Entscheidungsstichwort (Thema)
Altersruhegeld. Zeiten der Kindererziehung
Leitsatz (redaktionell)
Da §§ 56, 249 Abs. 1 SGB VI erst zum 01.01.1992 in Kraft getreten sind, sind diese Vorschriften für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von vor diesem Zeitpunkt getroffenen Entscheidungen nicht heranzuziehen (Art. 82 GG, § 300 Abs. 1 SGB VI).
Normenkette
SGB X § 44; SGB VI § 249 Abs. 1, §§ 56, 300 Abs. 1; AVG § 27 Abs. 1 c, § 28a Abs. 1 S. 1, § 31 Abs. 1, § 35 Abs. 1; RRG Art. 85 Abs. 1; GG Art. 82, 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. Oktober 2004 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt, die bindende Festsetzung des Werts seines Rechts auf Altersruhegeld (ARG) zurückzunehmen und einen höheren Wert dieses Rechts unter Berücksichtigung von drei Jahren Kindererziehungszeit neu festzustellen.
Die Beklagte erkannte mit bindendem Bescheid vom 9. März 1989 dem am 4. Juni 1922 geborenen Kläger ARG zu. Bei der Festsetzung des Werts dieses Rechts berücksichtigte sie zwölf Kalendermonate als Zeiten der Kindererziehung des am 27. Februar 1954 geborenen Sohnes des Klägers nämlich vom 1. März 1954 bis 28. Februar 1955.
Der Antrag des Klägers vom 11. April 2003, die bindende Festsetzung des Werts seines Rechts auf ARG im Bescheid vom 9. März 1989 nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Verwaltungsverfahren (SGB X) zurückzunehmen und einen höheren Wert dieses Rechts unter Berücksichtigung von drei Jahren Kindererziehungszeit neu festzustellen, lehnte die Beklagte ab. Sie habe das Recht nicht unrichtig angewandt. Für ein vor dem 1. Januar 1992 geborenes Kind ende die Versicherungspflicht wegen Kindererziehung bereits zwölf Kalendermonate nach Ablauf des Geburtsmonats (Bescheid vom 24. April 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. August 2003).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klagen abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 27. April 2004). Die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheids vom 9. März 1989 nach § 44 SGB X lägen nicht vor. Die Beklagte habe zu Recht in Anwendung des § 249 Abs 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) nur zwölf Kalendermonate Kindererziehungszeit für das vor dem 1. Januar 1992 geborene Kind anerkannt.
Das Landessozialgericht (LSG) hat unter Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des Gerichtsbescheids des SG die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 4. Oktober 2004). Ergänzend hat es ausgeführt, dass nach ständiger Rechtsprechung des LSG die Bestimmung des § 249 Abs 1 SGB VI verfassungsgemäß sei.
Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt sinngemäß eine Verletzung von Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) iVm Art 6 Abs 1 GG. Die in § 249 Abs 1 SGB VI gezogene Grenze (31. Dezember 1991) sei willkürlich. Das LSG habe aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 7. Juli 1992 die falschen Schlüsse gezogen und die Entscheidung des BVerfG vom 3. April 2001 – 1 BvR 1629/94 – nicht gewürdigt.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
1. das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. Oktober 2004, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Trier vom 27. April 2004 sowie die ablehnende Entscheidung der Beklagten im Bescheid vom 24. April 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. August 2003 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verpflichten, die Festsetzung des Werts seines Rechts auf Altersruhegeld im Bescheid vom 9. März 1989 zurückzunehmen,
3. die Beklagte zu verpflichten, einen höheren Wert dieses Rechts unter Berücksichtigung von drei Jahren Kindererziehungszeit neu festzustellen und
4. die Beklagte zu verurteilen, entsprechend höhere monatliche Geldbeträge zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Meinung, dass im vorliegenden Fall § 28a Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) den Wert des Rechts auf ARG bestimme. Dass diese Bestimmung verfassungsgemäß sei, habe das BVerfG im Urteil vom 7. Juli 1992 – 1 BvL 51/86 ua (BVerfGE 87, 1 ff) festgestellt. Vor diesem Hintergrund sei vorliegend nicht zu diskutieren, ob § 249 Abs 1 SGB VI verfassungsrechtlichen Bedenken begegne.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet.
Das LSG hat zwar Bundesrecht verletzt (§ 162 SGG). Es hat – ebenso wie das SG – verkannt, dass die Beklagte im Rahmen der Festsetzung des Werts des Rechts auf ARG im Bescheid vom 9. März 1989, dessen Rücknahme der Kläger nach § 44 SGB X begehrt, § 249 Abs 1 SGB VI nicht angewandt hat und auch nicht anwenden durfte, weil diese Vorschrift erst am 1. Januar 1992 in Kraft getreten ist (Art 85 Abs 1 des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung ≪RRG 1992≫ vom 18. Dezember 1989, BGBl I 2261). Die Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten, soweit sie die Zeiten vor dem 1. Januar 1992 oder vor diesem Zeitpunkt ergangene Verwaltungsakte oder abgeschlossene verwaltungsrechtliche Verträge betreffen, ergeben sich ausschließlich aus dem bis zum 1. Januar 1992 maßgeblichen AVG (Art 83 Nr 1 RRG 1992; vgl stellvertr BSG Urteil vom 30. Januar 1997 – 4 RA 55/95, SozR 3-2600 § 300 Nr 10 S 37 ff). Die Entscheidung stellt sich jedoch aus anderen Gründen als richtig dar, sodass die Revision zurückzuweisen ist (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG).
1. Gegenstand der Revision ist das Urteil des LSG, mit dem dieses die Berufung des Klägers gegen den klageabweisenden Gerichtsbescheid des SG zurückgewiesen hat. Dieser verfolgt im Revisionsverfahren sein Klagebegehren (§ 123 SGG) vor dem SG und LSG weiter. Er begehrt schriftsätzlich sinngemäß, erstens die ablehnende Entscheidung der Beklagten über seinen Antrag nach § 44 SGB X im Bescheid vom 24. April 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. August 2003 aufzuheben (Anfechtungsklage), zweitens die Beklagte zu verpflichten, die bisherige bindende Festsetzung des Werts des Rechts auf ARG im Bescheid vom 9. März 1989 zurückzunehmen (Verpflichtungsklage) und drittens die Beklagte zu verpflichten, einen höheren Wert dieses Rechts unter Anrechnung einer Vorleistung von drei Jahren statt von einem Jahr an Kindererziehungszeit “gemäß § 56 SGB VI ohne Einschränkung des § 249 Abs 1 SGB VI” neu festzustellen und viertens die Beklagte zu verurteilen, entsprechende höhere Geldbeträge zu zahlen (eine die Verpflichtungsklage auf Neufeststellung konsumierende Leistungsklage). Die Kombination von Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage ist zulässig (§ 54 Abs 1 und 4 SGG; vgl auch BSG Urteil vom 10. April 2003 – B 4 RA 56/02 R, SozR 4-1300 § 44 Nr 3 RdNr 8).
2. Die Anfechtungsklage ist unbegründet. Es ist nicht rechtswidrig, dass die Beklagte einen Rücknahmeanspruch des Klägers abgelehnt hat. Denn die Voraussetzungen des § 44 Abs 1 und 2 SGB X für einen Anspruch auf Rücknahme der bindenden Festsetzung des Werts des Rechts auf ARG im Bescheid vom 9. März 1989 sind nicht erfüllt, weil diese Festsetzung im Zeitpunkt ihres Erlasses nicht rechtswidrig war. Zwar hat das LSG keine Feststellungen darüber getroffen, ob der Kläger überhaupt die Vorleistung von zwei weiteren Jahren an Kindererziehung erbracht hat. Hierauf kam es aber nach dem maßgeblichen Recht auch nicht an. Die Beklagte hat gemäß §§ 27 Abs 1 Buchst c, 28a Abs 1 Satz 1 iVm §§ 31 Abs 1, 35 Abs 1 AVG idF des Art 2 Nr 6, 8 und 11 des Gesetzes zur Neuordnung der Hinterbliebenenrenten sowie zur Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung vom 11. Juli 1985 (BGBl I 1450) als Zeiten der Erziehung des am 27. Februar 1954 geborenen Sohnes des Klägers (geboren am 4. Juni 1922) zu Recht nur die ersten zwölf Kalendermonate nach Ablauf des Monats der Geburt berücksichtigt. Soweit der Kläger begehrt, “drei Jahre Kindererziehungszeit gemäß § 56 SGB VI ohne Einschränkung des § 249 Abs 1 SGB VI zu berücksichtigen”, konnte die Beklagte diese Bestimmungen im Bescheid vom 9. März 1989 schon deshalb nicht anwenden, weil sie zu diesem Zeitpunkt weder im Bundesgesetzblatt verkündet noch in Kraft getreten waren. Das RRG 1992, dessen Art 1 die Bestimmungen des Sozialgesetzbuchs um das SGB VI ergänzt hat, wurde erst am 18. Dezember 1989 verkündet (BGBl I 2261); die vorgenannten Bestimmungen des SGB VI sind erst am 1. Januar 1992 in Kraft getreten (Art 85 Abs 1 RRG 1992). Für die Rechtmäßigkeit davor getroffener Entscheidungen haben sie allein schon deshalb keine Wirkung (Art 82 GG, § 300 Abs 1 SGB VI). Das BVerfG hat die im Bescheid vom 9. März 1989 angewandten Vorschriften (ua § 28a Abs 1 Satz 1 AVG) als mit dem GG vereinbar erklärt (vgl Urteil vom 7. Juli 1992 – 1 BvL 51/86 ua, BVerfGE 87, 1, 35 ff, 43 ff), ebenso den hier nicht anwendbaren § 249 Abs 1 SGB VI (vgl Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 29. März 1996 – 1 BvR 1238/95, FamRZ 1996, 789; dazu auch: Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 21. Oktober 2004 – 1 BvR 1596/01).
Da die Anfechtungsklage unbegründet ist, sind auch die weiteren Klagen unbegründet.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.
Fundstellen