Entscheidungsstichwort (Thema)

Neuer Verwaltungsakt während des Revisionsverfahrens. Rentenruhen bei Auslandsaufenthalt. Freiwilligkeit des Auslandsaufenthalts

 

Orientierungssatz

1. Während des Revisionsverfahrens ergehende, den ursprünglichen Bescheid abändernde Verwaltungsakte werden nicht Gegenstand des Verfahrens, da sie gemäß SGG § 171 Abs 2 mit dem ursprünglichen Verwaltungsakt als angefochten gelten.

2. Ein im Ausland lebender Kläger kann die Auszahlung einer Rente, über die das Ruhen nach AVG § 94 angeordnet worden ist, nicht erreichen, wenn er sich nicht unfreiwillig in diesem Land befindet.

An diesem Merkmal fehlt es auch bei ehemaligen rassisch Verfolgten des Nationalsozialismus, die keinen Rückkehrwillen mehr haben.

 

Normenkette

AVG § 94 Fassung: 1960-02-25; RVO § 1315; AVG § 100 Abs. 1 Fassung: 1960-02-25, Abs. 5 Fassung: 1960-02-25; SGG § 171 Abs. 2; RVO § 1321 Abs. 1 Fassung: 1960-02-25, Abs. 5 Fassung: 1960-02-25

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 21.01.1971)

SG Berlin (Entscheidung vom 25.08.1969)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. August 1969 und das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 21. Januar 1971 aufgehoben, soweit sie die Zeit vom 15. Juli 1964 an und die Kostenentscheidung betreffen.

Im übrigen wird die Revision mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß der Bescheid der Beklagten vom 2. Mai 1972 als mit der Klage beim Sozialgericht Berlin angefochten gilt.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Kläger ist am 25. November 1898 in Debreczen (Ungarn) geboren und ungarischer Staatsangehöriger. Er gehört zum Personenkreis der rassisch Verfolgten im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Von 1925 bis 1933 hatte er sich in Deutschland aufgehalten und war hier mit Unterbrechungen bei verschiedenen Firmen in H und B als Angestellter versicherungspflichtig tätig gewesen. Im Frühjahr 1933 kehrte er nach Ungarn zurück und lebt seitdem dort.

Im März 1967 beantragte er die Gewährung von Altersruhegeld aus der Angestelltenversicherung (AnV). Die Beklagte sah die hierfür erforderliche große Wartezeit aufgrund der zurückgelegten Versicherungszeiten und einer Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) als erfüllt an und bewilligte ihm dementsprechend durch Bescheid vom 6. März 1968 die begehrte Rente vom 1. November 1963 an; gleichzeitig ordnete sie jedoch das Ruhen der Rente nach § 94 AVG idF des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) vom 25. Februar 1960 (BGBl I 93) an, weil der Kläger sich freiwillig im Ausland aufhalte.

Hiergegen erhob der Kläger Klage vor dem Sozialgericht (SG) Berlin mit dem Antrage,

den Bescheid vom 6. März 1968 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die ihm zugesprochene Rente nach Ungarn auszuzahlen.

Diese Klage hat das SG abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat die Auffassung des SG gebilligt, daß die Voraussetzungen für das Ruhen der Rente gemäß § 94 AVG erfüllt seien. Die Frage, ob die Rente nach § 100 Abs. 1 und 5 AVG gezahlt werden könne, sei nicht Gegenstand des Verfahrens. Darauf hat der Kläger die vom LSG in seinem Urteil vom 21. Januar 1971 zugelassene Revision eingelegt, mit der er zunächst ausschließlich unrichtige Anwendung des § 94 AVG rügte.

Mit Bescheid vom 2. Mai 1972 hat die Beklagte aufgrund des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) 12/11 RA 62/70 vom 2. Februar 1972 (SozR Nr. 5 zu § 1321 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) die ausgesprochene Ruhensanordnung mit Wirkung vom 15. Juli 1964 an, dem Tage der Errichtung der Handelsvertretung der Bundesrepublik Deutschland - BRD - in Ungarn, aufgehoben und die Zahlung der Rente von diesem Zeitpunkt an nach § 100 Abs. 1 i. V. mit Abs. 5 AVG angeordnet; der Kläger hat demgemäß die entsprechende Nachzahlung erhalten und bezieht jetzt auch laufend die ihm bewilligte Rente.

Der Kläger beantragt deshalb nur noch,

die Beklagte auch zur restlichen Auszahlung der Rente für die Zeit vom Eintritt des Versicherungsfalles am 1. November 1963 bis zum 14. Juli 1964 zu verpflichten.

Zur Begründung führt er an, der Anspruch auf die Auszahlung für den genannten Zeitraum ergebe sich aus dem erwähnten Urteil vom 2. Februar 1972. Danach habe das Bestehen einer amtlichen Vertretung nur insofern eine Bedeutung, als diese solle nachprüfen können, ob der Rentenempfänger die Leistung tatsächlich in ihrem vollen Gegenwert und zusätzlich zu seinen übrigen Einkünften in dem auswärtigen Staat erhalte. Dieser Gedanke, daß der Rentenberechtigte wirklich in den vollen Genuß seiner Rente kommen solle, sei der einzige Zweck der Einschaltung der amtlichen Vertretung der BRD. Nachdem diese nunmehr seit dem 15. Juli 1964 in Ungarn bestehe, vermöge sie auch die genannten Fragen zu prüfen, insbesondere also auch, ob durch die Rentenzahlungen etwa lediglich das Devisenaufkommen des auswärtigen Staats gesteigert werde, ohne daß der Versicherte entsprechende Leistungen erhalte. Eine derartige Überprüfung könne aber für die gesamte Zeit ab Eintritt des Versicherungsfalles erfolgen. Es sei daher nicht gerechtfertigt, den Zeitpunkt der Errichtung der amtlichen Vertretung der BRD in Ungarn als ausschlaggebend für den Beginn der Auszahlung der Rente anzusehen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen,

soweit sie aufrechterhalten wird. Vor der Errichtung der Handelsvertretung der BRD in B am 15. Juli 1964 hätten die Voraussetzungen für eine Auszahlung der Rente als Kannleistung nach § 100 Abs. 1 und 5 AVG nicht bestanden.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II.

Der Senat kann hinsichtlich der allein noch in Streit befindlichen Zeit vom 1. November 1963 bis 14. Juli 1964 nicht abschließend entscheiden. Der Bescheid vom 2. Mai 1972 ist nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden. Denn § 171 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) schreibt vor, daß, wenn während des Revisionsverfahrens der angefochtene Verwaltungsakt durch einen neuen abgeändert oder ersetzt wird, der neue Verwaltungsakt als mit der Klage beim Sozialgericht angefochten gilt. Zwar ist eine Ausnahme für den Fall vorgesehen, daß der Kläger u. a. durch den neuen Verwaltungsakt klaglos gestellt wird. Außerdem hat das BSG bereits entschieden, daß ein während des Revisionsverfahrens ergangener Bescheid, der den streitigen aufhebt, aber die gleiche Rechtsfolge nur mit einer neuen Begründung ausspricht, nicht als neuer Verwaltungsakt i. S. von § 171 Abs. 2 SGG anzusehen und daher vom Revisionsgericht nachzuprüfen ist (BSG, SozR Nr. 3 zu § 171 SGG). Diese Ausnahmen liegen indes hier nicht vor.

Der Bescheid vom 2. Mai 1972 hat den Kläger lediglich hinsichtlich der Zeit vom 15. Juli 1964 an klaglos gestellt und außerdem selbst insoweit nicht in vollem Umfange, da er den Anspruch auf Zahlung der Rente ins Ausland nur als Ermessens- und nicht als Pflichtleistung anerkennt. Hinsichtlich der vorhergehenden Zeit hat er zwar die gleiche Rechtsfolge wie der Bescheid vom 6. März 1968, daß nämlich dem Kläger für diesen Zeitraum die Rente weiterhin nicht gezahlt wird; dies ist in dem Bescheid vom 2. Mai 1972, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch dem Sinne nach erneut ausgesprochen. Aber die Begründung hierfür, wie sie sich aus dem Zusammenhang mit den vorangegangenen Bescheiden und dem ergänzend heranzuziehenden Schriftsatz vom 21. Juli 1972 ergibt, die grundsätzlich nach § 94 AVG ruhende Rente werde auch nicht nach § 100 Abs. 1 und 5 AVG gezahlt, stellt insofern eine neue Entscheidung dar, als die Beklagte damit auch eine Ermessensentscheidung getroffen hat. Deshalb liegt der erwähnte Ausnahmefall von BSG SozR Nr. 3 zu § 171 SGG ebenfalls nicht vor. Dadurch, daß der Kläger ausweislich seines letzten Revisionsantrages und seiner Begründung dazu im übrigen den Bescheid vom 2. Mai 1972 in Verbindung mit dem alten Bescheid vom 6. März 1968 nicht angreift, ist der Bescheid vom 2. Mai 1972 nicht Gegenstand des anhängigen Revisionsverfahrens geworden. Vielmehr kann, nachdem auch die Beklagte insoweit auf einem Ruhen der Rente nicht mehr besteht, der Rechtsstreit aufgrund der gestellten Anträge lediglich für die Zeit vom 15. Juli 1964 an, dem Tage der Errichtung der amtlichen Vertretung der BRD in Budapest, als erledigt angesehen werden.

Sonach kann der Senat nur darüber entscheiden, ob die Beklagte und die Vorinstanzen für die Zeit vom 1. November 1963 bis zum 14. Juli 1964 zu Recht angenommen haben, daß dem Kläger kein Rechtsanspruch auf Zahlung der Rente wegen Ruhens nach § 94 AVG zusteht, weil er sich freiwillig in Ungarn aufhielt. Insoweit ist jedoch dem angefochtenen Urteil zuzustimmen. Zutreffend hat es ausgeführt, daß sich unfreiwillig außerhalb des Geltungsbereichs des AVG nur aufhalten kann, wer gezwungen ist, gegen seinen auf Rückkehr gerichteten Willen dort zu verharren (vgl. BSG SozR Nr. 8 zu § 1315 RVO). Das Vorliegen einer Zwangssituation allein, die es dem Versicherten unmöglich macht, in die BRD zurückzukehren, genügt somit nicht. Aufgrund der vorliegenden Beweismittel ist das LSG jedoch in diesem Zusammenhang nach eingehender Würdigung aller Umstände zu dem Ergebnis gekommen, daß ein solcher Rückkehrwillen beim Kläger nicht bestanden hat. Hierbei handelt es sich um die Feststellung einer Tatsache, an die der Senat nach § 163 SGG gebunden ist, da der Kläger sie sowohl in der ursprünglichen Revisionsbegründung als auch in seinem späteren Schriftsatz vom 4. Juli 1972 nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsgründen angefochten hat. Statt dessen hat er sich in seiner Revisionsbegründung vom 4. Juni 1971 allein gegen die rechtliche Auffassung des LSG zur Notwendigkeit eines solchen Rückkehrwillens gewendet. Die Rechtsproblematik seines Falles liege in der Auslegung des Begriffs "Unfreiwilligkeit des Auslandsaufenthalts" im Sinne von § 94 Abs. 1 AVG überhaupt und insbesondere in seiner Auslegung für die Beurteilung der Naziverfolgten, die Deutschland zwangsweise verlassen mußten und denen eine Rückkehr nach Deutschland nicht zuzumuten sei. Dabei hätte vor allem § 8 Abs. 3 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes (FAG) vom 7. August 1953 (BGBl I 848) angewendet werden müssen. Danach habe sein Auslandsaufenthalt als unfreiwillig zu gelten.

Alle diese Einwände hat indes das LSG bereits eingehend geprüft und widerlegt. Insofern kann auf seine zutreffenden Ausführungen und den dort zitierten Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 29. September 1968, SozR Art. 14 GG Nr. 14, verwiesen werden. Insbesondere kann aber nicht anerkannt werden, daß der Kläger durch die Aufhebung des § 8 Abs. 3 FAG benachteiligt und in seinem Vertrauen auf dessen Fortbestand enttäuscht worden wäre. Dafür nimmt er an den wesentlichen Verbesserungen teil, welche die Rentenreform des Jahres 1957 mit ihren nachfolgenden Ergänzungen und Verbesserungen nicht nur allen Versicherten, sondern gerade auch den Verfolgten des Nationalsozialismus gebracht hat. Hierbei kommt ihm, wie jetzt durch das erwähnte Urteil vom 2. Februar 1972 klargestellt ist, auch die neue Regelung des § 100 Abs. 1 und 5 AVG zugute, auf die sich die laufende Rente des Klägers aufgrund seiner Versicherungszeit in Deutschland und die Nachzahlung stützen.

Somit ist die Revision, soweit sie aufrechterhalten worden ist, als unbegründet zurückzuweisen. Im übrigen sind die früheren Urteile aufzuheben, soweit sie durch den Bescheid vom 2. Mai 1972 erledigt sind, des weiteren ist klarzustellen, daß der Bescheid vom 2. Mai 1972 als mit der Klage beim Sozialgericht angefochten gilt.

Bei der auf § 193 SGG beruhenden Kostenentscheidung hat der Senat berücksichtigt, daß der Kläger im vorliegenden Verfahren im Ergebnis nahezu vollständig obgesiegt hat.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647492

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