Leitsatz (amtlich)
1. Für eine Klage auf Anerkennung und Anrechnung einer Ersatzzeit besteht auch dann ein Rechtsschutzbedürfnis, wenn sich die Anrechnung zur Zeit nicht zu einem höheren Rentenzahlbetrag auswirkt.
2. Das Wehrgesetz (WehrG) vom 1935-05-21 (RGBl 1 1935, 609) ist am 1935-05-21 in Kraft getreten (WehrG § 38 Abs 1).
3. Eine Wehrübung nach dem Inkrafttreten des Wehrgesetzes eines im Beurlaubtenstande stehenden Angehörigen der Landwehr (WehrG § 7 Abs 1 Buchst b, §§ 11, 20) ist Ersatzzeit gemäß RVO § 1251 Abs 1 Nr 1.
Orientierungssatz
Die allgemeine beamtenrechtliche Dienstpflicht fällt nicht unter den militärähnlichen Dienst gemäß BVG § 3 Abs 1
Normenkette
SGG § 54; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1300 Fassung: 1957-02-23; WehrG § 1 Abs. 2 Fassung: 1935-05-21, § 4 Fassung: 1935-05-21, § 7 Abs. 1 Buchst. b Fassung: 1935-05-21, § 11 Fassung: 1935-05-21, § 20 Fassung: 1935-05-21; BVG § 2 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, § 3 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20; WehrG § 38 Abs. 1 Fassung: 1935-05-21
Tenor
Auf die Revisionen des Klägers und der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 12. Dezember 1972 aufgehoben und der Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte drei freiwillige Wehrübungen des Klägers in den Jahren 1933 bis 1935 über die bei der Neufeststellung des Altersruhegeldes des Klägers als Ersatzzeiten angerechneten späteren Wehrübungen hinaus ebenfalls als Ersatzzeiten gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzurechnen hat und ob diese berechtigt ist, bei der Rentennachzahlung die Verjährungsvorschrift des § 29 Abs. 3 RVO anzuwenden.
Der Kläger erhielt von der Beklagten auf Grund des Bescheids vom 6. November 1962 Altersruhegeld. Nachdem er mit Schreiben vom 23. August 1971 die Neufeststellung des Altersruhegeldes begehrt hatte, weil er insgesamt sieben Wehrübungen in den Jahren 1933 bis 1939 geleistet, jedoch diese in seinem Rentenantrag nicht angegeben habe, erkannte die Beklagte die Wehrübungen vom 27. April bis 23. Mai 1936, 7. Juni bis 26. Juni 1937, 28. Juni bis 17. Juli 1937 und vom 14. August bis 25. August 1939 als weitere Ersatzzeiten gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO an. Sie berechnete das Altersruhegeld des Klägers unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Rentenanpassungen neu. Sie lehnte es jedoch ab, die Wehrübungen vor dem 1. Oktober 1935 als Ersatzzeiten anzurechnen, da das Wehrgesetz (WehrG) erst nach dem 30. September 1935 in Kraft getreten sei. Die Zahlung des neu festgestellten Altersruhegeldes verfügte sie erst ab 1. September 1967, da für die frühere Zeit der Anspruch gemäß § 29 Abs. 3 RVO verjährt sei (Bescheid vom 11. Oktober 1971). Nach der Rechtsmittelbelehrung des Bescheids kann gegen den Bescheid Klage erhoben werden. Ein Widerspruchsverfahren hat nicht stattgefunden.
Der Kläger hat in den beiden Vorinstanzen sein Begehren, auch seine Wehrübungen in den Jahren 1933 bis 1935 seien als Ersatzzeiten anzuerkennen und rentensteigernd anzurechnen, weiterverfolgt. Er hat ferner die Auffassung vertreten, sein Zahlungsanspruch auf die neu festgestellte Rente sei für die Zeit vor dem 1. September 1967 nicht nach § 29 Abs. 3 RVO verjährt.
Während das Sozialgericht (SG) Itzehoe die Klage abgewiesen hat (Urteil vom 21. Juni 1972), hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, die Wehrdienstzeit des Klägers vom 14. Juli bis 21. August 1935 als weitere Ersatzzeit zu berücksichtigen, im übrigen aber die Berufung des Klägers zurückgewiesen; es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 12. Dezember 1972).
Der Kläger und die Beklagte haben gegen dieses Urteil Revision eingelegt.
Der Kläger rügt eine Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und der §§ 29 Abs. 3, 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 12. Dezember 1972 teilweise abzuändern und das Urteil des SG Itzehoe vom 21. Juni 1972 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 11. Oktober 1971 teilweise aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Wehrübungen des Klägers vom 26. Juni bis 15. Juli 1933 und 28. Januar bis 23. Februar 1935 als weitere Ersatzzeiten gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO rentensteigernd auf sein Altersruhegeld anzurechnen und ihn dementsprechend neu zu bescheiden sowie ihm das sich daraus ergebende Altersruhegeld auch für die Zeit vom 1. Februar 1962 bis 31. August 1967 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen und - zur eigenen Revision -
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 12. Dezember 1972 auch insoweit aufzuheben, als es der Berufung des Klägers stattgegeben hat.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Auf die Revisionen des Klägers und der Beklagten ist das Urteil des LSG mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
1. Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß das Rechtsschutzbedürfnis für das Begehren des Klägers nach Anerkennung und Anrechnung weiterer Ersatzzeiten gegeben ist. Mit Recht ist das LSG auf das Begehren des Klägers, drei weitere Wehrübungen als Ersatzzeiten anerkannt und auf das Altersruhegeld angerechnet zu erhalten, eingegangen, obschon es zweifelhaft sein konnte, ob sich eine solche Anrechnung rentensteigernd auswirkt. Nachdem die Beklagte in dem streitigen Neufeststellungsbescheid nur die Wehrübungen des Klägers aus der Zeit nach dem 1. Oktober 1935 als weitere Ersatzzeiten rentensteigernd auf dessen Altersruhegeld angerechnet hatte, nicht aber diejenigen aus der davor liegenden Zeit, hätte dem Kläger für die Weiterverfolgung seines Anspruchs wegen der abgelehnten Zeiten nur dann das Rechtsschutzbedürfnis verweigert werden dürfen, wenn seine Rechtsverfolgung insofern zweckwidrig gewesen wäre. Denn für alle Gerichtsverfahren ist - mögen auch in Einzelheiten unterschiedliche Auffassungen bestehen - in Rechtsprechung und im Schrifttum allgemein anerkannt, daß das in jeder Lage des gerichtlichen Verfahrens von Amts wegen zu prüfenden Rechtsschutzbedürfnis als Sachurteilsvoraussetzung (Prozeßvoraussetzung) darauf abzielt, zweckwidrige Prozesse zu verhindern. Wenn wegen des verfolgten, aber zu mißbilligenden Prozeßzwecks der Rechtsstreit nicht rechtsschutzwürdig ist, soll das Gericht davor bewahrt bleiben, den Streit in der Sache selbst zu prüfen und zu entscheiden. Durch das Erfordernis des Rechtsschutzbedürfnisses wird ein dem Gesetzeszweck widersprechender Mißbrauch der Rechtsschutzeinrichtungen vermieden, z.B. wenn über den Anspruch bereits ein Urteil oder ein sonstiger Vollstreckungstitel vorliegt oder auf einfacherem Wege (RGZ 130, 218: im Kostenfestsetzungsverfahren) zu erlangen ist (vgl. Stein/Jonas/Schumann/Leipold, ZPO, 19. Aufl. 1968, Vorbem. vor § 253 III 4, insbesondere 4 c; Zöller/Karch, ZPO, 11. Aufl. 1974, Vorbem. vor § 253 A II 2 a; Eyermann/Fröhler, VwGO, 6. Aufl. 1974, § 42, Anm. 104, 104 a; Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 1970, S. 350, 352; Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, 1970, S. 116, 126).
Dem Kläger ist es nicht verwehrt, worauf er zutreffend in seiner Revisionsbegründung abhebt, die ihm von der Beklagten versagte Anrechnung weiterer Ersatzzeiten vor Gericht zu erstreben. Darin liegt kein Rechtsmißbrauch. Dies gilt auch für die Revision, mit der der Kläger den Anspruch auf Anerkennung und Anrechnung von zwei Wehrübungen als Ersatzzeiten weiterverfolgt, nachdem er im zweiten Rechtszug sein Klageziel hinsichtlich der dritten Wehrübung (14. Juli bis 21. August 1935) erreicht hat. Das Rechtsschutzbedürfnis für die Revision entfällt auch dann nicht, wenn der Kläger mit seiner Revision zwar durchdringen würde, die zusätzliche Berücksichtigung der beiden Wehrübungen vom 26. Juni bis 15. Juli 1933 und 28. Januar bis 23. Februar 1935, wie dies das LSG in seinem Urteil erläutert hat, zu keinem höheren Altersruhegeld führen sollte. Selbst wenn ein Obsiegen des Klägers ein solches Ergebnis haben sollte, könnte dem Begehren des Klägers nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, es sei rechtsmißbräuchlich und daher rechtsschutzunwürdig. Der Kläger hat auch dann einen Anspruch darauf, daß eine Ersatzzeit anerkannt und angerechnet wird, wenn die so verfügte Anrechnung der Ersatzzeit sich nicht in einem höheren Zahlbetrag auswirkt. Jeder Versicherte kann nämlich verlangen, daß bei der Rentenberechnung alle Rechnungsgrößen seines Falles erfaßt und auch rechnerisch berücksichtigt werden. Dabei ist es unerheblich, ob von dieser vollständigen Rentenberechnung ein höheres Zahlbetragsergebnis zu erwarten ist. Selbst wenn dies nach dem derzeitigen Rechtsstand nicht der Fall sein sollte, ist es nach der Erfahrung über die Entwicklung des Rentenversicherungsrechts nicht auszuschließen, daß eine spätere Rechtsänderung - bisherige Rechtsänderungen im Rentenversicherungsrecht haben zumeist zu Leistungsverbesserungen geführt - auch eine rentensteigernde Anrechenbarkeit von Ersatzzeiten zur Folge haben kann, die im bisherigen Recht fehlte.
2. Der streitige Bescheid ist entgegen der Auffassung beider Beteiligter ein solcher über die Neufeststellung des Altersruhegeldes des Klägers. Dieser Bescheid, in dem die Beklagte dem Verlangen des Klägers, alle von ihm bezeichneten Wehrübungen als Ersatzzeiten gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO anzurechnen, nur teilweise entsprochen hat, ist allerdings nicht ausdrücklich als Neufeststellungsbescheid bezeichnet. Jedoch ergibt sich sowohl aus den Worten "neu festgestellt" und "Neufeststellung" im Text des Bescheids als auch aus dessen Gesamtinhalt, daß die Beklagte sich davon überzeugt hatte, daß sie das Altersruhegeld zu niedrig festgestellt hatte und daher nunmehr das Altersruhegeld neu feststellte, indem sie die Wehrübungen des Klägers nach dem 1. Oktober 1935 als Ersatzzeiten rentensteigernd anrechnete.
Die Beklagte möchte allerdings ihren Bescheid vom 11. Oktober 1971 nicht als Neufeststellungsbescheid gemäß § 1300 RVO behandelt wissen. Sie macht geltend, sie sei zu einer Neufeststellung nicht befugt gewesen. Eine Neufeststellung setze nämlich voraus, daß der frühere Bescheid bindend geworden sei. Das sei aber nicht der Fall gewesen, weil ihr Bescheid vom 6. November 1962 dem Kläger nicht ordnungsgemäß zugestellt worden sei, sich zumindest aber die Zustellung nicht feststellen lasse.
Damit vermag die Beklagte nicht durchzudringen. Eine Neufeststellung gemäß § 1300 RVO setzt allerdings voraus, daß der frühere Bescheid, durch den eine Leistung zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt oder zu niedrig festgestellt worden ist, bindend geworden sein muß. Ferner ist es auch zutreffend, daß die Erteilung eines förmlichen Rentenfeststellungsbescheids - um einen solchen handelt es sich bei dem Bescheid vom 6. November 1962 - Zustellung bedeutet (§ 1631 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 RVO; BSG SozR Nr. 7 zu § 1288 RVO Bl. A a 9 mit weiteren Nachweisen). Hier kann jedoch dahinstehen, ob und wie der Bescheid vom 6. November 1962 dem Kläger zugestellt worden ist. Denn jedenfalls hat er ihn erhalten. Dies ergibt sich nicht zuletzt daraus, daß der Kläger bis zu seinem Schreiben vom 23. August 1971 das Altersruhegeld in einer Zeitspanne von 8 3/4 Jahren widerspruchslos entgegengenommen und ferner sich in dem genannten Schreiben unter "Betrifft" auf den Bescheid vom 6. November 1962 bezogen hat. Als der Kläger zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt den Bescheid erhielt, ist der Bescheid auch wirksam geworden. Selbst die Beklagte ist davon ausgegangen, hat sie doch auf Grund dieses Bescheids dem Kläger das Altersruhegeld jahrelang und einschränkungslos gewährt (vgl. BSG SozR Nrn. 1 und 2 zu § 9 des Verwaltungszustellungsgesetzes - VwZG - mit weiteren Nachweisen). Die Beklagte muß sich zudem entgegenhalten lassen, daß es ihr obgelegen hat, für eine ordnungsgemäße Zustellung und den Nachweis der erfolgten Zustellung Sorge zu tragen. Wenn sie diese Pflichten nicht hinreichend beachtet, gleichwohl aber über eine Zeit von 8 3/4 Jahren ihre Leistungen erbracht hat, stellt es eine unzulässige Rechtsausübung dar, wenn sie die von ihr zu verantwortenden Mängel nunmehr gegen den Kläger verwenden will, um die Rechtsnatur des Bescheids vom 11. Oktober 1971 als Neufeststellungsbescheid gemäß § 1300 RVO leugnen zu können.
Die Beklagte fügte ihrem Neufeststellungsbescheid eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung bei. In dieser ist darauf verwiesen, daß gegen den Bescheid Klage erhoben werden könne, während richtigerweise die Belehrung dahin hätte lauten müssen, daß ein Vorverfahren (§§ 78, 79 Nr. 2 SGG) durch Erhebung des Widerspruchs (§ 83 SGG) eingeleitet werden könne. Diesen Rechtsfehler haben beide Vorinstanzen unbeachtet gelassen. Der Klage, mit der die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsakts begehrt wird (Verpflichtungsklage), hat zwingend ein Vorverfahren vorauszugehen (§ 79 Nr. 2 SGG).
Ein Vorverfahren wäre auch noch aus einem weiteren Grund erforderlich gewesen. Die Beklagte hat nämlich in ihrem Bescheid vom 11. Oktober 1971 die Zahlung des neu festgestellten Altersruhegeldes unter ausdrücklicher Berufung auf Verjährung (§ 29 Abs. 3 RVO) erst zum 1. September 1967 aufgenommen. In einem Fall, in dem eine Rentenleistung ausschließlich mit der Begründung abgelehnt wird, der Anspruch sei gemäß § 29 Abs. 3 RVO verjährt, ist der Bescheid vor Erhebung der Klage gemäß §§ 78, 79 Nr. 1 SGG in einem Vorverfahren nachzuprüfen (BSG SozR Nrn. 14 und 16 zu § 79 SGG).
In der - offenbar durch die unrichtige Rechtsmittelbelehrung veranlaßten - Klage ist der verfahrensrechtlich erforderliche Widerspruch mit enthalten (BSG SozR Nr. 11 zu § 79 SGG). Damit ist die Widerspruchsfrist von einem Monat nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts an den Kläger (§ 84 Abs. 1 SGG) gewahrt. Das LSG hätte dem Kläger Gelegenheit geben müssen, das aus doppeltem Grunde erforderliche Vorverfahren nachträglich durchzuführen, um nach Erlaß des Widerspruchsbescheids auch diesen in seine Prüfung mit einbeziehen zu können (BSG aaO). Damit so verfahren werden kann, ist es erforderlich, auf die Revisionen des Klägers und der Beklagten das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
3. Sollte dem Widerspruch nicht abgeholfen werden, wird das LSG bei seiner neuen Entscheidung folgendes mit zu beachten haben:
Dem Gericht sind bei seiner Überprüfung der Entscheidung der Beklagten über die Neufeststellung des Altersruhegeldes des Klägers Grenzen gesetzt. Seine Prüfungsbefugnis geht dahin, festzustellen, ob die Beklagte offensichtlich fehlerhaft gehandelt hat, als sie ihre ablehnende Überzeugung bildete (BSGE 19, 93, 95 = SozR Nr. 1 zu § 1300 RVO; BSGE 28, 173, 175 = SozR Nr. 7 zu § 1300 RVO; BSGE 28, 179, 182 = SozR Nr. 49 zu § 103 SGG). Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit dürfen den Rentenversicherungsträger nur dann als von der Rechtswidrigkeit des früheren Bescheids - hier des bindend gewordenen Bescheids vom 6. November 1962 - überzeugt ansehen und ihn dazu verurteilen, den begehrten günstigeren Neufeststellungsbescheid zu erlassen, wenn der frühere Bescheid so offensichtlich rechtswidrig ist, daß der Rentenversicherungsträger bei der ihm obliegenden Neuprüfung hätte dazu gelangen müssen, sich von der Rechtswidrigkeit zu überzeugen (BSGE 28, 173, 175 mit weiteren Nachweisen).
Dabei sind zwei Fragenbereiche wesentlich. Der eine betrifft die Frage, ob die drei Wehrübungen des Klägers aus der Zeit vor dem 1. Oktober 1935 als Ersatzzeiten gemäß § 1251 Abs. 1 Nr.1 RVO anzuerkennen sind, der andere die Frage, ob die Beklagte berechtigt ist, sich bei der Rentennachzahlung auf Grund der Neufeststellung auf die Verjährung gemäß § 29 Abs. 3 RVO zu berufen.
Gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO werden als Ersatzzeiten angerechnet u.a. Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes i.S. der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), der auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden ist. Da der Kläger die drei Wehrübungen, die zweifelsfrei militärischen Dienst darstellten (§ 2 BVG), nicht während eines Krieges geleistet hat, müßten sie, um als Ersatzzeiten anerkannt werden zu können, auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht abgeleistet worden sein (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, III, S. 674 e - 31. Nachtrag Februar 1969 -; Koch/Hartmann/von Altrock/Fürst, AVG, § 28 B 3 - 25. Lieferung, Stand: Juni 1972 -). Dazu reicht nicht aus, worauf der Kläger abheben will, daß ihm von seinem damaligen Dienstvorgesetzten durch dienstliche Weisung, die wiederum auf Grund geheim gehaltener Anordnung ergangen sei, auferlegt worden ist, die Wehrübungen abzuleisten, er sich diesen Weisungen als Beamter auch nicht habe entziehen können, anderenfalls er unter den damaligen Verhältnissen mit wesentlichen Nachteilen habe rechnen müssen. Die Heranziehung zu einer militärischen Dienstleistung in der vom Kläger beschriebenen Weise mag durchaus als Eingriff von "hoher Hand" gelten können, wie dies Grundvoraussetzung für alle Ersatzzeittatbestände des § 1251 Abs. 1 RVO ist (vgl. BSG SozR Nrn. 53, 54 und 58 zu § 1251 RVO). Jedoch ist nicht jede militärische Dienstleistung vom Gesetzgeber in § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO zum Ersatzzeittatbestand erhoben worden, sondern nur eine solche, die auf Grund einer gesetzlichen Dienst- oder Wehrpflicht oder - was hier außer Betracht bleiben kann - während eines Krieges erfolgte (BSG SozR Nr. 40 zu § 1251 RVO). Wie die Gleichsetzung von Dienstpflicht und Wehrpflicht erkennen läßt, ist hier nur eine der Wehrpflicht entsprechende Dienstpflicht gemeint, wie dies insbesondere durch die Bezugnahme auf die zahlreichen militärähnlichen Dienste des § 3 BVG klargestellt ist. Die allgemeine beamtenrechtliche Dienstpflicht fällt nicht unter den militärähnlichen Dienst (§ 3 Abs. 1 BVG). Im Hinblick auf die vom Gesetzgeber bestimmten und von ihm eingegrenzten einzelnen Ersatzzeittatbestände verbietet sich eine entsprechende Anwendung des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO.
Die Wehrpflicht kraft Gesetzes bestand seit dem 21. Mai 1935 und nicht erst, wovon die Beklagte bisher ausgegangen ist, seit dem 1. Oktober 1935. Die Wehrpflicht beruhte auf dem WehrG vom 21. Mai 1935 (RGBl 1935 I 609). Das WehrG ist mit dem Tage der Verkündung in Kraft getreten (§ 38 Abs. 1 WehrG; vgl. dazu: Sander, Wehrdienst als Ersatzzeit auch vor dem 1. Oktober 1935, DAngVers 1969, 69, 72). Gemäß § 1 Abs. 2 WehrG war jeder deutsche Mann wehrpflichtig. Die Wehrpflicht dauerte vom vollendeten 18. Lebensjahr bis zu dem auf die Vollendung des 45. Lebensjahres folgenden 31. März (§ 4 WehrG) und wurde durch den Wehrdienst erfüllt (§ 7 Abs. 1 Satz 1 WehrG). Beim Wehrdienst wurde zwischen dem aktiven Wehrdienst (§ 7 Abs. 1 Buchst. a Nrn. 1 bis 4 WehrG) und dem Wehrdienst im Beurlaubtenstand (§ 7 Abs. 1 Buchst. b Nrn. 1 bis 3 WehrG) unterschieden, wozu die Reserve, die Ersatzreserve und die Landwehr zählten. Zur Landwehr gehörten die Wehrpflichtigen vom 1. April des Kalenderjahres, in dem sie ihr 35. Lebensjahr vollendeten, bis zu dem auf die Vollendung des 45. Lebensjahres folgenden 31. März (§ 11 WehrG). Gemäß § 20 WehrG konnte der Reichskriegsminister die Wehrpflichtigen der Reserve, der Ersatzreserve und der Landwehr zu Übungen einberufen und Vorschriften für ihre sonstige Weiterbildung veranlassen.
Mit der Verkündung des WehrG (21. Mai 1935) war der am 24. März 1900 geborene Kläger wehrpflichtig. Er war auf Grund seines Alters Angehöriger der Landwehr (§ 11 WehrG) und stand als solcher im Wehrdienst im Beurlaubtenstand (§ 7 Abs. 1 Buchst. b WehrG). Die Wehrübung vom 14. Juli bis 21. August 1935 leistete er als Wehrpflichtiger (§ 7 Abs. 1 Buchst. a Nr. 4, § 20 WehrG). Insofern ist diese Wehrübung eine Ersatzzeit gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO.
Die im Schrifttum (Jantz/Zweng/Pappai, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, 2. Aufl., § 1251 B I 1 c, bb - 4. Lieferung, Stand: Januar 1974; Brackmann, aaO, S. 674 e - 31. Nachtrag Februar 1969 -) vertretene Auffassung, die Wehrpflicht auf Grund des WehrG habe frühestens erst am 1. Oktober 1935 begonnen, findet in diesem Gesetz keine Stütze (richtig dagegen: VerbKomm., RVO § 1251, Anm. 12-13. Ergänzung 1. Juli 1973 -). Diese irrige Meinung mag sich deshalb gebildet haben, weil die Wehrpflichtigen des Geburtsjahrgangs 1914 zur Erfüllung der aktiven Dienstpflicht im Herbst 1935 und die Wehrpflichtigen des Geburtsjahrgangs 1910 in Ostpreußen am 1. Oktober 1935 zur Erfüllung ihres aktiven Wehrdienstes herangezogen wurden (vgl. Absolon, Wehrgesetz und Wehrdienst 1935 - 1945, Das Personalwesen in der Wehrmacht, 1960, S. 154, 156). Der damalige aktive Wehrdienst (§ 7 Abs. 1 Buchst. a WehrG) ist aber deutlich zu trennen von dem ebenfalls der Wehrpflicht unterliegenden Wehrdienst im Beurlaubtenstand (§ 7 Abs. 1 Buchst. b WehrG), dessen Wehrpflichtige der Reserve, der Ersatzreserve und der Landwehr vom Reichskriegsminister zu Übungen einberufen werden konnten (§ 20 WehrG) und die dann während der Übungen im aktiven Wehrdienst standen (§ 7 Abs. 1 Buchst. a Nr. 4 WehrG). Soweit sich die Beteiligten auf die Ausführungen von Sander (DAngVers 1969, 69, 219) und Brigmann (DAngVers 1969, 218) berufen, verkennen sie zum einen ebenfalls die Unterscheidung zwischen dem aktiven Wehrdienst der Wehrpflichtigen während der Erfüllung der aktiven Dienstpflicht nach § 8 Abs. 1 WehrG und dem Wehrdienst im Beurlaubtenstand mit der Möglichkeit der Heranziehung zu Übungen, und zwar mit der Folge, daß der Übende während der Übung ebenfalls im aktiven Wehrdienst stand. Zum anderen übersehen sie, daß Sander (aaO, 70) bewußt davon abgesehen hat, auf die Ersatzzeiten bei Übungen einzugehen. Unter Berücksichtigung dieser Rechtslage sind die beiden Wehrübungen des Klägers vom 26. Juni bis 15. Juli 1933 und 28. Januar bis 23. Februar 1935 keine Ersatzzeiten gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO, weil sie nicht auf Grund einer gesetzlichen Dienst- oder Wehrpflicht geleistet wurden. Daran ändert auch nichts der Umstand, daß dem Gesetzgeber der Ersatzzeitenregelung bekannt war, daß bereits vor Einführung der gesetzlichen Wehrpflicht durch das WehrG vom 21. Mai 1935 die Wehrmacht unter strenger Tarnung im geheimen seit mindestens dem 1. Oktober 1933 in mannigfacher Weise aufgebaut worden war (vgl. Absolon, aaO., S. 72 ff, 75 f mit weiteren Nachweisen). Wenn der Gesetzgeber trotz Kenntnis dieser historischen Gegebenheiten davon abgesehen hat, auch militärische Dienstleistungen aus der geheimen Aufbauzeit der Wehrmacht mit in die Ersatzzeitenregelung des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO einzubeziehen, liegt hierin entgegen der Auffassung des Klägers kein Verstoß gegen Art. 3 des Grundgesetzes (GG). Der Gesetzgeber ist in der Gesetzesgestaltung weitgehend frei. Soweit der Kläger dem Gesetzgeber eine Unterlassung dahin vorwerfen möchte, er habe die Ersatzzeitenregelung nicht nur an eine gesetzliche Dienst- oder Wehrpflicht außerhalb von Kriegszeiten binden dürfen, kann er sich hierzu nicht auf einen ausdrücklichen Auftrag des Grundgesetzes (GG) berufen, der Inhalt und Umfang der Gesetzgebungspflicht im wesentlichen umgrenzt hätte (vgl. BVerfGE 6, 264; 11, 261; 12, 142; 23, 249). Daß der Gesetzgeber aber willkürlich die Gruppe der in den geheimen Aufbauzeiten der Wehrmacht zu militärischen Dienstleistungen herangezogenen Personen nicht mit in den Ersatzzeitentatbestand des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO eingeschlossen hat, ist nicht erkennbar. Der dort verfügten, freilich eingrenzenden Bindung an eine gesetzliche Dienst- oder Wehrpflicht ist eine sachliche Berechtigung nicht abzusprechen, so daß die Vorschrift des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO nicht verfassungswidrig ist und damit die Voraussetzung dafür fehlt, gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen.
Die zweite wesentliche Frage des Falles, nämlich diejenige, ob die Beklagte berechtigt ist, sich bei einer Neufeststellung auf die Verjährungsvorschrift des § 29 Abs. 3 RVO zu berufen, hat das LSG bejaht, indem es sich auf die höchstrichterliche Rechtsprechung (BSGE 19, 93, 96 = SozR Nr. 1 zu § 1300 RVO; BSGE 28, 282, 285 = SozR Nr. 11 aaO; SozR Nr. 5 aaO) berufen hat. Für eine unzulässige Rechtsausübung der Beklagten hat es nach Lage des Falles keinen Anhalt gesehen. Dem ist beizustimmen. Der auch in der Revisionsinstanz weiterverfolgte Einwand des Klägers, die Verjährungsvorschrift des § 29 Abs. 3 RVO könne wegen unzulässiger Rechtsausübung deshalb nicht angewendet werden, weil er, der Kläger, von zwei Sachbearbeitern des Versicherungsamts (VA) Kiel falsch belehrt worden sei und deshalb in seinem Rentenantrag die Wehrübungen nicht angegeben habe, geht fehl. Der Einwand kann allerdings nicht, wie das LSG meint, damit abgetan werden, der Kläger habe als Beamter der Finanzverwaltung Verwaltungserfahrung und habe deshalb die Übungszeiten dennoch in dem Rentenantrag aufführen müssen. Dem Einwand ist vielmehr anders zu begegnen: Die Versicherungsämter nehmen gemäß § 37 RVO ihre Aufgaben als eigene Aufgaben wahr. Falsche Auskünfte der Beamten und Angestellten eines VA binden den Versicherungsträger nicht (BSGE 14, 95, 96; Casselmann in Koch/Hartmann/Casselmann/Friederichs/Kaltenbach, Bd. V, § 37 RVO II 3). Auch eine etwaige Schadensersatzpflicht der Gemeinde, bei der das VA eingerichtet ist, wegen der falschen Auskunft von Bediensteten des VA (§ 839 des Bürgerlichen Gesetzbuches i.V.m. Art. 34 GG; vgl. dazu: BGH, VersR 1970, 711 mit weiteren Nachweisen; Bender, Staatshaftungsrecht, 1971, Rd.Nrn. 201, 220; Casselmann, aaO, II 4) ist für die Zulässigkeit der Rechtsausübung durch Anwendung der Verjährungsvorschrift des § 29 Abs. 3 RVO entgegen der Auffassung des Klägers ohne Belang.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen