es, F. habe vor seiner Hinrichtung mit ihm - M - über seinen Fall gesprochen, er habe gesagt, er sei unschuldig, er habe die verwundeten Flieger der wütenden Volksmenge entrissen und sie auf den Boden im Hof des Polizeigebäudes gelegt, das Eingangstor zum Hofe geschlossen und sei dann an das Telefon gegangen, um den Arzt zu rufen, währenddessen seien die Flieger von zwei in den Hof eingedrungenen Männern getötet worden; er - M - habe die feste Überzeugung, daß F. tatsächlich unschuldig gewesen sei am Tode der beiden amerikanischen Flieger; auch der mitverurteilte Fl. habe ihm kurz vor seinem Tode versichert, daß F. unschuldig gewesen sei.
Das Sozialgericht Darmstadt sprach mit Urteil vom 19. Dezember 1960 den Klägern die Hinterbliebenenrente zu; es führte aus, das Urteil des amerikanischen Militärgerichts gegen F. wegen angeblicher Kriegsverbrechen nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 stehe der Versorgung nicht entgegen; nach der Aussage des Ob.Med.Rats Dr. Sch sei davon auszugehen, daß dem F. eine Beteiligung an dem Lynchtod der Flieger nicht nachgewiesen sei; seine Strafe stehe in offenbarem schweren Mißverhältnis zur begangenen Tat; der Versorgungsanspruch sei daher nach § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG begründet.
Auf die Berufung des Beklagten hob das Hessische LSG mit Urteil vom 27. September 1961 das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt auf und wies die Klage ab. Es führte aus, das Urteil des amerikanischen Militärgerichts, durch das F. wegen Kriegsverbrechens zum Tode verurteilt worden sei, "sei in jeder Hinsicht nach deutschem Recht rechtskräftig und rechtswirksam und von deutschen Gerichten und Behörden demgemäß zu behandeln". Ein Versorgungsanspruch nach § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG komme im übrigen schon deshalb nicht in Betracht, weil das Militärgerichtsurteil nicht während der spätestens im Sommer 1945 beendeten militärischen Besetzung deutschen Gebiets, sondern erst während der anschließenden Besatzungszeit erlassen und vollstreckt wurde, so daß keine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 5 BVG Abs. 1 Buchst. d vorliege.
Das LSG ließ die Revision zu.
Das Urteil des LSG wurde den Klägern am 24. Oktober 1961 zugestellt. Die Kläger legten am 10. November 1961 Revision ein. Sie beantragten,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Darmstadt vom 19. Dezember 1960 zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kläger begründeten die Revision - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 11. Januar 1962. Sie machten geltend, das LSG habe die Vorschriften des § 1 Abs. 2 Buchst. a i. V. m. § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG unrichtig angewandt.
Der Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG) einverstanden.
II.
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft. Die Kläger haben die Revision frist- und formgerecht eingelegt und begründet, die Revision ist danach zulässig. Die Revision ist auch begründet.
Das LSG hat den Anspruch der Kläger auf Hinterbliebenenversorgung aus unzutreffenden rechtlichen Erwägungen verneint.
Das LSG hat angenommen, in der Hinrichtung des F. auf Grund des Urteils des amerikanischen Militärgerichts liege schon deshalb kein schädigender Vorgang im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG, weil das Militärgerichtsurteil nicht während der spätestens im Sommer 1945 beendeten militärischen Besetzung deutschen Gebiets, sondern erst während der anschließenden Besatzungszeit erlassen und vollstreckt worden ist; diese Auffassung trifft nicht zu. Der Begriff "militärische Besetzung" im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG umfaßt nicht nur den Vorgang der Inbesitznahme, den eigentlichen Besetzungsakt, sondern auch den nachfolgenden Zustand des Besetzthaltens, deshalb kann auch noch nach der Inbesitznahme deutschen Gebiets der Tatbestand des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG verwirklicht sein, wenn und solange die besondere, d. h. die der Besetzung eigentümliche, Gefahr fortbestanden hat; diese Gefahr hat jedenfalls noch in der Zeit, in der das besatzungsgerichtliche Todesurteil gegen F. erlassen und vollstreckt worden ist (April 1946), bestanden (vgl. BMA vom 19. Dezember 1951 Bundesverwaltungsblatt 1952 S. 2 Nr. 2; Wilke Bundesversorgungsgesetz 1960 zu § 5 IV 1 S. 66; vgl. ferner u. a. BSG 2, 99; 4, 234; 5, 160; 8, 203 mit weiteren Nachweisen).
Ebensowenig trifft die Auffassung des LSG zu, ein Versorgungsanspruch nach § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG sei schon deshalb zu verneinen, weil die Hinrichtung des F. auf einem "in jeder Hinsicht nach deutschem Recht rechtskräftigen und rechtswirksamen" Urteil eines Besatzungsgerichts beruht habe; das LSG hat das Urteil des Besatzungsgerichts nicht als zu Recht ergangen hinnehmen müssen (BSG 16, 182 mit weiteren Hinweisen, ferner Urteil des BSG vom 31. Juli 1962 - 9 RV 934/57 - vgl. auch Urteil des BGH vom 9.9.58, veröffentlicht in "Der Versorgungsbeamte" 1958, 142 mit weiteren Hinweisen. Das LSG hat von sich aus prüfen müssen, ob F. Opfer eines schädigenden Vorganges im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG geworden ist oder ob sein eigenes Verhalten dies ausgeschlossen hat.
Zu den schädigenden Vorgängen, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen Gebiets zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind (§ 5 Abs. 1 Buchst. d BVG), ist auch eine Strafe zu rechnen, die von einem Gericht der Besatzungsmacht verhängt worden ist, wenn sie dem Unrechtgehalt des Verhaltens des Betroffenen - nach deutscher Rechtsauffassung - offensichtlich nicht entsprochen hat. Das LSG hat prüfen müssen, ob dieser Voraussetzungen im vorliegenden Falle erfüllt gewesen sind.
Das LSG ist, weil es den Versorgungsanspruch aus unzutreffenden rechtlichen Erwägungen verneint hat, zur Prüfung der hier entscheidenden Fragen, nicht gekommen, es hat nicht geprüft, wie das Verhalten des F. nach deutschem Recht straf-rechtlich zu würdigen gewesen ist und ob zwischen der von dem Besatzungsgericht verhängten Strafe und der Strafe, auf die vermutlich ein deutsches Gericht erkannt hätte, ein grobes Mißverhältnis besteht, das den versorgungsrechtlich geschützten Tatbestand des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG erfüllt; es hat auch insoweit keine rechtserheblichen Tatsachen festgestellt (vgl. im einzelnen hierzu BSG 16, 182 mit weiteren Hinweisen).
Die Revision des Klägers ist sonach begründet. Das BSG kann nicht in der Sache selbst entscheiden, da noch tatsächliche Feststellungen erforderlich sind. Die Sache ist deshalb zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen