Entscheidungsstichwort (Thema)
Tatsächliche Unterhaltsleistung bei Unterhaltsverzicht
Leitsatz (redaktionell)
Die Eheleute hatten vereinbart, daß die Frau nach der Scheidung - Mai 1968 - bis zum 1969-12-31 als Unterhaltsleistung vom Mann monatlich 400.-- DM erhalten sollte. Im September 1968 verstarb der Mann.
Aus der Unterhaltsersatzfunktion der Rente nach RVO § 1265 ergibt sich, daß die Entscheidung über ihre Gewährung oder Ablehnung nicht durch Umstände bestimmt werden darf, die nicht auf einen Dauerzustand in den Verhältnissen der Beteiligten schließen lassen. Nach RVO § 1265 S 1 3. Alternative sollen sich daher die Zahlungen in der Regel auf den vollen Jahreszeitraum vor dem Tode des Versicherten erstrecken und nicht nur vorübergehender Natur sein. Da die frühere Ehefrau zum 1969-12-31 Unterhaltsverzicht erklärt hatte, betrachtete der Senat die vom Versicherten übernommene Unterhaltsverpflichtung und seine bis zum Tode gebrachten tatsächlichen Leistungen nur als vorübergehende Besonderheiten in den unterhaltsrechtlichen Beziehungen der geschiedenen Ehegatten, die für die Zubilligung der begehrten Hinterbliebenenrente nicht ausschlaggebend sein können.
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Alt. 3 Fassung: 1957-02-23, § 42 S. 1 Alt. 3 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 10. März 1972 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat der Beigeladenen auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten; im übrigen sind außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Hinterbliebenenrente gemäß § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aus der Versicherung ihres früheren Ehemannes zusteht.
Die am 29. Mai 1931 geborene Klägerin war mit dem am 22. Juni 1930 geborenen Versicherten seit September 1957 verheiratet. Aus der Ehe sind zwei in den Jahren 1958 und 1962 geborene Kinder hervorgegangen. Die Ehe wurde durch Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 21. Mai 1968, das am 25. Juli 1968 rechtskräftig geworden ist, aus dem alleinigen Verschulden des Versicherten geschieden. Bereits am 28. Februar 1968 hatten die Klägerin und der Versicherte für den Fall einer rechtskräftigen Scheidung eine schriftliche Unterhaltsvereinbarung getroffen. Darin verpflichtet sich der Versicherte, bis zum 31. Dezember 1969 an die Klägerin monatlich 400,- DM als Unterhalt zu zahlen. Im übrigen erklärten die Vertragspartner, für alle Zukunft auf die Geltendmachung von Notunterhaltsansprüchen zu verzichten. Außerdem sagte der Versicherte der Klägerin zu, ihr 25.000,- DM zu zahlen, falls sie bis zum 31. Dezember 1969 den Nachweis für die Möglichkeit erbringe, sich eine Existenzgrundlage zu verschaffen. Ferner verpflichtete sich der Versicherte zur Zahlung von jeweils 200,- DM für jedes der beiden Kinder, insgesamt also zur Zahlung von 400,- DM monatlich.
Die Klägerin hat vom Versicherten die vereinbarten Unterhaltszahlungen von zusammen 800,- DM monatlich zunächst bis zum September 1968 erhalten, außerdem am 20. April 1968 8.000,- DM und am 25. September 1968 10.000,- DM.
Am 13. September 1968 ging der Versicherte eine neue Ehe mit der am 21. Dezember 1940 geborenen Beigeladenen ein, die ihm am 22. Juli 1967 einen Sohn geboren hatte, der durch die nachfolgende Eheschließung legitimiert worden ist.
Am 26. September 1968 ist der Versicherte gestorben. Nach seinem Tode ist der Klägerin ihr Unterhaltsbetrag von monatlich 400,- DM weiter bis zum 31. Dezember 1969 teils in bar, teils im Wege der Verrechnung gezahlt worden. Auch den an der vereinbarten Summe von 25.000,- DM fehlenden Rest von 7.000,- DM hat sie nach dem Tode des Versicherten noch erhalten.
Im Dezember 1968 beantragten sowohl die Klägerin als auch die Beigeladene Zahlung von Hinterbliebenenrenten aus der Rentenversicherung des Verstorbenen. Die Beklagte bewilligte durch Bescheid vom 24. Juli 1969 der Beigeladenen Witwenrente, und zwar für 1968 in Höhe von 230,50 DM monatlich. Den Antrag der Klägerin lehnte sie dagegen mit Bescheid vom 8. September 1969 mit der Begründung ab, nach der Vereinbarung vom 28. Februar 1968 habe sie auf jeglichen Unterhaltsanspruch einschließlich des Notbedarfs verzichtet, so daß ein Unterhaltsanspruch weder nach den Vorschriften des Ehegesetzes noch aus sonstigen Gründen bestehe; bei der bis Dezember 1969 befristeten Zahlung handele es sich um eine Art Überbrückungshilfe, bis die angestrebte Existenzgrundlage geschaffen worden sei. Durch die zeitliche Begrenzung der Zahlung sei eindeutig widerlegt, daß die beantragte Rente ein Ersatz für den Fortfall eines Unterhalts gewesen wäre; eine beachtenswerte Unterhaltszahlung im letzten Jahr vor dem Tode des Versicherten sei somit nicht erfolgt; der geltend gemachte Anspruch sei auch nicht nach § 42 Satz 2 AVG begründet, da der Versicherte eine anspruchsberechtigte Witwe hinterlassen habe.
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab Januar 1969 Hinterbliebenenrente zu gewähren. Es hielt den erhobenen Anspruch deshalb für begründet, weil der Versicherte der Klägerin vor seinem Tode tatsächlich Unterhalt geleistet habe.
Auf die Berufungen der Beklagten und der Beigeladenen hat das Landessozialgericht (LSG) Berlin das angefochtene Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Hiergegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Klägerin. Sie beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG Berlin vom 10. März 1972 aufzuheben und die Berufungen der Beklagten und der Beigeladenen gegen das Urteil des SG Berlin vom 28. April 1971 zurückzuweisen.
Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Im Termin war nur für die Beklagte ein Vertreter erschienen. Seinem Antrag entsprechend hat der Senat nach Lage der Akten entschieden (§ 126 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II.
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet.
Nach § 42 Abs. 1 Satz 1 AVG wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten geschieden, für nichtig erklärt oder aufgehoben ist, nach dem Tode des Versicherten Rente gewährt, wenn dieser ihr zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat.
Hierzu ist das LSG der Auffassung, gesetzlichen Unterhalt gemäß den §§ 58, 59 des Ehegesetzes (EheG) habe der Versicherte der Klägerin bereits deshalb nicht geschuldet, weil die geschiedenen Eheleute von der in § 72 EheG vorgesehenen Möglichkeit, die Unterhaltsfrage durch Vereinbarung zu regeln, am 28. Februar 1968 Gebrauch gemacht hätten. Damit sei für die Unterhaltsansprüche der Klägerin ausschließlich die damals getroffene Vereinbarung maßgebend.
Unterhaltsvereinbarungen seien zwar an sich geeignet, eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten aus sonstigen Gründen im Sinne der zweiten Alternative des § 42 Satz 1 AVG auszulösen. Die Voraussetzungen hierfür würden jedoch durch die Vereinbarung vom 28. Februar 1968 nicht erfüllt. Maßgebend müsse der letzte wirtschaftliche Dauerzustand sein. Die Frage, ob der Versicherte z. Zt. seines Todes Unterhalt zu leisten hatte, sei dabei im vorliegenden Falle nach demjenigen wirtschaftlichen Dauerzustand zu beurteilen, der sich unter den geschiedenen Ehegatten bei einem längeren Zeitraum zwischen Scheidung und Tod wahrscheinlich ergeben hätte (BSG 14, 255 und SozR § 1265 Reichsversicherungsordnung - RVO - Nr. 24 und 32). Ein solcher Dauerzustand hätte sich in den Verhältnissen der geschiedenen Eheleute erst nach Beendigung der vorübergehenden Zahlungen des Versicherten und mit der Begründung einer neuen, eigenen Existenz der Klägerin durch entsprechende Verwertung der ihr hierfür zur Verfügung gestellten 25.000,- DM entwickeln können. Während eines solchen Dauerzustandes nach Abschluß der Übergangszeit der Alimentierung wäre dann aber der Unterhaltsverzicht in der Vereinbarung vom 28. Februar 1968 voll wirksam gewesen, der für alle Zukunft hätte gelten sollen und Unterhaltsansprüche aller Art ausgeschlossen habe. Hieraus folge, daß der Versicherte der Klägerin, ausgehend von dem in ihrem besonderen Fall maßgebenden, in der Zukunft mit Wahrscheinlichkeit zu erwartenden wirtschaftlichen Dauerzustand zum Unterhalt aus sonstigen Gründen nicht verpflichtet gewesen sei.
Der Versicherte habe der Klägerin aber auch im letzten Jahr vor seinem Tode keinen tatsächlichen Unterhalt geleistet. Der zu seinen Lebzeiten gezahlte Betrag von insgesamt 18.000,- DM sei ohnehin nicht als Unterhalt gedacht gewesen. Er sei auch keine Unterhaltsabfindung gewesen. Lediglich die monatlichen Zahlungen von 400,- DM hätten als Unterhalt angesehen werden können. Sie seien jedoch gleichwohl auch kein Unterhalt im Sinne der letzten Alternative des § 42 Satz 1 AVG gewesen, weil sie nur bis zum 31. Dezember 1969 hätten gezahlt werden müssen. Daß sie sich nicht über den gesamten Jahreszeitraum vor dem Tode des Versicherten erstreckten, wirke sich zwar nicht zu Lasten der Klägerin aus, da der Versicherte früher als ein Jahr nach der Scheidung verstorben sei (BSG 14, 225; 20, 252). Dennoch sei der Klägerin kein solcher Unterhalt gewährt worden, der im Sinne der letzten Alternative des § 42 Satz 1 AVG eine Rentenleistung hätte auslösen können. Hierzu sei nicht jeder Unterhalt geeignet. In der Rechtsprechung sei z. B. anerkannt, daß die Hingabe geringfügiger, für den Lebensbedarf der geschiedenen Frau unwesentlicher Beiträge nicht ausreiche. Dies werde mit der Unterhaltsersatzfunktion der Rente begründet. Dieser Zweck würde aber nicht nur verfehlt, wenn unbedeutende Unterhaltsleistungen zur Rentengewährung führen würden, sondern auch dann, wenn zeitweilige Leistungen ein solches Ergebnis hätten. Dementsprechend müßten für die dritte Alternative solche Leistungen außer Betracht bleiben, denen eindeutig und von Beginn an die Dauerhaftigkeit ermangele.
Diesen Ausführungen schließt sich der Senat im wesentlichen an. Zu Unrecht wendet die Klägerin hiergegen ein, ihr sei im letzten Jahr vor dem Tode nicht nur geringfügiger Unterhalt gezahlt worden, die Voraussetzungen des § 42 AVG seien danach gegeben, die gegenteilige Auffassung des LSG stünde im Widerspruch zu dem klaren Wortlaut des Gesetzes; es könne nicht Aufgabe eines Gerichts sein, zu prüfen, ob sich durch eine gesetzliche Regelung im Einzelfall widersinnige Ergebnisse einstellten; eine solche Nachprüfung sei allein Aufgabe des Gesetzgebers. Es wäre ein unhaltbarer Zustand, wenn es im Ermessen des Gerichtes stünde, ob es eine gesetzliche Bestimmung anwenden wolle oder ihre Anwendung von Voraussetzungen abhängig mache, die im Gesetz selbst nicht verankert seien.
Die Rente nach § 42 AVG hat Unterhaltsersatzfunktion, sie wird im Hinblick darauf gewährt, daß die frühere Ehefrau durch den Tod des Versicherten Rechtsansprüche auf Unterhalt (§ 42 Satz 1 AVG, 1. und 2. Alternative) oder auf tatsächlich gewährte Unterhaltsleistungen verliert; für die ersten beiden Alternativen wird im Gesetz auf die "Zeit seines - des Versicherten - Todes", für die letzte Alternative auf die Verhältnisse "im letzten Jahr vor seinem Tode" abgestellt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) meint das Gesetz mit der Zeit seines Todes i. S. der beiden ersten Alternativen den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten, weil nur bei dieser Auslegung verhindert wird, daß vorübergehend oder zufällig bestehende Besonderheiten in den unterhaltsrechtlichen Beziehungen für die Gewährung oder Versagung der meist lebenslänglichen Hinterbliebenenrente den Ausschlag geben. Dieser Erwägung ist für die letzte Alternative des § 42 Satz 1 AVG im Gesetz selbst dadurch Rechnung getragen, daß Unterhaltsleistungen des Versicherten den Anspruch auf Rente nur dann auslösen, wenn sie im letzten Jahr vor seinem Tode erbracht worden sind. Das bedeutet, daß diese Zahlungen sich in der Regel auf den vollen Jahreszeitraum vor dem Tode des Versicherten erstrecken müssen. Nur diese Auslegung verhindert - ebenso wie die Berücksichtigung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes in den beiden ersten Alternativen - auch bei der letzten Alternative, daß die Entscheidung über die Gewährung oder Versagung der Rente durch Umstände bestimmt wird, die nicht auf einen Dauerzustand in den Verhältnissen der Beteiligten schließen lassen und objektiv nicht feststellbar sind. Diese Auslegung steht nicht im Widerspruch zu dem Gesetz, sondern sie Wird durch die Unterhaltsersatzfunktion der Hinterbliebenenrente geboten (ua BSG 25, 86, 88). Das alles hat aber nur Sinn, wenn der damit mangelnde Zustand vor dem Tode des Versicherten kein bloß vorübergehender ist (BSG, SozR Nr. 46 zu § 1265 RVO). Zutreffend haben die Beklagte und das LSG deshalb entscheidendes Gewicht auf den umfassenden Unterhaltsverzicht der Klägerin gelegt, der zum 31. Dezember 1969 wirksam werden sollte. Im Hinblick auf ihn können die übernommene Unterhaltsverpflichtung ebenso wie die bis zum Tode des Versicherten erbrachten Unterhaltsleistungen nur als vorübergehende Besonderheiten in den unterhaltsrechtlichen Beziehungen gesehen werden, die für die Gewährung oder die Versagung der Hinterbliebenenrente nicht den Ausschlag geben dürfen. Denn wollte man hier die von vornherein zeitlich verhältnismäßig eng begrenzte Unterhaltsverpflichtung und Unterhaltsleistung deshalb als Dauerzustand werten, weil sie bis zum Tode des Versicherten gedauert hat und noch einige Zeit fortbestanden hätte, dann würde letztlich doch die Zufälligkeit ausschlaggebend sein, daß der Versicherte unerwartet früh gestorben ist. Das soll aber mit dem Abstellen auf den letzten Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten gerade vermieden werden (SozR Nr. 46 zu § 1265 RVO).
Damit erweist sich das angefochtene Urteil als richtig, so daß die Revision der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen