Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 30. September 1958 mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Durch das angefochtene Urteil hat das Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen in Essen die Klage der im Jahre 1914 geborenen Klägerin, die Rente von der Beklagten begehrt, unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts (SG.) Dortmund abgewiesen, da es bei der Klägerin weder Invalidität noch Berufsunfähigkeit annahm. Das LSG. ging dabei als gerichtsbekannt davon aus, daß leichte sitzende Tätigkeiten, wie sie die Klägerin noch verrichten könne, in D., dem Wohnort der Klägerin, in nennenswerter Anzahl vorhanden seien. Hierbei würdigte es die von ihm eingeholten Auskünfte des Landesarbeitsamtes Nordrhein-Westfalen und der Arbeitsämter Dortmund und Bochum, daß der Raum Dortmund keinen günstigen Frauenarbeitsmarkt darstelle, weibliche Arbeitskräfte in benachbarte Bezirke mit weiten Anfahrten verwiesen werden müßten und für Frauen über 40 Jahre geringe Aussichten beständen, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erhalten, dahin, daß danach die Nachfrage nach derartigen Arbeitsplätzen größer als das Angebot sei und Frauen über 35 Jahre schlechte Vermittlungsaussichten hätten, daß diese Tatsache jedoch für die Entscheidung unbeachtlich sei, weil das Risiko der Vermittlungsfähigkeit von der Rentenversicherung nicht getragen werde.
Das angefochtene Urteil ist auf die mündliche Verhandlung vom 30. September 1958 ergangen und am 11. Februar 1959 zugestellt worden; die Revision wurde in ihm nicht zugelassen.
Mit ihrer am 6. März 1959 eingelegten und am 9. April 1959 begründeten Revision rügt die Klägerin das Vorliegen wesentlicher Verfahrensmängel.
Einmal habe an der Urteilsberatung neben den erkennenden Richtern auch der dem Senat zur Einarbeitung zugeteilte Assessor H. teilgenommen. Das erkennende Gericht sei daher nicht ordnungsmäßig besetzt gewesen (§ 61 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –, § 193 des Gerichtsverfassungsgesetzes – GVG –), da ein wissenschaftlicher Hilfsarbeiter nicht unter die bei dem Gericht zu ihrer juristischen Ausbildung beschäftigten Personen falle, sondern zur Entlastung der Richter beschäftigt werde; die Klägerin verweist insoweit auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Mai 1957 (III C 285/56) und die Ausführungen von Buchholz im Justizverwaltungsblatt 1957 S. 126 ff.
Zum anderen rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 103, 128 und 153 Abs. 1 SGG, die sie darin erblickt, daß das LSG. unter Hinwegsetzung Über die von ihm eingeholten Auskünfte der Arbeitsämter angenommen habe, in Dortmund seien geeignete Arbeitsplätze in nennenswerter Anzahl vorhanden. Besonders daraus, daß das LSG. die Einholung jener Auskünfte für notwendig angesehen habe, ergebe sich, daß es selbst für diese Frage nicht die genügende Sachkunde besessen habe.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Beratung an das LSG. Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt demgegenüber die Zurückweisung der Revision.
Sie hält die erste Rüge der Klägerin schon deshalb für unbeachtlich, weil der genannte Assessor H. dem erkennenden 13. Senat des LSG. niemals angehört und im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch gar nicht bei dem LSG. beschäftigt gewesen sei. Auch für den Fall einer Personenverwechslung hält sie die Rüge nicht für durchgreifend. Ein Richter der Sozialgerichtsbarkeit müsse besondere Kenntnisse auf dem Gebiet des Sozialrechts haben (§ 6 Abs. 1 SGG), die er sich während der Referendarausbildung nicht angeeignet habe. Er sei daher tatsächlich nicht zur Entlastung des Richters, sondern zur Weiteren – notwendigen – wissenschaftlichen Ausbildung zum LSG. berufen und müsse daher auch Gelegenheit haben, an Beratungen teilzunehmen. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts passe für die Sozialgerichtsbarkeit nicht; es bestünden ausreichende Möglichkeiten, die strengen gesetzlichen Formvorschriften den besonderen Bedingungen der Sozialgerichtsbarkeit anzupassen (in entsprechender Anwendung von § 193 GVG).
Im übrigen sei diese ständige Übung des LSG, Nordrhein-Westfalen bisher niemals beanstandet worden.
Die Feststellung des LSG, über das Vorhandensein einer genügenden Anzahl von Arbeitsplätzen für die Klägerin in ihrem Wohnort halte sich durchaus in den Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung; in einem Wohngebiet von über 1 Million Menschen müsse eine solche Feststellung objektiv zutreffend sein. Die Stellungnahmen der Arbeitsämter hätten demgegenüber den Kern der Beweisfrage nicht getroffen, sondern die Frage der Arbeitsvermittlungsmöglichkeit in den Vordergrund gestellt.
Das Bundessozialgericht (BSG.) hat noch eine dienstliche Auskunft des Vorsitzenden des 13. Senats des LSG. Nordrhein-Westfalen eingeholt; aus dieser ergibt sich, daß bei der fraglichen Beratung Assessor H. anwesend gewesen ist. Assessor H. war nach einer abschriftlich beigefügten Verfügung des Präsidenten des LSG. Nordrhein-Westfalen vom 1. September 1959 mit Wirkung vom gleichen Tage unter Berufung in das Beamtenverhältnis als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter in der Sozialgerichtsbarkeit eingestellt und den 13. Senat zur Dienstleistung zugeteilt worden. Nach einer weiteren beigefügten Abschrift hatte der Präsident des LSG. Nordrhein-Westfalen bereits am 16. Januar 1958 allgemein folgendes verfügt: „Betr.: Ausbildung der Assessoren beim Landessozialgericht. Die spätere eigenverantwortliche richterliche Bearbeitung der der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesenen Sonderrechtsgebiete der Sozialversicherung, Kriegsopferversorgung, des Kassenarztrechts usw. erfordert nicht lediglich eine Einarbeitung oder allgemeine Einweisung der als „wissenschaftliche Hilfsarbeiter” eingestellten Assessoren, sondern auch eine „Ausbildung” im Sinne des § 193 GVG.
Diese Auffassung wurde im Hinblick auf die Zuziehung der Hilfsarbeiter zu Beratungssitzungen auch von dem Präsidium des Landessozialgerichts in der Sitzung vom 18.12.1957 einstimmig geteilt.
Die Zuweisung der Assessoren zur „Dienstleistung” in den Senaten beinhaltet also eine Zuweisung zur Ausbildung.”
Aus dem den Parteien mitgeteilten Ergebnis der Beweisaufnahme zieht die Klägerin erneut den Schluß, daß das erkennende Gericht unvorschriftsmäßig besetzt gewesen sei, während die Beklagte sich auf die Übereinstimmung ihrer Auffassung mit der Ansicht des Präsidenten des LSG. Nordrhein-Westfalen beruft.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist frist- und formgerecht unter Antragstellung eingelegt und begründet worden. Sie ist nicht zugelassen, eine Gesetzesverletzung bei der Beurteilung eines ursächlichen Zusammenhangs im Sinne von § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG kommt im vorliegenden Fall nicht in Frage, die Revision wäre daher nur statthaft, wenn schlüssig ein wesentlicher Verfahrensmangel gerügt wäre.
In dieser Hinsicht erhebt die Klägerin zwei Rügen: Einmal sei das erkennende Gericht nicht ordnungsmäßig besetzt gewesen und zum anderen habe es bei seiner Beweiswürdigung und bei der Handhabung seiner Amtsaufklärung gegen Verfahrensvorschriften verstoßen.
Die Revision ist bereits wegen der zuerst erhobenen Rüge statthaft.
Nach § 33 SGG wird jeder Senat eines LSG. in der Besetzung mit einem Vorsitzenden, zwei Berufsrichtern und zwei Landessozialrichtern tätig. Da sich eine Mitwirkung des bei der Beratung anwesenden Assessors H. bei der Urteilsfindung durch die von dem erkennenden Senat angestellten Ermittlungen nicht hat nachweisen lassen, ist davon auszugehen, daß das Gericht in der in § 33 SGG vorgeschriebenen ordnungsmäßigen Zusammensetzung sein Urteil gefällt hat.
Mit der weitergehenden Rüge der Klägerin, das Gericht sei nicht ordnungsmäßig besetzt gewesen, ist jedoch gleichzeitig als gerügt anzusehen, daß ein nicht zum erkennenden Gericht gehörender Assessor an der Urteilsberatung teilgenommen habe, wobei es unerheblich ist, daß der Name jenes Teilnehmers ursprünglich falsch angegeben war.
Für die Beratung und Abstimmung gelten nach § 61 SGG die „Bestimmungen der §§ 192 bis 198 GVG entsprechend. Nach § 193 GVG dürfen bei der Beratung und Abstimmung außer den zur Entscheidung berufenen Richtern nur die bei demselben Gericht zu ihrer juristischen Ausbildung beschäftigten Personen zugegen sein, soweit der Vorsitzende deren Anwesenheit gestattet. Diese Bestimmung dient der Wahrung des Beratungsgeheimnisses und dem Ausschluß jeder Möglichkeit einer Beeinflussung der Richter durch dritte Personen bei ihrer Urteilsfindung. Da in dieser Hinsicht keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen dem Verfahren in der Sozialgerichtsbarkeit und in der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit bestehen, es sich vielmehr bei der u. a. durch § 193 GVG getroffenen Abschirmung gegen fremde Einflüsse um allgemeine Grundsätze rechtsprechender Tätigkeit überhaupt handelt, muß davon ausgegangen werden, daß § 193 GVG in der Sozialgerichtsbarkeit grundsätzlich in einer mit der Handhabung in den anderen Zweigen der Gerichtsbarkeit, für die § 193 GVG gilt, übereinstimmenden Weise anzuwenden ist.
Das Reichsgericht (RG.) ist in der Frage, ob außer den Referendaren, die unzweifelhaft mit jener Vorschrift gemeint sind, auch anderen Personen die Teilnahme an der Beratung gestattet werden kann, stets sehr streng gewesen, wobei es mit Recht immer eindeutig auf die Frage der noch nicht abgeschlossenen juristischen Ausbildung zum Richter und nicht auf die Bezeichnung oder sonstige Dienststellung des Teilnehmenden abstellte (vgl. Urteile vom 9.4.1894, RGSt. 25, 235; vom 25.7.1894, RGSt. 26, 42; vom 5.5.1930, RGSt. 64, 164). Von dieser ständigen Rechtsprechung stellt das Urteil vom 7. Januar 1943 (RGSt. 76, 322) keine Ausnahme dar, da es sich bei den dort in Frage kommenden „Hilfsrichtern”, ähnlich wie bei den im Kriege ohne zweites Examen zu Assessoren (K) ernannten Referendaren, um Personen handelte, denen aus allgemeinen politischen Gründen lediglich eine stärkere beamtenrechtliche Sicherung, insbesondere auch hinsichtlich des Gehalts und der Versorgung, gegeben werden sollte.
Nach dem Kriege hat die Frage der Teilnahme von Hilfsarbeitern an den Sitzungen insbesondere im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbarkeit eine erhebliche Rolle gespielt. In einer Reihe von Urteilen haben der 3., 4. und 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts für das Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichtsbarkeit klargestellt, daß die Anwesenheit einer als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter bei einem Verwaltungsgericht beschäftigten Person an der der Verkündung eines Urteils unmittelbar vorangehenden Beratung unzulässig sei und zur Aufhebung des Urteils wegen Verfahrensverstoßes fuhren müsse. Zur Begründung wird dabei darauf hingewiesen, daß nur diejenigen Personen, die die erste juristische Staatsprüfung bestanden haben, zur Ableistung ihrer Ausbildung beschäftigt seien. Diejenigen, die die zweite Prüfung bereits bestanden hatten, hätten dagegen dadurch die Fähigkeit zum Richteramt ganz allgemein erlangt; ihre Beschäftigung diene der Einarbeitung und der Fortbildung, nicht jedoch der Ausbildung (vgl. Urteile vom 17.5.1957, III C 285/56, JR 1957 S. 453, vom 8.10.1957, III C 92/57, vom 50.8. und 27.9.1957, IV C 169 und 183/57 und vom 9.7.1958, V B 56/58; Buchholz in JVBl. 1957 S. 126).
Im Schrifttum ist die Frage, ob es geboten und überhaupt zulässig ist, im Wege einer gesetzlichen Änderung den wissenschaftlichen Hilfsarbeitern (insbesondere an den höheren Gerichten) die Möglichkeit zu geben, an den Urteilsberatungen teilzunehmen, Gegenstand ausgedehnter, sich zum Teil erheblich widersprechender Erörterungen geworden. Übereinstimmung besteht dabei insoweit, als diese Anwesenheit nach den zur Zeit geltenden Bestimmungen wohl allgemein nicht als gedeckt angesehen wird (vgl. insbesondere Deutsche Richterzeitung 1959 S. 46 u. S. 271, Recht im Amt 1959 S. 148, Öffentliche Verwaltung 1956 S. 289).
Demnach stimmt, soweit sich Rechtsprechung und Literatur für die übrigen Gerichtsbarkeiten mit der hierzu entscheidenden Frage beschäftigt haben, die Auffassung hinsichtlich der Unzulässigkeit der Teilnahme überein. Für das Gebiet der Sozialgerichtsbarkeit muß das gleiche gelten. § 6 SGG verlangt als zwingendes Erfordernis auch für den Berufsrichter der Sozialgerichtsbarkeit nur die jeweils durch die zweite (große) juristische Staatsprüfung erlangte Fähigkeit zum Richteramt, Wenn daneben in § 6 Abs. 1 Satz 2 SGG vorgeschrieben wird, die Richter sollten besondere Kenntnisse auf den Gebieten des Sozialrechts und des sozialen Lebens haben, so handelt es sich dabei schon nach dem Wortlaut nicht um ein durch „Ausbildung” zu vermittelndes Wissen. Dieses Wissen wird zwar vielen, dem Gebiet der Sozialversicherung bisher fremd gegenüberstehenden Juristen gerade durch eine Beschäftigung als wissenschaftliche Hilfsarbeiter, Vorberichterstatter usw. vermittelt werden können, doch handelt es sich bei dieser Tätigkeit nicht um eine Ausbildung, sondern – soweit jene Personen nicht überhaupt überwiegend zur Entlastung und Hilfe tätig werden – um eine Fortbildung. Eine Ausbildung kann nur dann angenommen werden, wenn sie ausdrücklich für die Ausübung des angestrebten Berufs als erforderlich vorgeschrieben ist und von jedem Anwärter gleichermaßen durchlaufen sein muß, wobei es gleichgültig ist, ob in einem derartigen Fall die Wahl zwischen zwei gleichwertigen Ausbildungsarten bzw. -wegen offengelassen wird. In der Sozialgerichtsbarkeit besteht eine derartige Vorschrift nicht; nur ein Teil sämtlicher Richter war und ist vor ihrer Anstellung als Hilfsrichter, Richter usw. zusätzlich als „wissenschaftlicher Hilfsarbeiter” oder in ähnlicher Stellung bei einem Gericht der Sozialgerichtsbarkeit tätig gewesen. Wollte man eine derartige Tätigkeit ohne entsprechende Vorschriften als Ausbildung im Sinne des § 193 GVG ansehen, so fehlte es an jeder Möglichkeit, klarzustellen, für welche Zeit eine derartige Ausbildung dann angenommen werden mußte. Es ist bekannt, daß nicht nur die Dauer der Beschäftigung dieser wissenschaftlichen Hilfsarbeiter usw. fast stets ein Jahr überschreitet, von welcher Zeit äußerstenfalls nur eine kurze Spanne als Ausbildung angesehen werden könnte, sondern daß in aufgabenmäßig völlig gleichartigen Stellen sich auch Personen in verschiedenen Berufsstellungen (von Assessoren bis zu Oberregierungsräten) befinden, die rechtlich nicht unterschiedlich behandelt werden dürften.
Die Revision ist somit wegen Verletzung der Verfahrensvorschrift des § 193 GVG statthaft. Da die Möglichkeit nicht auszuschalten ist, daß das Urteil auf der Anwesenheit des Assessors H. beruht, ist die Revision auch begründet.
Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Sache, da die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen gleichermaßen in der beanstandeten mündlichen Verhandlung getroffen sind und daher für eine Rechtsfindung durch das BSG. nicht in Frage kommen, an das LSG. zurückzuverweisen, ohne daß es einer Entscheidung über die sonstigen Verfahrensrügen bedurfte.
Fundstellen
Haufe-Index 926550 |
BSGE, 147 |
MDR 1961, 265 |
DVBl. 1961, 346 |