Leitsatz (amtlich)

Die auf Grund des Abkommens über den Waren- und Zahlungsverkehr und über die Errichtung von Handelsvertretungen Regierung der Ungarischen Volksrepublik vom 1963-11-10 (BAnz 1964 Nr 14, 1) eingerichtete Handelsvertretung der Bundesrepublik Deutschland in der Ungarischen Volksrepublik ist eine amtliche Vertretung iS von RVO § 1321 Abs 1 S 1.

 

Normenkette

RVO § 1321 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1960-02-25; AVG § 100 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1960-02-25

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 7. Januar 1970 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Umstritten ist, ob die Beklagte die Zahlung des Altersruhegeldes des Klägers, der sich in B aufhält, mit der Begründung verweigern darf, daß die Bundesrepublik Deutschland (BRD) in Ungarn keine amtliche Vertretung habe (§ 100 Abs. 1 Satz 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -).

Der 1895 geborene Kläger stammt aus Ostpreußen und besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Er war 1939 nach Ungarn ausgewandert. Im November 1962 verlegte er seinen Wohnsitz nach Luxemburg. Seine Ehefrau lebt weiterhin in B. Die Beklagte gewährte Altersruhegeld (Bescheid vom 9. August 1962) und zahlte es auf ein Bankkonto des Klägers in H. Im November 1966 teilte die Ehefrau des Klägers der Beklagten mit, daß der Kläger einen Herzinfarkt erlitten habe, sich bei ihr in Budapest aufhalte und für längere Zeit nicht reisefähig sei. Der Kläger blieb in Luxemburg polizeilich gemeldet. Die Beklagte prüfte mehrmals, zuletzt im November 1967 durch die Handelsvertretung der BRD in B, ob der Kläger weiterhin wegen Krankheit reiseunfähig sei. Schließlich stellte sie mit Bescheid vom 3. April 1968 unter Hinweis auf § 100 Abs. 1 AVG die Auszahlung der Rente ein solange sich der Kläger im Gebiet eines ausländischen Staates aufhalte, in dem die BRD keine amtliche Vertretung habe; die BRD unterhalte in Ungarn keine diplomatische oder konsularische Vertretung. Der Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen (Bescheid vom 9. August 1968). Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 25. April 1969).

Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat das Urteil des SG sowie die Bescheide vom 3. April und 9. August 1968 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, den Kläger neu zu bescheiden. Die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 7. Januar 1970). Das LSG hat sinngemäß ausgeführt, die Voraussetzungen der Zahlung der Rente nach §§ 97, 98, 99 AVG seien nicht erfüllt. Trotz polizeilicher Meldung in Luxemburg sei der gewöhnliche Aufenthalt des Klägers seit September 1966 in Ungarn. Seine engeren wirtschaftlichen und persönlichen Beziehungen in Budapest schlössen einen gewöhnlichen Aufenthalt in Luxemburg aus. Die seit 15. Juli 1964 in B unterhaltene Handelsvertretung der BRD, die von einem Legationsrat erster Klasse geleitet werde, sei eine amtliche Vertretung im Sinne des § 100 Abs. 1 AVG. Weder die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift noch die Funktion von Handelsvertretungen gäben Hinweise, daß der Begriff der amtlichen Vertretungen auf diplomatische oder konsularische Vertretungen beschränkt werden solle. Deshalb habe die Beklagte die gesetzlichen Voraussetzungen für ihre Ermessensentscheidung, ob dem Kläger das Altersruhegeld auszuzahlen sei, nicht richtig erkannt. Es lasse sich nicht feststellen, daß es in jedem Fall und unter jedem denkbaren Gesichtspunkt ermessenswidrig wäre, die Auszahlung des Altersruhegeldes abzulehnen; denn die Beklagte habe ihr Ermessen bisher überhaupt noch nicht ausgeübt, weil sie die Voraussetzungen des § 100 Abs. 1 AVG hinsichtlich des Aufenthaltes in Ungarn verneint habe.

Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen. Sie rügt die Auslegung des § 100 Abs. 1 AVG durch das LSG. Amtliche Vertretungen im Sinne dieser Vorschrift seien nur Botschaften, Gesandtschaften und Berufskonsulate. Der Gesetzgeber sei davon ausgegangen, daß die Leistungen nach § 100 AVG, die in erheblichem Maß Fürsorgecharakter hätten, nur in solchen Staaten erbracht werden sollten, zu denen die BRD besondere, nämlich diplomatische Beziehungen unterhalte. Der besondere Zweck des § 94 AVG, den Abschluß von Sozialversicherungsabkommen zu fördern und die Gleichbehandlung der beiderseitigen Staatsangehörigen zu sichern, werde nur bei strenger Auslegung erreicht. Dies sei auch bei § 100 AVG zu beachten, da diese Vorschrift das Bestehen eines gesteigerten Maßes an zwischenstaatlichen Beziehungen voraussetze.

Der Kläger ist nicht vertreten.

Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Die Auffassung des LSG, die Handelsvertretung der BRD in Budapest sei eine amtliche Vertretung der BRD, die nach § 100 Abs. 1 AVG die Zahlung der Rente an einen sich gewöhnlich in Ungarn aufhaltenden Deutschen zulasse, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Sie steht auch in Einklang mit der Auffassung des Auswärtigen Amtes.

Daß die deutsche Handelsvertretung "amtlich" ist, ergibt sich daraus, daß sie auf Grund des "Abkommens über den Waren- und Zahlungsverkehr und über die Errichtung von Handelsvertretungen zwischen der Regierung der BRD und der Regierung der ungarischen Volksrepublik" vom 10. November 1963 eingerichtet wurde (vgl. Bundesanzeiger 1964 Nr. 14 S. 1). Nach Auskünften des Auswärtigen Amts ist sie nicht nur für den Handelsverkehr tätig, sondern auch in beschränktem Umfang auf anderen Gebieten, z. B. bei der Ausstellung von Visa. So hat sie auch auf die Anfrage der Beklagten über Krankheit, Reiseunfähigkeit und Wohnsitz des Klägers in Budapest ermittelt (Schreiben der Handelsvertretung der BRD vom 30. November 1967). Für ihren Charakter einer amtlichen Vertretung spricht ferner, daß die BRD in Ungarn nicht durch einen anderen Staat als Schutzmacht vertreten wird. Auch die in der Diplomatie im Völkerrecht üblichen Begriffe lassen nicht erkennen, daß unter "amtlicher Vertretung" der BRD nur eine Botschaft, eine Gesandtschaft oder ein Konsulat zu verstehen wäre (vgl. Strupp-Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Stichworte "Diplomatie" Teil A, "Gesandtschaftsrecht" Nr. 3).

Die Entstehungsgeschichte des § 100 AVG (§ 1321 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) spricht nicht gegen die Auffassung des LSG. Der Begriff der amtlichen Vertretung der BRD im Zusammenhang mit der Zahlung von Renten an Deutsche im Gebiet eines auswärtigen Staates findet sich schon in § 9 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes vom 7. August 1953 (FAG). Im Entwurf (BT-Drucks. I 4201) hatte die Bundesregierung vorgesehen, daß die Zahlungen - Ersatzleistungen genannt - nur zulässig sein sollten, soweit der Antragsteller auf sie zur Bestreitung des notwendigen Lebensunterhalts angewiesen sei; darüber sollte der Versicherungsträger gegebenenfalls nach Anhörung der amtlichen Vertretung der BRD in dem auswärtigen Staat, in dessen Gebiet sich der Antragsteller aufhalte, entscheiden; die Prüfung durch die amtliche deutsche Auslandsvertretung sei eingeschaltet, um diese Voraussetzung für die Gewährung der Ersatzleistungen am zweckmäßigsten prüfen zu können. Der Ausschuß für Sozialpolitik (BT-Drucks I 4449) strich im Entwurf des § 9 FAG die Sätze "Die Gewährung der Ersatzleistung...ist nur zulässig, soweit...zur Bestreitung des notwendigen Lebensunterhalts...angewiesen...Anhörung der amtlichen Vertretung". Er hielt die Einführung fürsorgerechtlicher Grundsätze in die Sozialversicherung nicht für zweckmäßig; die Bundesregierung werde aber dafür Sorge tragen, daß Deutsche und frühere deutsche Staatsangehörige praktisch in den Genuß dieser Leistungen kämen. Im Entwurf des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes - FANG - (BT-Drucks. III 1109, 1532) ist zur Begründung des Entwurfs des § 1321 RVO nur auf § 9 FAG verwiesen.

Nach der Entstehungsgeschichte sollte also die amtliche Vertretung der BRD ursprünglich eingeschaltet werden, um die Bedürftigkeit des deutschen Zahlungsempfängers in dem auswärtigen Staat zu prüfen. Mit dem Wegfall dieser Voraussetzung der Zahlung ist der unmittelbare Zweck der Einschaltung der amtlichen Vertretung fortgefallen. Geblieben ist indes der vom Ausschuß ausgesprochene Gedanke, daß Deutsche tatsächlich in den Genuß der Leistung kommen sollen (BT-Drucks. I 4449). Das Bestehen einer amtlichen Vertretung der BRD in dem auswärtigen Staat hat daher bei § 100 AVG insofern noch Bedeutung für die Zahlung von Renten, als diese Vertretung prüfen kann, ob der Deutsche die Leistung des Versicherungsträgers tatsächlich in ihrem vollen Wert und zusätzlich zu Einkünften in dem auswärtigen Staat erhält; denn andernfalls, etwa wenn lediglich das Devisenaufkommen des auswärtigen Staates gefördert würde, ohne daß der Deutsche durch die Leistung die ihr entsprechenden Vorteile erhält, entfällt der Sinn und Zweck des § 100 Abs. 1 AVG, so daß eine Zahlung nicht gerechtfertigt erscheint. Dies kann der Versicherungsträger bei seiner Ermessensausübung im Einzelfall unter Beachtung der Devisenvorschriften des auswärtigen Staates und ihrer Handhabung berücksichtigen und durch die Handelsvertretung der BRD prüfen lassen.

Da die Entscheidung des LSG nicht rechtswidrig ist, ist die Revision der Beklagten unbegründet und zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1669196

BSGE, 38

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