Leitsatz (amtlich)
1. Dem Anspruch des Versicherten auf Familienkrankenpflege für einen Familienangehörigen (RVO § 205) steht nicht entgegen, daß dieser erst nach Eintritt des Versicherungsfalls gegenüber dem Versicherten unterhaltsberechtigt geworden ist.
2. Ist der Anspruch auf Familienkrankenpflege gegen mehrere Krankenkassen begründet, so ist im Rahmen desselben Versicherungsfalls - nach Gewährung der satzungsmäßigen Leistungen durch die erste Kasse - die Inanspruchnahme der zweiten Kasse auf Krankenhauspflege jedenfalls dann nicht ausgeschlossen, wenn diese Kasse bei Eintritt des Versicherungsfalls wegen Fehlens einer Anspruchsvoraussetzung noch nicht in Anspruch genommen werden konnte.
Die von der ersten Kasse gewährten Leistungen sind - in entsprechender Anwendung des RVO § 212 Abs 1 S 2 - auf die von der zweiten Kasse zu gewährenden Leistungen anzurechnen.
Normenkette
RVO § 205 Fassung: 1933-03-01, § 212 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1924-12-15
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 13. Mai 1959 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Klägerin H. ist bei der beklagten Ersatzkasse, ihr Ehemann bei der beigeladenen Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) pflichtversichert. Das im Jahre 1948 geborene Kind Angelika der Eheleute H. leidet an einer angeborenen Hüftgelenksverrenkung. Dieses Leiden machte seit 1949 wiederholt Krankenhauspflege erforderlich, deren Kosten zunächst teils vom Bezirksfürsorgeverband, teils von der beigeladenen AOK im Rahmen der Familienhilfe für den Ehemann H. getragen wurden. Am 21. November 1951 war jedoch der Ehemann H. mit seinem Anspruch auf Krankenhauspflege für seine Tochter - nach Gewährung einer Krankenhauspflege von insgesamt 20 Wochen - bei der beigeladenen AOK ausgesteuert. Diese zahlte für die Folgezeit nur den Abgeltungsbetrag von 1 DM je Krankenhausbehandlungstag nach Abschnitt III des Erlasses des Reichsarbeitsministers (RAM) über Verbesserungen in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 2. November 1943 (AN 485).
Im Juni 1954 beantragte die Klägerin bei der beklagten Ersatzkasse, die nach ihrer Satzung Krankenhauspflege für Familienangehörige 52 Wochen lang gewährt, die Übernahme der Kosten der Krankenhauspflege für ihr Kind von der 21. Woche an. Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, ein Anspruch auf Familienhilfe bestehe nur auf Grund der Versicherung des Vaters, wenn beide Elternteile versichert seien; selbst wenn aber ein Doppelanspruch bestehe, sei nach § 205 Abs. 4 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) die beigeladene AOK als zuerst in Anspruch genommene Krankenkasse allein leistungspflichtig (Bescheid vom 21. Juli 1954). Der Widerspruch der Klägerin wurde von der Widerspruchsstelle der beklagten Ersatzkasse mit einer ähnlichen Begründung zurückgewiesen (Bescheid vom 2. November 1954).
Auf die Klage der Ehefrau H. hin hob das Sozialgericht den Widerspruchsbescheid auf und verurteilte die beklagte Ersatzkasse, der Klägerin die nach Gesetz und Satzung zu errechnenden Kosten der Krankenhauspflege des Kindes Angelika H., soweit sie in der Zeit vom 14. Februar 1950 bis 9. Februar 1954 entstanden sind, für die Dauer von weiteren 32 Wochen zu erstatten (Urteil vom 5. Januar 1956).
Mit der Berufung hat die beklagte Ersatzkasse beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie hat geltend gemacht, bei Eintritt des Versicherungsfalls sei sie nicht leistungspflichtig gewesen, weil das Kind in diesem Zeitpunkt - vor Inkrafttreten des Gleichberechtigungssatzes - nur gegenüber dem Vater unterhaltsberechtigt gewesen sei. Selbst wenn aber das Kind nach Inkrafttreten des Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) auch gegenüber der Klägerin unterhaltsberechtigt geworden sei, entfalle ihre Leistungspflicht nach § 205 Abs. 4 Satz 2 RVO, weil die beigeladene AOK zuerst in Anspruch genommen worden sei. Ein späterer Wechsel der Kasse - etwa deshalb, weil die andere Kasse höhere Leistungen gewähre - sei unzulässig.
Die Klägerin und die beigeladene AOK haben beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat darüber Beweis erhoben, ob das Kind fortlaufend behandlungsbedürftig geblieben ist. Mit Urteil vom 13. Mai 1959 hat es die Berufung zurückgewiesen mit der Maßgabe, daß die Beklagte verurteilt wurde, der Klägerin die satzungsmäßigen Kosten der Krankenhauspflege ihres Kindes Angelika für die Zeit vom 4. Mai 1953 bis 19. Juni 1953 und vom 23. Juli 1953 bis 15. Januar 1954 abzüglich des von der beigeladenen AOK gezahlten Abgeltungsbetrages von täglich 1 DM zu erstatten; die Revision wurde zugelassen. Das LSG ist davon ausgegangen, daß die Klägerin erst mit Inkrafttreten des Gleichberechtigungssatzes am 1. April 1953 (Art. 3 Abs. 2 i. V. m. Art. 117 Abs. 1 GG) ihrem Kinde gegenüber unterhaltspflichtig geworden sei. Der Versicherungsfall sei allerdings schon im Jahre 1949 eingetreten und habe in der hier fraglichen Zeit niemals als abgeschlossen angesehen werden können, weil das Kind seit der ersten Behandlung fortlaufend behandlungsbedürftig geblieben sei. Gleichwohl werde dadurch die Leistungspflicht der beklagten Ersatzkasse nicht ausgeschlossen. Der Gleichberechtigungssatz erfasse mit seinem Inkrafttreten alle laufenden Fälle. Die Leistungspflicht der Beklagten sei auch nicht deshalb abzulehnen, weil bereits die beigeladene AOK bis zur Aussteuerung Krankenhauspflege gewährt habe. § 205 Abs. 4 RVO habe nur den Zweck, Doppelleistungen auszuschließen. Sei zunächst eine Kasse mit kürzerer Leistungsverpflichtung in Anspruch genommen, so könne für die darüber hinausgehende Leistungszeit die entsprechende Leistung von der anderen Kasse mit der zeitlich längeren Leistungsverpflichtung gefordert werden. Dabei müsse allerdings nach dem in § 212 RVO enthaltenen allgemeinen Grundsatz die von der beigeladenen AOK bereits gewährte Leistung auf die Leistungsverpflichtung der Beklagten angerechnet werden. Den Abgeltungsbetrag von 1 DM täglich hätte die beigeladene AOK nicht zu zahlen brauchen, weil die Beklagte zur Krankenhauspflege in vollem Umfange - also einschließlich ärztlicher Behandlung, Arzneien und kleinerer Heilmittel, für deren Abgeltung der Betrag von 1 DM bestimmt sei - verpflichtet gewesen sei. Sie habe insoweit eine von der Beklagten geschuldete Leistung erbracht, die sich die Klägerin anrechnen lassen müsse, und deren Erstattung die beigeladene AOK von der Beklagten fordern könne.
Gegen dieses Urteil hat die beklagte Ersatzkasse Revision eingelegt mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie hält an ihrer Auffassung fest, daß die beigeladene AOK als zuerst in Anspruch genommene Kasse allein zur Leistung verpflichtet sei. Ein späterer Wechsel sei auch dann nicht statthaft, wenn die andere Kasse nach ihrem Satzungsrecht höhere Leistungen als die zuerst in Anspruch genommene vorsehe. Die Auffassung des LSG, daß die zweite Kasse mit dem die Leistungen der zuerst in Anspruch genommenen Kasse überschießenden Teil zur Leistung verpflichtet sei, finde im Gesetz keine Stütze.
Die Klägerin hat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die beigeladene AOK hat sich dem Antrag der Klägerin angeschlossen.
II
Der Anspruch auf Familienkrankenpflege für ein eheliches Kind setzt nach § 205 Abs. 1 Satz 1 RVO i. V. m. Abschn. II Nr. 1 des Erlasses des RAM über Verbesserungen in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 2. November 1943 (AN 485) voraus, daß dieses Kind gegenüber dem anspruchsberechtigten Versicherten unterhaltsberechtigt ist. Im Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls (1949) war das Kind Angelika, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, gegenüber der Klägerin nicht unterhaltsberechtigt. Vor dem Inkrafttreten des Gleichberechtigungssatzes am 1. April 1953 (Art. 3 Abs. 2 i. V. m. Art. 117 Abs. 1 GG) haftete der Vater vor der Mutter für den Unterhalt des ehelichen Kindes (§ 1606 Abs. 2 Satz 2 BGB aF). Im vorliegenden Fall verdiente der Ehemann der Klägerin nach den Feststellungen des LSG ausreichend, um der Unterhaltspflicht gegenüber seinem Kind nachkommen zu können.
Die Klägerin wurde ihrem Kinde gegenüber erst mit dem Inkrafttreten des Gleichberechtigungssatzes am 1. April 1953 unterhaltspflichtig. Von diesem Zeitpunkt an war sie verpflichtet, mit den Einkünften aus ihrer Angestelltentätigkeit sowie durch Führung des Haushalts und Betreuung des Kindes zum angemessenen Unterhalt der Familie beizutragen (§ 1606 Abs. 3 i. V. m. § 1360 BGB). Insofern war das Kind Angelika auch gegenüber der Klägerin unterhaltsberechtigt geworden (BSG 11, 30; 12, 38).
Daß die Unterhaltsberechtigung erst mehrere Jahre nach Eintritt des Versicherungsfalls entstanden ist, schließt entgegen der Meinung der beklagten Ersatzkasse die Entstehung eines Anspruchs auf Familienhilfe in der Person der Klägerin nicht aus. Es muß hier zwischen dem Versicherungsfall der Krankheit und dem "Leistungsfall" der Familienhilfe unterschieden werden, ähnlich wie bei dem Anspruch auf Krankengeld, der außer dem Versicherungsfall (Krankheit) als weitere Voraussetzung der Anspruchsberechtigung noch das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit erfordert. Diese kann erst nach Eintritt des Versicherungsfalls gegeben sein und löst, sobald sie vorliegt, den Anspruch auf das Krankengeld aus. Mit Recht hat daher das Reichsversicherungsamt - RVA - (Grunds. Entsch. Nr. 4769; AN 1934, 189) den Anspruch auf Familienhilfe für den unterhaltsberechtigten Familienangehörigen nicht deshalb für ausgeschlossen erachtet, weil die den Unterhaltsanspruch begründende familienrechtliche Beziehung - in dem vom RVA entschiedenen Fall war es die Eheschließung - erst nach Eintritt des Versicherungsfalles entstanden war. So steht auch dem Anspruch der Klägerin auf Familienhilfe für ihr Kind Angelika nicht entgegen, daß die Unterhaltspflicht der Klägerin erst nach Eintritt des Versicherungsfalls entstanden ist.
Ebensowenig wird der Anspruch dadurch ausgeschlossen, daß das Leiden, das die Krankenhauspflege des Kindes Angelika erforderlich machte, eine Körperbehinderung darstellt. Ist die Körperbehinderung - wie im vorliegenden Fall - behandlungsbedürftig, so liegt zugleich eine Krankheit im Sinne des Zweiten Buches der RVO vor (vgl. BSG 13, 134, 136).
Dem Anspruch der Klägerin steht auch nicht entgegen, daß die beigeladene AOK im Rahmen desselben Versicherungsfalls Krankenhauspflege auf die Dauer von 20 Wochen gewährt hat. Nach § 205 Abs. 4 Satz 1 RVO wird die Leistung nur einmal gewährt, wenn ein Anspruch auf Familienhilfe - wie im vorliegenden Fall - gegen mehrere Krankenkassen begründet ist. Was als nur einmal zu gewährende "Leistung" zu verstehen ist, folgt aus dem korrespondierenden, im Vordersatz dieser Vorschrift verwendeten Begriff des "Anspruchs nach Abs. 1 bis 3". Damit ist klargestellt, daß die Leistung dem umfassenden Anspruch auf die Sachleistung der Krankenpflege entspricht, wie er in § 205 RVO Abs. 1 bis 3 - und seit Inkrafttreten des vorerwähnten Erlasses des RAM vom 2. November 1943 auch durch Abschn. II Nr. 1 dieses Erlasses - näher festgelegt ist.
Welche von den gleichermaßen in Frage kommenden Krankenkassen im Rahmen desselben Versicherungsfalls zur Leistung verpflichtet ist, richtet sich gemäß § 205 Abs. 4 Satz 2 RVO danach, wer zuerst in Anspruch genommen wird. Aus der Verbindung der beiden Regelungen in Satz 1 und 2 des § 205 Abs. 4 RVO ist der Grundsatz der "Unteilbarkeit des Leistungsanspruchs" in dem Sinne abgeleitet worden, daß die zuerst für einen Versicherungsfall auf Familienkrankenpflege in Anspruch genommene Krankenkasse für diesen Versicherungsfall allein leistungspflichtig ist (vgl. Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 16. Aufl. Teil II § 205, Anm. 14, S. 17/607 und Anm. 15, S. 17/611; vgl. auch BSG 14, 22, 23 f). Ob dieser Grundsatz überhaupt den Fall betrifft, daß Krankenhauspflege von den beiden in Frage kommenden Krankenkassen für verschiedene, sich nicht deckende Zeiträume beansprucht wird, kann der Senat dahinstehen lassen. Auf jeden Fall muß er dann eine Einschränkung erfahren, wenn - wie im vorliegenden Fall - die erste Kasse als zunächst allein zur Leistung der Krankenhauspflege verpflichtet zwangsläufig in Anspruch genommen werden mußte und die beteiligten Versicherten keine Möglichkeit für eine ihre Interessen abwägende Entscheidung hatten, welche Kasse um Familienkrankenpflege angegangen werden sollte. Bei der im Anschluß an die Regelung der Familienkrankenhilfe behandelten Familienwochenhilfe (§ 205 a RVO) wird in ähnlichem Zusammenhang der Wöchnerin die "Freiheit der Wahl" unter mehreren Kassen zugestanden (vgl. § 205 a Abs. 8 RVO). Bestand bei Inanspruchnahme von Krankenhauspflege bei der ersten Kasse überhaupt noch nicht die Möglichkeit, die Leistung - anstatt von der ersten - von der zweiten Kasse zu fordern, so erfordert es der dem § 205 Abs. 4 Satz 2 RVO innewohnende Zweckgedanke, dem Versicherten nachträglich die Möglichkeit zu geben, auf die zweite Kasse zurückzugreifen. Soweit die satzungsmäßigen Leistungen dieser Kasse bereits von der ersten Kasse - und zwar auf Grund ihrer Verpflichtung - erbracht sind, sind diese nach dem schon vom LSG zu Recht vertretenen allgemeinen Rechtsgedanken in § 212 Abs. 1 Satz 2 RVO auf die Leistung der zweiten Kasse anzurechnen.
Ist - wie im vorliegenden Fall - von der ersten Kasse während der Krankenhauspflege, die von der zweiten Kasse zu gewähren war, der Abgeltungsbetrag von 1 DM täglich nach Abschn. III des RAM-Erlasses vom 2. November 1943 (AN 485, 487) gezahlt worden, so ist diese Leistung, wie sich nachträglich herausstellt, ohne Rechtsgrund gewährt worden (vgl. für einen ähnlichen Fall RVA, Grunds. Entsch. Nr. 5574, AN 1944, 267). Der vom LSG seiner Entscheidung zugrunde gelegte Verrechnungsweg - Anrechnung der von der beigeladenen AOK gezahlten Abgeltungsbeträge auf die Kosten der von der beklagten Ersatzkasse noch zu gewährenden Krankenhauspflege, soweit sich die Zeiträume decken, und Erstattung dieser Unterschiedsbeträge von der beklagten Ersatzkasse unmittelbar an die beigeladene Krankenkasse - entspricht den Interessen der Beteiligten an möglichst einfacher Abrechnung und ist rechtlich vertretbar.
Die Revision der beklagten Ersatzkasse ist daher in vollem Umfange als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen