Leitsatz (amtlich)
Der von einem Angehörigen der Ersatzreserve (WehrG § 7 Abs 1 S 2 Buchst b, § 10) nach dem 1935-05-21 geleistete einjährige Wehrdienst ist Ersatzzeit nach RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 (Weiterführung von BSG 1974-12-18 12 RJ 162/73 = SozR 2200 § 1251 Nr 8).
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; WehrG § 1 Fassung: 1935-05-21, § 4 Fassung: 1935-05-21, § 10 Fassung: 1935-05-21, § 7 Abs. 1 S. 2 Buchst. b Fassung: 1935-05-21
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. Juni 1975 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob eine Wehrdienstzeit des Klägers als Ersatzzeit anzuerkennen ist.
Der 1912 geborene Kläger stammt aus Thüringen. Er war dort bis zum 25. Oktober 1935 versicherungspflichtig beschäftigt. Vom 26. Oktober 1935 bis 30. September 1936 leistete er aufgrund freiwilliger Meldung Wehrdienst. Anläßlich der Wiederherstellung seiner Versicherungsunterlagen stellte die Beklagte mit Bescheid vom 7. Dezember 1973 den Versicherungsverlauf des Klägers fest. Den Wehrdienst berücksichtigte sie dabei nicht als Ersatzzeit. Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen das Urteil des Sozialgerichts (SG) aufgehoben, den Feststellungsbescheid vom 7. Dezember 1973 sowie den Widerspruchsbescheid geändert und die Beklagte verurteilt, die Wehrdienstzeit vom 26. Oktober 1935 bis 30. September 1936 als Ersatzzeit in den Feststellungsbescheid aufzunehmen (Urteil vom 19. Juni 1975). Zur Begründung hat das LSG auf das Urteil des erkennenden Senats vom 18. Dezember 1974 (SozR 2200 § 1251 Nr. 8) Bezug genommen und ausgeführt: Der Kläger habe während der streitigen Zeit aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht militärischen Dienst geleistet. Der Anerkennung dieser Dienstzeit als Ersatzzeit stehe nicht entgegen, daß sein Eintritt in die Wehrmacht damals nicht hoheitlich erzwungen worden sei. Freiwillig vorzeitig geleisteter Wehrdienst sei Ersatzzeit, wenn ein Versicherter - wie der Kläger - zu einem wehrpflichtigen Geburtsjahrgang gehört habe; denn in § 8 Abs. 2 des Wehrgesetzes vom 21. Mai 1935 - WehrG - (RGBl I 609) sei der vorzeitige Eintritt in die Wehrmacht vorgesehen. Auch habe der Kläger bei dem damals mit größter Beschleunigung betriebenen Aufbau der Wehrmacht bei realistischer Betrachtung mit einer Einberufung zu einem späteren Zeitpunkt rechnen müssen.
Eine solche Einberufung habe er nicht abzuwarten brauchen. Maßgebend für die Anerkennung einer Wehrdienstzeit als Ersatzzeit sei lediglich das Bestehen gesetzlicher Wehrpflicht.
Mit der - zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Sinn der Einführung von Ersatzzeiten sei es gewesen, dem Versicherten ein Äquivalent dafür zu geben, daß er infolge hoheitlicher Maßnahmen an einer Beitragsleistung verhindert war. Der Kläger habe seinen Wehrdienst jedoch nicht aufgrund derartiger Maßnahmen, sondern von sich aus freiwillig geleistet; denn sein Geburtsjahrgang sei bis zum zweiten Weltkrieg nicht zum Wehrdienst herangezogen worden.
Die Beklagte beantragt (sinngemäß),
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß die Wehrdienstzeit des Klägers vom 26. Oktober 1935 bis 30. September 1936 als Ersatzzeit in seinen Versicherungsverlauf aufzunehmen ist.
Nach § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO werden als Ersatzzeiten angerechnet u.a. Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes i.S. der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), der aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden ist. Der vom Kläger in der Zeit vom 26. Oktober 1935 bis 30. September 1936 geleistete Dienst als Soldat war militärischer Dienst (§ 2 Abs. 1 Buchst. a BVG). Dieser Dienst ist auch aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht geleistet worden und vom LSG daher zu Recht als Ersatzzeit anerkannt worden.
Die gesetzliche Wehrpflicht bestand seit dem 21. Mai 1935. Sie wurde mit dem WehrG vom selben Tage eingeführt. Dessen § 1 Abs. 2 besagt: "Jeder deutsche Mann ist wehrpflichtig". Diese Wehrpflicht dauerte vom vollendeten 18. Lebensjahr bis zu dem auf die Vollendung des 45. Lebensjahres folgenden 31. März (§ 4 WehrG). Der Kläger war mithin während seines Wehrdienstes wehrpflichtig, denn er war bei dessen Beginn am 26. Oktober 1935 ein "deutscher Mann" von 23 Jahren.
Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 WehrG wurde die Wehrpflicht durch den Wehrdienst erfüllt. Dieser umfaßte den aktiven Wehrdienst und den Wehrdienst im Beurlaubtenstand. Im Beurlaubtenstand befanden sich die Angehörigen der Reserve, der Ersatzreserve und der Landwehr (§ 7 Abs. 1 Satz 2 WehrG). Der Kläger war damals Angehöriger der Ersatzreserve. Denn nach § 10 WehrG gehörten zur Ersatzreserve die Wehrpflichtigen, die nicht zur Erfüllung der aktiven Dienstpflicht nach § 8 Abs. 1 WehrG einberufen wurden; sie gehörten zur Ersatzreserve bis zum 31. März des Kalenderjahres, in dem sie ihr 35. Lebensjahr vollendeten. Der 1912 geborene Kläger wurde damals nicht zur Erfüllung der aktiven Dienstpflicht einberufen; eine solche Einberufung erfolgte im Herbst 1935 nur für die zur Musterung und Aushebung herangezogener Wehrpflichtigen des Jahrganges 1914, lediglich in Ostpreußen - wo sich der Kläger nicht befand - auch des Jahrganges 1910 (§ 1 Abs. 1 und 2 VO über die Musterung und Aushebung 1935 vom 29. Mai 1935 - RGBl I 697 -).
Für den Wehrdienst des Klägers kommt entgegen der Auffassung des LSG allerdings nicht § 8 Abs. 2 WehrG in Betracht. Nach dieser Bestimmung wurden die Wehrpflichtigen in der Regel in dem Kalenderjahr zur Erfüllung der aktiven Dienstpflicht einberufen, in dem sie das 20. Lebensjahr vollendeten (Satz 1); der freiwillige Eintritt in die Wehrmacht war jedoch auch schon früher möglich (Satz 2). Diese Vorschrift bezog sich mithin ausschließlich auf Wehrpflichtige, die 20 Jahre und jünger waren.
Der damals 23 Jahre alte Kläger konnte aber als Angehöriger des Beurlaubtenstandes "zu Übungen oder sonstigem aktiven Wehrdienst" einberufen werden (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a Nr. 4 WehrG). Da er auch in diesem Fall seinen militärischen Dienst aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht leistete (§ 7 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 Buchst. a Nr. 4 WehrG), kann dahinstehen, ob er in der hier streitigen Zeit vom 26. Oktober 1935 bis 30. September 1936 an einer Übung teilgenommen oder sonstigen aktiven Wehrdienst geleistet hat. Auch änderte sich an seinem Status als Wehrpflichtiger nichts dadurch, daß er - aus welchen Gründen auch immer - freiwillig diente. Entscheidend ist allein, daß der Kläger den Wehrdienst damals aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht leistete. In einem solchen Fall ist die Dienstzeit auch eine Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 18. Dezember 1974 - 12 RJ 162/73 - SozR 2200 § 1251 Nr. 8).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen