Verfahrensgang
Hessisches LSG (Urteil vom 21.09.1994) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. September 1994 wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat der Beklagten deren Aufwendungen für das Revisionsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger, ein zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassener Chirurg, war von 1975 bis 1992 an verschiedenen Krankenhäusern als Belegarzt tätig und während dieser Zeit von der Teilnahme am ärztlichen Notfalldienst freigestellt. Seit er seine Praxis zu einer für ambulante Operationen ausgerüsteten Tagesklinik erweitert und die belegärztliche Tätigkeit aufgegeben hat, wird er wieder zum Notfalldienst herangezogen. Seinen Antrag, ihn weiterhin zu befreien, lehnte die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) mit Bescheid vom 1. Dezember 1992 und Widerspruchsbescheid vom 5. April 1993 ab.
Die dagegen gerichtete Klage war in den Vorinstanzen erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) hat in seinem Urteil vom 21. September 1994 ausgeführt, die Verwaltungsentscheidung sei auf der Grundlage des Sicherstellungsstatuts und der Satzung der Beklagten formal wirksam zustande gekommen. Eine Befreiung von der Teilnahme am Notfalldienst sei nach den dort getroffenen Regelungen nur aus schwerwiegenden Gründen möglich. Die Notwendigkeit der postoperativen Betreuung der vom Kläger ambulant operierten Patienten stelle keinen solchen Grund dar, denn diese Betreuung könne entweder vom Kläger selbst im Rahmen seines Bereitschaftsdienstes oder bei außerhalb des Notfalldienstbezirks wohnenden Patienten durch den örtlich zuständigen Notfallvertretungsdienst erfolgen. Insofern unterscheide sich die Situation von der eines belegärztlich tätigen Chirurgen, der für die Notversorgung der im Krankenhaus stationär liegenden Patienten zur Verfügung stehen müsse. Daß die Beteiligung am Notfalldienst Unannehmlichkeiten und Nachteile mit sich bringe, müsse im Interesse des Gemeinwohls hingenommen werden. Akzeptanz und Funktionsfähigkeit dieses Dienstes seien nur zu gewährleisten, wenn alle dafür in Frage kommenden Ärzte möglichst gleichmäßig herangezogen würden. Dem Wunsch des Klägers, seine frisch operierten Patienten persönlich betreuen zu können, sei dadurch Rechnung getragen worden, daß die Beklagte ihm freigestellt habe, den Notfalldienst auf seine Kosten von einem geeigneten Vertreter wahrnehmen zu lassen.
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des Art 12 Abs 1 Grundgesetz (GG). In Anbetracht der Besonderheiten seiner Praxis stelle sich die Heranziehung zum Notfalldienst als unzulässiger Eingriff in die Freiheit der Berufsausübung dar. Er führe in seiner mit einem Operationssaal und einem Bettenraum ausgestatteten Tagesklinik in Zusammenarbeit mit einem Narkosearzt, einer Narkoseschwester und Operationsschwestern ambulant die gleichen Operationen durch wie vorher als Belegarzt im Krankenhaus. Es handele sich um mittelschwere Eingriffe, wie Blinddarm-, Leistenbruch-, Krampfader-, Phimosen-, Hämorrhoiden- oder Strumaknotenoperationen, die üblicherweise mit einem sieben- bis zehntägigen Krankenhausaufenthalt verbunden seien. Die betreffenden Patienten, großenteils Kinder, seien bis zur völligen Gesundung zwingend auf eine intensive persönliche Nachsorge und Betreuung durch den Operateur angewiesen. Da er dienstags und freitags operiere, müsse er auch an den Wochenenden regelmäßig Hausbesuche machen und beim Auftreten von Komplikationen jederzeit rufbereit sein. Die Möglichkeit des ambulanten Operierens stehe und falle mit der Präsenz des behandelnden Arztes, weil es den frisch operierten Patienten nicht zuzumuten sei, sich nach einem körperlich erheblichen Eingriff von fremden Ärzten, die nicht fachbezogen ausgebildet seien, notfallmäßig versorgen zu lassen. Seine Situation sei daher mit der eines Belegarztes vergleichbar mit der Folge, daß er wie dieser von der Teilnahme am allgemeinen ärztlichen Notfalldienst freigestellt werden müsse.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. September 1994 und des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 28. Juli 1993 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 1. Dezember 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. April 1993 zu verpflichten, ihn von der Teilnahme am Notfalldienst bis auf weiteres freizustellen, hilfsweise, über den Freistellungsantrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die tatsächliche Inanspruchnahme des Klägers durch Patientenbesuche am Wochenende und an Feiertagen lasse nicht den Schluß auf eine besondere Belastung zu, die eine Befreiung rechtfertigen könnte. Soweit es sich um routinemäßige Besuche nach Operationen handele, seien diese bei entsprechender Planung mit der gleichzeitigen Bereitschaft für den ärztlichen Notfalldienst in Einklang zu bringen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist zulässig.
Ihre Begründung genügt noch den Anforderungen des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG. Zwar wird die Rüge einer Verletzung des § 75 Abs 1 Satz 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) und des Art 12 Abs 1 GG nicht näher begründet, sondern stattdessen erörtert, ob die Heranziehung zum Notfalldienst mit den einer Revision nicht zugänglichen landesrechtlichen Vorschriften des gemeinsamen Notfalldienststatuts der KÄV und der Bezirksärztekammer Hessen und den dazu von der Beklagten erlassenen Ausführungsbestimmungen vereinbar ist. Aus dem Gesamtzusammenhang der Revisionsbegründung ergibt sich aber hinreichend deutlich, daß der Kläger die Notfalldienstverpflichtung unter den besonderen Bedingungen seiner Praxis als unverhältnismäßigen und deshalb unzumutbaren Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit ansieht.
Die Revision ist jedoch unbegründet. Der Kläger kann nicht verlangen, von der Teilnahme am ärztlichen Notfalldienst befreit zu werden.
Die Rechtsgrundlage für die Durchführung des vertragsärztlichen Notfalldienstes findet sich in § 75 Abs 1 Satz 2 SGB V in Verbindung mit dem „Statut der Kassenärztlichen Vereinigung und der Landesärztekammer Hessen über die gemeinsame Einrichtung des ärztlichen Notfallvertretungsdienstes” (Notfalldienst-Statut) idF vom 9. September 1972 sowie den „Ausführungsbestimmungen zum Notfalldienst im Statut der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen über die besonderen Maßnahmen zur Sicherstellung der ambulanten ärztlichen Versorgung” (Ausführungsbestimmungen) idF vom 28. November 1992. Nach § 5 Abs 1 des Notfalldienst-Statuts (ebenso nach § 5 Abs 3a der Satzung der Beklagten) kann ein Arzt bei Vorliegen eines wichtigen Grundes von der grundsätzlich bestehenden Verpflichtung zur Teilnahme am ärztlichen Notfalldienst ganz oder teilweise freigestellt werden. Gründe für eine Befreiung können nach den Ausführungsbestimmungen ua gegeben sein, wenn „der Arzt wegen belegärztlicher Tätigkeit für sein Gebiet im Krankenhaus nur einmal vertreten ist und ein Assistent für eine Vertretung nicht zur Verfügung steht” oder wenn „dem Arzt aus anderen von ihm darzulegenden schwerwiegenden Gründen eine Teilnahme nicht zugemutet werden kann”. Das LSG hat diese Bestimmungen dahin verstanden, daß die Beklagte bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen über die Freistellung im Einzelfall nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden habe. Da es sich um nicht revisibles Recht handelt, ist der Senat an die Feststellungen zum Bestehen und zum Inhalt der Satzungsbestimmungen und an deren Auslegung durch das Berufungsgericht gebunden.
Ohne Rechtsverstoß haben die Vorinstanzen angenommen, daß der Kläger sich für sein Begehren nicht auf das Gleichbehandlungsgebot und eine daraus abgeleitete Ermessensbindung der Beklagten berufen kann. Sein Argument, er befinde sich, was die Notwendigkeit des Bereitschaftsdienstes für die eigenen Patienten angehe, in der gleichen Lage wie der in den Ausführungsbestimmungen angesprochene Belegarzt, ist nicht stichhaltig. Die für Belegärzte vorgesehene Befreiungsmöglichkeit hat ihren Grund darin, daß der Belegarzt verpflichtet ist, die Notdienstbereitschaft für seine stationär untergebrachten Patienten sicherzustellen, und daß er hierfür nach Maßgabe des mit dem Krankenhausträger geschlossenen Belegarztvertrages ggf persönlich zur Verfügung stehen muß. Zwar hat auch der ambulant operierende Arzt dafür Sorge zu tragen, daß er für seine Patienten erreichbar ist und diese nach der Entlassung im häuslichen Bereich bei Bedarf in qualifizierter Weise ärztlich versorgt werden; er kann die postoperative Betreuung aber durch eine Vertretungsregelung sicherstellen, so daß eine Unvereinbarkeit mit anderweitigen Verpflichtungen jedenfalls nicht zwingend besteht (vgl dazu die Richtlinien der Bundesärztekammer zur Qualitätssicherung bei ambulanten Operationen, Stand 1994, Gliederungspunkt 3.2.4 Ziff 1).
Dem Berufungsgericht ist auch darin zuzustimmen, daß die besonderen Pflichten, die der Kläger als ambulant operierender Arzt gegenüber seinen Patienten hat, nicht zur Annahme eines wichtigen Grundes iS des Notfalldienst-Statuts zwingen. Die dazu im angefochtenen Urteil angestellten verfassungsrechtlichen Erwägungen sind nicht zu beanstanden. Die Revision weist zwar mit Recht darauf hin, daß die Gewährleistung einer qualifizierten Nachsorge und Nachbetreuung entweder durch den Operateur persönlich oder durch einen fachlich dafür ausgebildeten Arzt Voraussetzung und notwendige Ergänzung für die ambulante Durchführung von Operationen ist und daß den ambulant operierenden Arzt deshalb auch an den Wochenenden und in den übrigen sprechstundenfreien Zeiten eine gesteigerte Betreuungspflicht gegenüber den eigenen Patienten trifft. Hierin mag ein Umstand zu sehen sein, der es diesem Arzt im Vergleich zu anderen Ärzten erschwert, die Teilnahme am Notfalldienst mit den sonstigen Verpflichtungen aus der vertragsärztlichen Tätigkeit in Einklang zu bringen. Indessen hat der Senat stets betont, daß es sich bei der Sicherstellung eines ausreichenden Not- und Bereitschaftsdienstes um eine gemeinsame Aufgabe der Vertragsärzte handelt, die nur erfüllt werden kann, wenn alle zugelassenen Ärzte unabhängig von der Fachgruppenzugehörigkeit und sonstigen individuellen Besonderheiten und ohne Bevorzugung oder Benachteiligung einzelner Personen oder Gruppen gleichmäßig herangezogen werden (vgl BSGE 33, 165, 166 = SozR Nr 3 zu BMV-Ärzte Allg; BSGE 44, 252, 257 f = SozR 2200 § 368n Nr 12 S 35). Der in der Notfalldienstverpflichtung liegende Eingriff in die Berufsfreiheit ist deshalb auch dann hinzunehmen, wenn er für den einzelnen Vertragsarzt besondere, über das übliche Maß hinausgehende Unannehmlichkeiten und Erschwernisse mit sich bringt. Erst beim Vorliegen schwerwiegender Gründe, wie sie in den Ausführungsbestimmungen zum Notfalldienst-Statut beispielhaft aufgeführt sind, kann die Grenze der Zumutbarkeit überschritten und eine Befreiung des Betroffenen geboten sein. Solche Gründe sind hier nicht gegeben.
Nach den Feststellungen des LSG, die sich auf die eigenen Angaben des Klägers gründen, führt dieser an zwei Tagen in der Woche, jeweils dienstags und freitags, ambulante Operationen durch, betreibt aber im übrigen eine normale chirurgische Praxis. Seine frisch operierten Patienten besucht er jeweils am Operationsabend und, sofern nicht unvorhergesehene Komplikationen auftreten, danach bis zur Genesung alle zwei bis drei Tage. Bei dieser Sachlage besteht die Möglichkeit durch eine längerfristige Planung und geeignete organisatorische Maßnahmen, etwa die Vorverlegung oder Verschiebung von Operationsterminen oder die Bestellung eines geeigneten Vertreters, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß der Notfalldienst trotz der anderweitigen vertragsärztlichen Pflichten wahrgenommen werden kann. Es ist deshalb revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, daß das Berufungsgericht einen Freistellungsanspruch verneint hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1174416 |
SozSi 1997, 237 |