Leitsatz (amtlich)
Die Gestattung der Weiterversicherung ist ein Verwaltungsakt und kann deshalb nicht nach den Vorschriften des BGB wegen Irrtums angefochten werden.
Normenkette
RVO § 1445 Fassung: 1934-05-17, § 1423 Fassung: 1957-02-23; BGB § 119 Abs. 1 Fassung: 1896-08-18
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 31. Mai 1956 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der 1890 geborene Kläger war von 1906 bis 1941 bei der Deutschen Reichsbahn beschäftigt, zunächst als Arbeiter, seit 1919 als Beamter. Er entrichtete von 1906 bis 1926 Pflicht- und freiwillige Beiträge zur Invalidenversicherung, insgesamt 454 Wochenbeiträge. Zum 1. August 1941 wurde er als technischer Reichsbahninspektor wegen dauernder Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt. Am 31. Juli 1951 beantragte er bei der Beklagten, ihm die freiwillige Weiterversicherung zu gestatten. Die Beklagte gab diesem Antrag durch eine Verfügung vom 6. August 1951 statt, die dem Kläger bekanntgegeben wurde. Sie nahm auch in der Folgezeit die für die Jahre 1949 und 1950 nachentrichteten Beiträge entgegen.
Am 17. Oktober 1951 beantragte der Kläger die Gewährung von Invalidenrente. Die Beklagte lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 24. März 1952 mit der Begründung ab, die Anwartschaft sei erloschen. In einem weiteren Bescheid vom 19. Juli 1952 lehnte sie auch den Antrag vom 31. Juli 1951 auf Gestattung der freiwilligen Weiterversicherung ab, weil der Kläger bereits am Tage der Antragstellung invalide gewesen sei. Auf wiederholte Gegenvorstellungen des Klägers antwortete die Beklagte mit Schreiben vom 28. Januar, 16. Februar und 14. März 1952; in ihnen wies sie darauf hin, der Kläger sei bereits bei Stellung seines Antrags auf Fortsetzung der Mitgliedschaft invalide gewesen, daher seien die rückwirkend geleisteten freiwilligen Beiträge unwirksam und müßten zurückerstattet werden. Daraufhin legte der Kläger Berufung ein. Das Oberversicherungsamt (OVA.) hob durch Urteil vom 5. Februar 1953 die beiden Bescheide auf und verwies die Sache an die Beklagte zurück, und zwar mit der Begründung, in dem Verhalten der Beklagten sei ein Anerkenntnis im Sinne von § 1445 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a. F. zu erblicken; an dieses sei sie gebunden, sie sei daher nicht mehr befugt gewesen, die Beitragsleistungen des Klägers nachträglich als rechtsunwirksam anzusehen. Dieses Urteil ist rechtskräftig geworden.
Nunmehr lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 20. August 1953 den Antrag auf Invalidenrente abermals ab: Die Anwartschaft sei erloschen, die Nachentrichtung der freiwilligen Beiträge sei wirkungslos, da sie die Gestattung der Nachentrichtung durch ihre Schreiben vom 28. Januar, 16. Februar und 14. März 1952 wegen Irrtums widerrufen habe. Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Berufung eingelegt. Das OVA. hat die Beklagte zur Zahlung von Invalidenrente ab 1. November 1951 verurteilt (Urteil vom 19.11.1953). Das Landessozialgericht (LSG.) hat durch Urteil vom 31. Mai 1956 die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Zur Begründung hat es ausgeführt, in der Mitteilung vom 6. August 1951 an den Kläger sei ein gültiges Anerkenntnis zu erblicken, da ein solches auch durch schlüssige Handlungen erfolgen könne. Eine Anfechtung dieses Anerkenntnisses wegen Irrtums nach §§ 119 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) sei ausgeschlossen; für eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung nach § 123 BGB fehlten die Voraussetzungen.
Gegen das am 29. Juni 1956 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 26. Juli 1956 Revision eingelegt und sie am 27. August 1956 begründet. Sie trägt vor, es handele sich hier nicht darum, ob das Anerkenntnis zurückgenommen werden könne, wie das LSG. angenommen habe, sondern um die Anfechtung der darin liegenden Willenserklärung wegen Irrtums. Eine solche Anfechtung sei zulässig, da die Bestimmungen der §§ 119 ff. BGB auch bei öffentlich-rechtlichen Willenserklärungen anwendbar seien. Der Kläger sei bei Stellung seines Antrages auf Weiterversicherung bereits invalide gewesen; der Gesundheitszustand einer Person sei eine Eigenschaft, die im Verkehr als wesentlich angesehen werde; ein Irrtum darüber berechtige zur Anfechtung.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG. Niedersachsen vom 31. Mai 1956 und das Urteil des OVA. H vom 19. November 1953 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 20. August 1953 abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, das Anerkenntnis der Wirksamkeit der Beiträge, das einen Verwaltungsakt darstelle, könne nicht wegen Irrtums angefochten werden.
II.
Die durch die Zulassung statthafte, auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist nicht begründet, weil die Beklagte an ihre Erklärung über die Gestattung der Weiterversicherung gebunden ist und diese nicht nach § 119 BGB wegen Irrtums anfechten kann.
Die Beklagte sieht ihre Anfechtungserklärungen in ihren Schreiben vom 28. Januar, 16. Februar und 14. März 1952, in denen sie erwähnt, der Kläger sei bereits bei Stellung seines Antrags auf Gestattung der Weiterversicherung invalide gewesen, daher seien die freiwillig geleisteten Beiträge unwirksam; damit hat sie nach ihrer Auffassung mittelbar zum Ausdruck gebracht, sie habe nicht gewußt, daß der Kläger bei der Antragstellung bereits invalide gewesen sei. Wenn in diesen Schreiben das Wort "Anfechtung" nicht enthalten ist, so wäre dies ohne Bedeutung, weil für die Wirksamkeit einer Anfechtungserklärung der ausdrückliche Gebrauch des Wortes "Anfechtung" nicht notwendig ist. Es genügt vielmehr, wenn der Wille, die betreffende Erklärung solle wegen des Willensmangels rückwirkend beseitigt werden, unzweideutig zum Ausdruck kommt (vgl. BGH in Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk des BGH, BGB § 119 Nr. 5). Erblickt man nun in diesen Erklärungen eine Anfechtung der Gestattung der Weiterversicherung vom 6. August 1951, so ist die Anfechtung schon deshalb als unwirksam anzusehen, weil über ihre Wirksamkeit bereits durch das Urteil des OVA. vom 5. Februar 1953 rechtskräftig entschieden ist, auch wenn sich das Gericht nicht besonders mit diesen Fragen auseinandergesetzt hat. Denn das Urteil besagt ausdrücklich, die Beklagte sei an ihr Anerkenntnis gebunden. Die Rechtskraft dieses Urteils verbietet es jedoch, erneut über die Wirksamkeit der vor seinem Erlaß liegenden Anfechtungserklärungen zu entscheiden.
Wenn man aber in der Bezugnahme auf die früheren Anfechtungserklärungen im Bescheid vom 20. August 1953 eine neue Anfechtungserklärung sehen wollte, so müßte dann zwar über die Rechtswirksamkeit dieser neuen Anfechtung entschieden werden. Jedoch kann die Beklagte dann ebenfalls nicht durchdringen. Denn das Anerkenntnis vom 6. August 1951 ist ein Verwaltungsakt und kann nicht nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts wegen Irrtums angefochten werden. In der Gestattung der Weiterversicherung liegt keine privatrechtliche Erklärung, wie sie im Geschäftsverkehr zwischen gleichberechtigten Parteien abgegeben wird, vielmehr handelt es sich um eine Erklärung, die sich aus dem öffentlich-rechtlichen Verhältnis zwischen Versicherungsträger und Versichertem über das Bestehen und die Gestaltung des Versicherungsverhältnisses ergibt. Eine derartige Erklärung ist eine hoheitliche Regelung des einzelnen Versicherungsverhältnisses und stellt daher einen Verwaltungsakt dar. Die Bindung der Verwaltung, die jedenfalls auf den der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesenen Rechtsgebieten für einen Verwaltungsakt nach § 77 SGG wesentlich ist, kommt auch in § 1445 Abs. 2 Satz 2 RVO a. F. deutlich zum Ausdruck. In dem gleichen Sinne ist die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA.) zu verstehen, daß über die Frage, ob ein wirksames Anerkenntnis der Beiträge vorliegt, nicht erst bei der Geltendmachung von Rentenansprüchen entschieden zu werden braucht, sondern daß darüber schon vorher selbständig entschieden werden kann (vgl. Grundsätzliche Entscheidung Nr. 1949, AN. 1914 S. 837).
Ist aber eine derartige Erklärung ein Verwaltungsakt, so kann dieser nur nach den Vorschriften des Verwaltungsrechts zurückgenommen oder widerrufen, aber nicht nach bürgerlich-rechtlichen Vorschriften angefochten werden.
Es ist zwar bestritten, ob die Anfechtungsvorschriften des BGB auf Verwaltungsakte entsprechend anzuwenden sind. Die Literatur verneint dies überwiegend (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. II S. 656 e; Koch-Hartmann, Angestelltenversicherungsgesetz § 190 S. 681; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 1. Bd. 7. Aufl. S. 221; a. A. der Verbandskommentar der Rentenversicherungsträger 5. Aufl. § 1445 Anm. 2). Das RVA. hat in mehreren Urteilen zu dieser Frage Stellung genommen. In seinen Urteilen vom 14. Februar 1912 (AN. 1912 S. 676) und 17. Januar 1913 (AN. 1913 S. 406) hat es die Möglichkeit einer Anfechtung nach § 119 BGB verneint und nur eine solche wegen Arglist (§ 123 BGB) für zulässig angesehen. In einem weiteren Urteil vom 22. Dezember 1914 (AN. 1914 S. 837) hat es dahinstehen lassen, ob - abgesehen von Fällen der arglistigen Täuschung - ein Anerkenntnis angefochten werden könne; jedenfalls sei dies nur unter den Voraussetzungen der §§ 119 ff. BGB möglich; diese Voraussetzungen seien aber in dem damals entschiedenen Fall nicht gegeben. Für die Zulässigkeit einer Anfechtung wegen Irrtums kann also die Rechtsprechung des RVA. nicht angeführt werden. Der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG.) hat in seinem Urteil vom 27. Juni 1958 (BSG. 7 S. 275) die Anfechtungsvorschriften des bürgerlichen Rechts wegen Irrtums auf einen nach dem Verfahrensrecht der RVO erteilten Bescheid über die Bewilligung einer Invalidenrente nicht für anwendbar erklärt, da es nicht angehe, einen der Rechtskraft fähigen Bescheid gleichzeitig als eine den bürgerlich-rechtlichen Anfechtungsvorschriften unterliegende Willenserklärung anzusehen.
Der Senat schließt sich dieser Auffassung auch für andere Verwaltungsakte jedenfalls auf dem Gebiet der Sozialversicherung an, und zwar aus folgenden Erwägungen: Im Sozialversicherungsrecht sind Rücknahme und Widerruf von Verwaltungsakten - entgegen einer im Schrifttum vertretenen Auffassung (vgl. Haueisen, NJW. 1959 S. 697 (701 f.)) - abschließend geregelt, so in den §§ 608, 1293 RVO a. F. (§ 1286 RVO n. F.) wegen Änderung der Verhältnisse oder in den §§ 619, 1304 RVO a. F. für die Fälle, in denen sich ein zu Ungunsten des Versicherten ergangener rechtskräftiger Verwaltungsakt nachträglich als unrichtig herausstellt, ferner in den wichtigen Fällen des § 1744 RVO. (Weitergehend ist die Rücknahme von Verwaltungsakten in § 185 AVAVG n. F. und in § 41 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung vom 2. Mai 1955 geregelt). Wenn aber im Gesetz die Rücknahme eines Verwaltungsaktes ohne Änderung der Verhältnisse nur zu Gunsten des Versicherten, aber grundsätzlich nicht zu seinen Ungunsten vorgesehen ist, so kann daraus nur geschlossen werden, daß die Bindung der Verwaltung an ihren Akt zu Ungunsten des Versicherten - soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt - nicht durchbrochen werden darf. Insoweit verbleibt es bei der sich aus § 77 SGG ergebenden Bindung (ebenso Dapprich, Die Sozialgerichtsbarkeit, 1960 S. 6). Der gegenteiligen Auffassung kann der Senat nach geltendem Recht nicht beitreten, da jedenfalls für die Rentenversicherung nach Wortlaut und Sinn der gesetzlichen Vorschriften eine abschließende Regelung vorliegt. Diese gesetzliche Regelung verbietet es auch, die Anfechtungsvorschriften des BGB zur Ergänzung heranzuziehen. Im übrigen ist eine Anfechtung nach § 119 BGB grundsätzlich mit einer Schadensersatzpflicht des Anfechtenden nach § 122 BGB verbunden; eine solche Schadensersatzpflicht ist aber dem öffentlichen Recht fremd (vgl. Forsthoff, a. a. O.). In öffentlich-rechtlichen Verhältnissen wäre auch dem anderen Teil, dem gegenüber die Verwaltung ihren Verwaltungsakt nicht gelten lassen will, im allgemeinen allein mit einem Ersatz des "Vertrauensschadens" wenig gedient, vielmehr soll gerade durch einen Verwaltungsakt Klarheit und Sicherheit der Rechtsbeziehungen verbürgt werden. Dies muß vor allem in den Fällen des § 1445 Abs. 2 RVO a. F. gelten. Denn durch dieses Anerkenntnis soll klargestellt werden, ob eine wirksame Beitragsentrichtung vorliegt, damit nicht später bei einem Rentenantrag die Wirksamkeit der Beiträge bestritten werden kann. Dem Versicherten soll also Gewißheit gegeben werden, daß seine Beiträge wirksam entrichtet worden sind. Mit diesem Gedanken der Rechtssicherheit wäre es aber nicht zu vereinbaren, wenn die Erklärung über die Gestattung der Weiterversicherung nachträglich wegen Irrtums angefochten werden könnte.
Im Hinblick auf die Rechtskraft des Urteils des OVA. vom 5. Februar 1953 ist im vorliegenden Fall nur zu prüfen, ob der Verwaltungsakt nach Erlaß des Urteils wegen Irrtums angefochten werden konnte. Dies ist, wie dargelegt, zu verneinen. Die Revision der Beklagten war daher mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.
Fundstellen
BSGE, 226 |
NJW 1960, 1031 |
MDR 1960, 532 |