Entscheidungsstichwort (Thema)
Kenntnis iS von § 104 SGB 10
Orientierungssatz
1. Für die Kenntnis iS des § 104 Abs 1 S 1 SGB 10 genügt allgemein, daß ein Schreiben in den Geschäftsgang der benachrichtigten Behörde gelangt ist.
2. Eine rechtserhebliche Kenntnis des benachrichtigten Trägers ist nicht von der Zuständigkeit des Verfassers einer Antwort auf die Mitteilung abhängig.
Normenkette
SGB X § 107 Abs. 1 S. 1; BSHG § 2 Abs. 2
Verfahrensgang
SG Stade (Entscheidung vom 27.10.1986; Aktenzeichen S 6 Ar 227/85) |
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 08.12.1987; Aktenzeichen L 7 Ar 366/86) |
Tatbestand
Die Klägerin, die R. T. (R.Th.) von Dezember 1984 bis Februar 1985 laufend mit Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) unterstützte, begehrt von der Beklagten die Erstattung ihrer Aufwendungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG), nunmehr beschränkt auf 813,54 DM. Die Beklagte bewilligte der R.Th. Berufsausbildungsbeihilfe ≪BAB≫ (§ 40 AFG) in Höhe von monatlich 585,00 DM für eine Maßnahme zum Erwerb des Hauptschulabschlusses in der Zeit vom 3. Dezember 1984 bis 1. November 1985 (Bescheid vom 30. Januar 1985). Die Klägerin meldete bei der Beklagten mit Schreiben vom 6. Dezember 1984 und 4. Januar 1985 Erstattungsansprüche nach den §§ 102 ff Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) wegen ihrer Leistungen an die Beigeladene für den jeweiligen Monat an, danach mit Schreiben vom 1. Februar 1985, eingegangen beim Arbeitsamt am 4. Februar 1985, wegen der am 1. Februar 1985 bewilligten Leistungen (281,00 DM als Hilfe zum Lebensunterhalt in Form eines Überbrückungsbeihilfedarlehens für Februar 1985 sowie 670,00 DM Mietzuschuß für Januar und Februar 1985). Auf die Schreiben der Klägerin antwortete die Beklagte jeweils, zuletzt am 6. Februar 1985, ein Antrag der R.Th. sei bei ihr nicht eingegangen. Die Beklagte hat einen Teilbetrag für Dezember 1984 und Januar 1985 erstattet. Das weitergehende Begehren der Klägerin lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, sie habe bereits selbst mit befreiender Wirkung an R.Th. geleistet, bevor sie Kenntnis von den Erstattungsansprüchen der Klägerin erlangt habe. Am 4. Februar 1985 schickte sie die Magnetbänder mit den Aufzeichnungen für die Überweisung der BAB für R.Th. für die Zeit vom 3. Dezember 1984 bis zum 31. Januar 1985 an die Landeszentralbank in Nürnberg, von wo aus die Überweisungen ausgeführt werden, am 20. Februar 1985 die Magnetbänder über die Leistungen für diesen Monat. Die Klägerin sah die Ablehnung als Verwaltungsakt an und erhob Widerspruch. Dieser wurde durch Widerspruchsbescheid zurückgewiesen. Die dagegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen. Auf die von der Klägerin eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte zur Zahlung von 813,54 DM an die Klägerin verurteilt (Urteil vom 8. Dezember 1987). Das LSG hält die Beklagte für verpflichtet, auch die weiteren Aufwendungen für R.Th. für Januar und Februar 1985 der Klägerin zu erstatten. Der Anspruch sei nicht nach der Einschränkung in § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X ausgeschlossen; denn maßgeblicher Zeitpunkt für die Kenntnis der Beklagten von den Leistungen der Klägerin sei nach den auch im öffentlichen Recht anwendbaren Zivilrechtsgrundsätzen der Zeitpunkt der Gutschrift der BAB auf dem Konto der BAB-Empfängerin.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und des § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X. Die Beklagte hält die Kenntnis des zuständigen Sachbearbeiters von der Leistung der Klägerin für maßgebend; diese sei erst am 4. Februar 1985 entstanden. Zu diesem Zeitpunkt habe aber die Beklagte schon befreiend an R.Th. geleistet, so daß der Erstattungsanspruch nicht entstanden sei. Für den Zeitraum der Leistung der Beklagten komme es auf die Bewilligungsverfügung des zuständigen Sachbearbeiters vom 23. Januar 1985 an, spätestens auf die datenmäßige Erfassung der Bewilligungsverfügung vom 28. Januar 1985.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Wie das LSG zutreffend entschieden hat, besteht der noch umstrittene Erstattungsanspruch. Die Beklagte hat als vorrangig verpflichteter Sozialleistungsträger der Klägerin die für Januar und Februar 1985 an R.Th. erbrachten Sozialleistungen - Überbrückungsdarlehen als Hilfe zum Lebensunterhalt für Februar 1985 sowie Mietzuschüsse für Januar und Februar 1985 - in Höhe von 813,54 DM nach § 104 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 SGB X zu erstatten.
R.Th. hatte mindestens in dieser Höhe einen "Anspruch" auf BAB nach § 40a iVm § 40 AFG. Zwar bestand kein Rechtsanspruch auf diese Leistung. Aber mit der Bewilligung nach dem Ermessen der Beklagten besteht auf diese Leistung ein Anspruch iS des § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X (BSG SozR 1300 § 104 Nr 6). Die verschiedenen Geldleistungen waren auch gleichartig (dazu BSGE 64, 96, 98 = SozR 1300 § 104 Nr 13; SozR 1300 § 104 Nr 12) und fielen in denselben Zeitraum (vgl BSG SozR 1300 § 103 Nr 5).
Die Sozialhilfeleistungen hatte die Klägerin im Verhältnis dazu nachrangig iS des § 104 Abs 1 Satz 2 und 3 SGB X zu gewähren (§ 2 Abs 2 BSHG, § 37 Abs 1 Satz 2 AFG; BSG SozR 1300 § 104 Nr 11). Im Unterschied zur Sozialhilfe war die BAB ohne Anrechnung von sonstigem Einkommen zu erbringen (Art 3 § 2 Abs 4 Berufsbildungsgesetz vom 3. Juni 1982 - BGBl I 641 -/24. Mai 1984 - BGBl I 705 - iVm § 40a Abs 1 Satz 1 AFG idF des Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetzes vom 22. Dezember 1981 - BGBl I 1497).
Dem Erstattungsanspruch der Klägerin steht nicht entgegen, daß sie die als Darlehen gewährte Überbrückungsbeihilfe (§ 15b BSHG) von der Empfängerin zurückfordern könnte. Abgesehen davon, daß eine Erstattung von R.Th., deren Aufenthalt seit Jahren unbekannt ist, nicht erwartet werden kann, ist der Erstattungsanspruch nach § 104 Abs 1 Satz 4 iVm Satz 2 SGB X auch dann gegeben, wenn ein Träger der Sozialhilfe einen Aufwendungsersatz oder Kostenbeitrag erhalten kann (vgl Hauck/ Haines, SGB X/3, 3. Lieferung III 90, § 104 RdNr 22).
Sozialleistungen wie diejenige, um die es hier geht, sollen nicht doppelt gezahlt werden. Wenn und soweit ein nachrangig verpflichteter Träger geleistet hat, soll der vorrangig Verpflichtete nicht von seiner Leistungspflicht befreit werden. Damit eine Doppelleistung an den Berechtigten vermieden wird, hat der vorrangig zuständige Träger dem anderen dessen Aufwendungen nach § 104 SGB X zu erstatten und wird dadurch von seiner Leistungspflicht gegenüber dem Berechtigten (Dritten) befreit. Dessen Anspruch gilt nach § 107 Abs 1 SGB X als erfüllt. Der Berechtigte braucht nicht die Leistung an den nachrangig zuständigen Träger zurückzuerstatten. Diese Abwicklung, die auf einen Zahlungsausgleich zwischen den beiden Trägern beschränkt bleibt, wird - ebenso wie in den Erstattungsfällen des § 103 Abs 1 und des § 105 Abs 1 SGB X - auf Fälle beschränkt, in denen der vorrangig verpflichtete Träger nicht bereits vor seiner Kenntnis der Leistung des anderen selbst geleistet hat. Sobald ihm die Vorleistung bekannt ist, darf er nicht mehr zu Lasten des anderen Trägers die - doppelte - Leistung an den Berechtigten erbringen; er kann sich dann nicht durch eine solche Leistung seiner Ausgleichspflicht entziehen.
Entgegen der Ansicht der Revisionsklägerin ist der Erstattungsanspruch nicht gemäß der Einschränkung am Ende des Satzes 1 in § 104 Abs 1 SGB X ausgeschlossen. Nach dieser Regelung ist nur zu erstatten, soweit der in Anspruch genommene Leistungsträger - hier die Beklagte - nicht selbst bereits geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Trägers - hier der Klägerin- Kenntnis erlangt hat. Die BAB für Januar und Februar 1985 ist geleistet worden, als die Beklagte von den entsprechenden Sozialhilfeleistungen der Klägerin Kenntnis erlangt hatte.
Die BAB für Februar 1985 überwies die Beklagte erst Ende dieses Monats. Ihr waren die Sozialhilfeleistungen der Klägerin aber schon seit dem Schreiben vom 6. Dezember 1984 bekannt. Diese Kenntnis wirkte auch für die Leistungen der Monate Januar und Februar 1985.
Ob die Beklagte, die das die Sozialhilfeleistungen für Januar und Februar 1985 betreffende Schreiben vom 1. Februar 1985 am 4. Februar 1985 erhielt, den an diesem Tag an die Landeszentralbank geschickten Auftrag, die BAB für Januar 1985 zu zahlen, durch einen Widerruf gegenüber der Bank wirksam hätte zurücknehmen können und ob sie dazu verpflichtet gewesen wäre, kann dahingestellt bleiben. Wenn erst das Schreiben der Klägerin vom 1. Februar 1985 für die Kenntnis iS des § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X maßgebend wäre, müßte geprüft werden, ob die Beklagte § 53 Abs 4 Sozialgesetzbuch - Erstes Buch - (SGB I) für sich in Anspruch nehmen kann. Nach dieser Vorschrift ist ein Leistungsträger zur Auszahlung an einen neuen Gläubiger nicht vor Ablauf des Monats verpflichtet, der dem Monat folgt, in dem er von dem Gläubigerwechsel Kenntnis erlangt hat. Diese Regelung gilt zwar unmittelbar nur für den Gläubigerwechsel durch Übertragung oder Verpfändung eines Sozialleistungsanspruchs. Es liegt aber nahe, daß die lange Umstellungszeit, die dem Leistungsträger hier zugebilligt wird, auch dann zu beachten ist, wenn die einem Gläubigerwechsel vergleichbaren Voraussetzungen des § 104 SGB X eintreten (vgl BR-Drucks 315/87 S 24).
Das Schreiben vom 6. Dezember 1984, in dem die Klägerin ihre Unterstützung der R.Th. nach dem BSHG der Beklagten mitteilte, verschaffte dieser die rechtlich maßgebende Kenntnis, die Doppelleistungen verhindern sollte. Wenn auch dieses Schreiben noch nicht die Sozialhilfeleistungen für Januar und Februar 1985 im einzelnen anzeigte, so gab es doch der Beklagten den Sozialhilfefall eben der Person bekannt, die die Beklagte nach dem AFG für dieselbe Zeit förderte und wies auf einen Antrag der Unterstützten auf Bildungsbeihilfe nach dem AFG hin. Für die Kenntnis iS des § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X könnte allgemein genügen, daß ein Schreiben in den Geschäftsgang der benachrichtigten Behörde gelangt ist. Aber selbst wenn erst der Empfang durch den zuständigen Sachbearbeiter maßgebend wäre (vgl zu anderen Vorschriften: BSGE 63, 224, 228 = SozR 1300 § 48 Nr 47 mN), wäre der Beklagten vor Februar 1985 der Fall in rechtserheblicher Weise bekannt geworden. Sowohl das Schreiben vom 6. Dezember 1984 als auch die beiden weiteren wurden alsbald beantwortet, waren also bearbeitet worden. Daß das Arbeitsamt jeweils mitteilte, es erbringe keine Leistungen an die Sozialhilfeempfängerin, ist für den Anspruch unschädlich. Jedenfalls hat ein Sachbearbeiter, der sich für zuständig hielt und nach außen als zuständig erklärte, den Vorgang bearbeitet. Ein anderer Sozialhilfeträger, der seine Leistungen angezeigt hat, muß nicht die behördeninterne Zuständigkeit dessen, der die Antwort unterschrieben hat, prüfen. Eine rechtserhebliche Kenntnis des benachrichtigten Trägers ist nicht von der Zuständigkeit des Verfassers einer Antwort auf die Mitteilung abhängig.
Für diese Bekanntgabe, die Doppelleistungen ausschließen soll, genügte die Anzeige vom Dezember 1984 auch deshalb, weil bei der Unterstützung wegen einer Ausbildung, auf die die Klägerin hinwies, der Sozialhilfefall als solcher für die Dauer der Bildungsmaßnahme maßgebend ist. Auch aus der Sicht der Beklagten mußte sich der im Dezember 1984 angezeigte Sozialhilfefall der BAB-Antragstellerin als ein einheitlicher für die Dauer der Bildungsmaßnahme darstellen, so daß sie damit eine Kenntnis erhielt, die ebenfalls für spätere Monate den Erstattungsanspruch der Klägerin nicht nach § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X ausschloß. Auf diese Bekanntgabe hätte die Verwaltung der Beklagten jegliche eigene Leistungen nach dem AFG an dieselbe Person wegen desselben Zweckes unterbinden müssen, damit sofort Doppelleistungen vermieden und andererseits für die Zukunft weitere Sozialhilfeleistungen, die nachrangig sind, verhindert wurden. Die Sozialhilfeträger tragen mit ihren Vorleistungen, die ihnen nach dem Grundsatz ihres Rechtsgebietes in Notfällen obliegen, ein gewisses Risiko, daß ein anderer Träger für dieselbe Zeit ebenfalls leistet. Sie müssen, wie das hier geschehen ist, alsbald ihre Leistung anzeigen und ihren Erstattungsanspruch anmelden, wenn nach ihrer Kenntnis die - vorrangige - Leistungspflicht eines anderen Trägers in Betracht kommt. Andererseits muß die BA in solchen Fällen, die ihr bekanntgegeben worden sind, damit rechnen, daß ein Sozialhilfeträger laufend jeden Monat vorerst einspringt, weil die Geldleistungen nach dem AFG stets erst nachträglich und rückwirkend ausbezahlt werden, wodurch zeitweilig ein Bedarfsfall nach dem BSHG eintreten kann (§ 122 AFG, §§ 2 und 4 Zahlungszeiträume-Anordnung vom 15. Dezember 1978 - ANBA Nr 4/1979 -; hier für BAB: § 20 Abs 10 Satz 1 Anordnung Ausbildung vom 23. Mai 1984 - ANBA Nr 8/1984 -: monatlich zum 20. des Ausbildungsmonats).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 4 SGG.
Fundstellen