Leitsatz (amtlich)
1. Hat der deutsche Rentenversicherungsträger eine Zulage nach EWG-V 3 Art 28 Abs 3 in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen der Rente aus ausschließlich nach deutschem Recht zurückgelegten Versicherungszeiten und dem Gesamtbetrag aller mitgliedstaatlichen Leistungen gewährt, so darf er den Rentenbewilligungsbescheid zurücknehmen, wenn und soweit sich der Anspruch auf die Zulage infolge Erhöhung der mitgliedstaatlichen Teilrenten verringert (Weiterführung BSG 1972-07-11 5 RJ 350/71 = BSGE 34, 221 = SozR Nr 33 zu § 1291 RVO).
2. Die Rente darf in diesem Fall erst mit Ablauf des auf die Zustellung des Rentenänderungsbescheides folgenden Monats herabgesetzt werden.
Normenkette
EWGV 3 Art. 28 Abs. 3 Fassung: 1958-09-25; RVO § 1286 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. September 1972 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 16. April 1969 wird zurückgewiesen. Auf die Anschlußberufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Münster abgeändert und der Bescheid der Beklagten vom 21. Mai 1967 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Oktober 1967 und in der Fassung des Änderungsbescheids vom 31. März 1968 auch insoweit aufgehoben, als durch ihn die Knappschaftsrente des Klägers für die Zeit bis zum 31. Januar 1967 neu festgestellt worden ist.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Streitverfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Dem bis 1955 im deutschen, belgischen und niederländischen Steinkohlenbergbau beschäftigt gewesenen Kläger bewilligte die Aachener Knappschaft - Rechtsvorgängerin der Beklagten - im Jahre 1955 die Knappschaftsvollrente wegen Invalidität, die im Januar 1957 in die Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit umgestellt wurde; seit 1. Februar 1967 bezieht der Kläger - auf Grund des während des gegenwärtigen Streitverfahrens erlassenen Bescheides vom 31. März 1968 - das Knappschaftsruhegeld. Ebenfalls bereits seit 1955 erhält der Kläger eine Rente vom niederländischen Rentenversicherungsträger; der belgische Rentenversicherungsträger gewährte dem Kläger ab 1. Januar 1959 eine Invalidenpension.
Mit den Bescheiden vom 26. Februar 1965 und 26. Mai 1966 stellte die Knappschaft die deutsche Rente des Klägers unter Berücksichtigung der Verordnung Nrn. 3 und 4 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (EWG-VO Nrn. 3 und 4) neu fest und bewilligte dem Kläger dabei ab 1. Januar 1964 Zulagen nach Art. 28 Abs. 3 EWG-VO Nr. 3 (Unterschiedsbetrag zwischen dem Gesamtbetrag aller nach EWG-Recht errechneten Renten und dem Betrag der ausschließlich nach deutschem Recht berechneten deutschen Rente).
Mit dem streitigen Bescheid vom 21. Mai 1967 in der Gestalt des bestätigenden Widerspruchsbescheides vom 16. Oktober 1967 und in der Fassung des Knappschaftsruhegeld gewährenden Bescheides vom 21. März 1968 stellte die Knappschaft diese Zulagen für die Zeit vom 1. Januar 1964 bis 31. Januar 1967 neu auf einen geringeren Betrag fest und forderte einen Betrag von 1.486,- DM als überzahlt zurück. In der Begründung heißt es, daß sich die niederländische und die belgische Rente entsprechend erhöht hätten.
Während das vom Kläger angerufene Sozialgericht (SG) Münster durch Urteil vom 16. April 1969 den Neufeststellungs- und Rückforderungsbescheid der Beklagten abgeändert und die Rückforderung für unzulässig erklärt hat, hat das Landessozialgericht (LSG) die Klage unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils abgewiesen. Es war der Auffassung, die Beklagte sei gemäß Art. 28 Abs. 1 Buchst. g und Abs. 3 EWG-VO Nr. 3 zur Neufeststellung der Zulagen berechtigt gewesen. Die Rückforderung der Überzahlung sei nach § 93 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) gerechtfertigt. Die Beklagte treffe an der Überzahlung nur ein geringes Verschulden, während der Kläger die Knappschaft grobfahrlässig nicht von der erheblichen Erhöhung sowohl der belgischen wie der niederländischen Rente unterrichtet und daher die Überzahlung grobfahrlässig verschuldet habe. Das berechtige die Knappschaft nach der Rechtsprechung des 5. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) zur Rückforderung, die im übrigen in Form der Einbehaltung monatlicher Raten dem Kläger gegenüber auch wirtschaftlich vertretbar sei.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat die Revision eingelegt. Er führt aus: Die alleinige Schuld an der Rentenüberzahlung trage die Knappschaft. Sehr zu Unrecht laste ihm das LSG die Nachteile von komplizierten, kaum durchschaubaren Rentengewährungen im In- und Ausland an. Er wisse bis jetzt nicht, was die niederländische und die belgische Rente mit seiner deutschen Rente zu tun hätten. Wenn selbst die ausländischen Rentenzahlungslisten die Knappschaft nicht von der Zahlung einer überhöhten Rente abgehalten habe, hätten dies auch Meldungen von seiner Seite nicht vermocht. Wenn ferner laut LSG die mangelnde Koordinierung unter den EWG-Mitgliedsstaaten Grund der Überzahlung gewesen sei, so könne nicht der hilflose Rentenempfänger haftbar gemacht werden, zumal wenn es sich um einen einfachen Bergarbeiter handele.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und das Urteil des Sozialgerichts Münster anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, daß der Kläger die Rentenüberzahlung grobfahrlässig verursacht habe. Dieser habe es trotz wiederholter schriftlicher Belehrung unterlassen, ihr - Knappschaft - die Änderungen in der Höhe seiner Auslandsrenten mitzuteilen. Der Kläger habe auch um die Abhängigkeit der Zulagen von der Höhe der ausländischen Renten wissen müssen. Schließlich sei die ratenweise Rückforderung dem Kläger gegenüber auch wirtschaftlich vertretbar.
II.
Die zulässige Revision des Klägers ist begründet.
Der streitige Bescheid der Knappschaft vom 21. Mai 1967 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Oktober 1967 und in der Fassung des Änderungsbescheides vom 31. Mai 1968 enthält mehrere Verfügungssätze. Zum einen hat die Knappschaft durch ihn die beiden Rentenbewilligungsbescheide vom 26. März 1965 und 26. Mai 1966 für die Zeit vom 1. Januar 1964 bis 31. Januar 1967 zurückgenommen und durch die Feststellung einer niedrigeren Rente ersetzt. Zum anderen fordert die Beklagte die sich aus dieser Rentenneufeststellung ergebene Rentenüberzahlung vom Kläger zurück.
Entgegen der Ansicht der Beklagten vermag der erkennende Senat der Revision des Klägers nicht zu entnehmen, daß sie sich nur noch gegen die Rückforderung, nicht aber gegen die Rentenänderung als solche wende. Es ist verständlich, daß der Kläger mit besonderem Nachdruck gegen die Rückforderung vorgeht; durch sie wird er in seinen Interessen unmittelbar berührt. Andererseits ist aus der Revision nicht zu erkennen, daß der Kläger die rückwirkende Rentenänderung als solche für Rechtens hält; er stellt vielmehr in der Revisionsbegründung ausdrücklich die Frage, warum die deutsche Rente geändert werden müsse und was diese mit den ausländischen Renten zu tun habe.
Die Frage, ob die Beklagte berechtigt war, mit dem streitigen Bescheid die dem Kläger bewilligte Rente zu seinen Ungunsten rückwirkend neu festzustellen, ist entgegen den Vorinstanzen zu verneinen.
Zunächst kann diesen nicht darin beigepflichtet werden, daß Art. 28 Abs. 1 Buchst. g EWG-VO Nr. 3 die Rechtsgrundlage für eine solche Neufeststellung liefere. Das scheitert schon daran, daß der Kläger nicht unter Buchst. e oder f aaO fällt: Er hat bereits ab Inkrafttreten der EWG-VO Nr. 3 am 1. Januar 1959 aus allen beteiligten Mitgliedsstaaten - Deutschland, Belgien, Niederlande - Rentenleistungen bezogen, und die Voraussetzungen zur Gewährung einer Rente nach den Rechtsvorschriften eines beteiligten Mitgliedsstaates sind nicht nachträglich im Sinne des Buchstaben g aaO neu eingetreten.
Zu Unrecht haben die Vorinstanzen auch eine Neufeststellung der deutschen Rente des Klägers ab 1. Januar 1964 auf Art. 28 Abs. 3 EWG-VO Nr. 3 gestützt. Richtig ist allerdings, daß von dieser Bestimmung aus rechtliche Überlegungen anzustellen sind, die im Grundsatz eine Rentenneufeststellung gerechtfertigt erscheinen lassen. Im einzelnen handelt es sich um folgende Überlegungen:
Nach Art. 28 Abs. 3 Satz 1 EWG-VO Nr. 3 hat der in mehreren Mitgliedsstaaten der EWG Versicherte dann, wenn der Betrag der Leistung, auf welche er ungeachtet des Art. 27 aaO ausschließlich für die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates zurückgelegten Versicherungszeiten Anspruch hat, höher ist als der Gesamtbetrag der Leistungen, die sich aus der Anwendung der Absätze 1 und 2 des Art. 28 aaO ergeben, gegen den Träger dieses Staates Anspruch auf eine Zulage in Höhe des Unterschiedsbetrages. Der Anspruch auf die Zulage hängt mithin nach Grund und Umfang von der veränderbaren Höhe der in den einzelnen EWG-Mitgliedsstaaten gewährten Teilrenten ab; der Anspruch auf die Zulage kann sich auch nach ihrer Bewilligung zufolge dieser Abhängigkeit von der Höhe der einzelstaatlichen Mitgliedsrenten jederzeit verändern oder gar entfallen. Im vorliegenden Fall hat sich - worüber kein Streit besteht - nach Bewilligung der Zulage durch die Bescheide der Beklagten vom 26. Februar 1965 und 26. Mai 1966 der Anspruch des Klägers hierauf verringert, weil sich die niederländische und die belgische Teilrente erhöht haben.
Mithin stellt sich die Frage, ob die beklagte Knappschaft diese Veränderung - Verringerung - des Anspruchs auf die Zulage nach Art. 28 Abs. 3 Satz 1 EWG-VO Nr. 3 in der Weise beachten darf und beachten muß, daß sie die mit den beiden vorgenannten Bescheiden bewilligte Rente entsprechend herabsetzt.
Es trifft zu, daß die beiden genannten Rentenbewilligungsbescheide mit ihrem Erlaß für die Beklagte auch in der Sache bindend im Sinne des § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) geworden waren. Richtig ist auch, daß kein "Gesetz" im Sinne des § 77 SGG ersichtlich ist, das zu Lasten des Klägers die Änderung dieser Bescheide wegen nachträglicher Änderung der Anspruchsvoraussetzungen, also wegen nachträglich eingetretener Rechtswidrigkeit ausdrücklich gestattet.
Indessen läßt sich nicht verkennen, daß die geltende Rechtsordnung die Anpassung leistungsbewilligender Hoheitsakte an die durch die Veränderung der anspruchsauslösenden Umstände bewirkte Änderung des Leistungsanspruchs auch zu Ungunsten des Berechtigten im Grundsatz allenthalben gestattet, es sei denn, es stünden dem überragende öffentlich-rechtliche Interessen entgegen. Für den Bereich zivilgerichtlich zuerkannter Ansprüche ist dies in § 323 der Zivilprozeßordnung (ZPO), für den Bereich des allgemeinen öffentlichen Leistungsrechts in einer Fülle von Gesetzen, hilfsweise in den anerkannten Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts geregelt (vgl. dazu z. B. H. J. Wolff, Verwaltungsrecht I, 8. Aufl. 1971, Seite 400/401, mit zahlreichen Nachweisen). Für den Bereich des Rechts der sozialen Sicherung haben die Fälle, in denen ein leistungsbewilligender Verwaltungsakt infolge wesentlicher Änderung der für die Bewilligung maßgebenden Verhältnisse nachträglich rechtswidrig geworden ist, ihre gesetzliche Regelung in §§ 622 und 1286 der Reichsversicherungsordnung (RVO), § 63 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), § 86 RKG, § 151 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) und § 62 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) mit dem Ergebnis gefunden, daß der Verwaltungsakt widerrufen werden darf. Der erkennende Senat hat in seiner Entscheidung BSG 34, 221 (= SozR Nr. 33 bei § 1291 RVO) zu einem vergleichbar liegenden Sachverhalt bereits entschieden, daß dort, wo im Bereich des Rechts der sozialen Sicherung bezüglich der Widerruflichkeit eines wie geschildert nachträglich rechtswidrig gewordenen Verwaltungsaktes eine Regelung fehlt, diese Lücke im Wege der gesetzesergänzenden Rechtsanwendung gemäß dem in den voraufgeführten Rechtsvorschriften zum Ausdruck gebrachten Plan des Gesetzgebers zu schließen ist. Das bedeutet für den vorliegenden Fall, daß die Beklagte als rechtlich ermächtigt anzusehen ist, den infolge der Erhöhung der mitgliedsstaatlichen Renten in bezug auf die gemäß Art. 28 Abs. 3 Satz 1 EWG-VO Nr. 3 bewilligten Zulagen nachträglich sachlich-rechtlich unrichtig gewordenen Rentenbescheid auch zu Ungunsten des Versicherten für die Zukunft zu widerrufen und durch einen Neufeststellungsbescheid zu ersetzen.
Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen war die Beklagte indessen gleichwohl nicht berechtigt, die Bindungswirkung ihrer Bewilligungsbescheide vom 26. Februar 1965 und 26. Mai 1966 bereits für eine Zeit vor Erlaß des streitigen Rentenänderungsbescheides vom 31. Mai 1967 zu durchbrechen. Der erkennende Senat hat in seiner oben angegebenen Entscheidung bereits ausgesprochen, daß bei der in einem Fall der vorliegenden Art zulässigen und gebotenen gesetzesergänzenden Rechtsanwendung zu berücksichtigen ist, daß nach dem vom Gesetzgeber in § 1286 Abs. 2 RVO, § 63 Abs. 2 AVG, § 86 Abs. 3 RKG für das Verwaltungsverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung allgemein zum Ausdruck gebrachten Rechtsgedanken eine zugebilligte Rentenleistung frühestens mit Ablauf des auf die Zustellung des Bescheides folgenden Monats entzogen oder herabgesetzt werden darf. An dieser Auffassung hält der Senat auch für einen Fall der vorliegenden Art fest. Der Gesetzgeber geht in den genannten rentenrechtlichen Vorschriften in generalisierender Betrachtung davon aus, daß der Rentenempfänger, da er in aller Regel die in der Vergangenheit liegenden, dem laufenden Unterhalt dienenden Rentenleistungen bestimmungsgemäß verbraucht haben wird, bis zum ausdrücklichen Rentenwiderruf zu schützen ist. Da der Gesetzgeber für den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung den Zeitpunkt der Widerruflichkeit von Bewilligungsbescheiden im Falle der nachträglichen Rechtswidrigkeit speziell geregelt hat, können allgemeinere andere Bestimmungen, etwa die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts insoweit nicht durchgreifen (vgl. hierzu z. B. BSG 21, 88 = SozR Nr. 40 zu § 1246 RVO).
Da im konkreten Falle der streitige Rentenänderungsbescheid vom 31. März 1967 mit seinem ersten Verfügungssatz die Bewilligungsbescheide der Beklagten aus den Jahren 1965 und 1966 ausschließlich für eine Zeit vor seinem Erlaß - nämlich für die Zeit vom 1. Januar 1964 bis 31. Januar 1967 - aufgehoben hat, ist er nach alledem in vollem Umfang rechtswidrig. Damit entbehrt aber auch der zweite Verfügungssatz dieses Bescheides - die Rückforderung - einer Rechtsgrundlage.
Der streitige Bescheid war daher unter Abänderung der ihn ganz oder doch zum Teil billigenden Urteile der Vorinstanzen auch insoweit aufzuheben, als durch ihn die Knappschaftsrente des Klägers für die Zeit bis zum 31. Januar 1967 neu festgestellt worden ist. Dabei war davon auszugehen, daß der Kläger mit dem an das LSG gerichteten Schriftsatz vom 1. August 1969 sinngemäß Anschlußberufung gegen das Urteil des SG Münster eingelegt hat, soweit es eine Neufeststellung der Knappschaftsrente des Klägers für zulässig erklärt hat.
Gemäß § 193 SGG war ferner zu entscheiden, daß die Beklagte dem Kläger die außergerichtlichen Kosten der Rechtsverfolgung zu erstatten hat.
Fundstellen