Leitsatz (amtlich)
1. Auslaufende Waisenrenten bedürfen keines Einstellungsbescheides.
2. Eine verheiratete Waise hat für die Zeit vor dem 1970-06-01 keinen Anspruch auf Waisenrente, wenn sie sich vor diesem Zeitpunkt nicht gegen den Wegfall der Waisenrente gewandt hat (Anschluß an BSG 1972-07-06 11 RA 68/72 = SozR Nr 1 zu Art 12 LeistungsÄndG vom 1971-01-25 und 1973-05-29 5 RJ 385/71 = SozR Nr 2 zu Art 12 LeistungsÄndG vom 1971-01-25).
Normenkette
RVO § 1267 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1292 Fassung: 1957-02-23, § 1633; VerhKindLeistG Art. 2 Fassung: 1971-01-25, Art. 12 Abs. 2 Fassung: 1971-01-25; SGG § 66; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23; BVerfGG § 79 Abs. 2
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 11. Mai 1973 aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. September 1971 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Waisenrente aus der Rentenversicherung des Versicherten Ernst M für die Zeit vom 1. Juli 1969 bis 28. Februar 1970 zusteht.
Die Beklagte gewährte dem am 2. Februar 1945 geborenen Kläger, weil er sich ab 1. Oktober 1967 in Berufsausbildung befand, Waisenrente. Nachdem das zuständige Postamt der Beklagten mitgeteilt hatte, der Kläger habe die Rente für drei Monate nicht abgeholt, fragte die Beklagte mit Schreiben vom 17. September 1969 u.a. beim Kläger an, warum er seit drei Monaten seine Waisenrente nicht in Empfang genommen habe. Am 22. September 1969 teilte der Kläger der Beklagten fernmündlich mit, er habe im Juni 1969 geheiratet und werde der Aufforderung nachkommen, eine Heiratsurkunde einzusenden. Auf schriftliche Erinnerung der Beklagten vom 14. Oktober 1969 legte er mit Schreiben vom 26. Oktober 1969 eine Abschrift der Heiratsurkunde vor. Die Beklagte stellte in einem internen Vermerk fest, die Rentenzahlung werde mit Ende Juni 1969 eingestellt, weil der Kläger am 13. Juni 1969 geheiratet habe. Der Kläger erhielt hierüber keine Mitteilung. Mit einem am 12. Februar 1971 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben beantragte der Kläger unter Hinweis auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 27. Mai 1970 - 1 BvL 22/63, 27/64 - (BVerfGE 28, 324 = SozR Nr. 10 zu Art. 6 des Grundgesetzes - GG -), wonach die Heiratsklauseln bei den Waisenrenten in der sozialen Rentenversicherung (§ 44 Abs. 1 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes, § 1267 Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar sind, soweit sie in der Ausbildung stehende Waisen mit der Heirat auch dann vom Bezug der Rente ausschließen, wenn ihr Ehegatte zur Unterhaltsleistung außerstande ist, ihm Waisenrente für die Zeit seiner weiteren Berufsausbildung vom 1. Juli 1969 bis 28. Februar 1970 wieder zu gewähren. Die Beklagte lehnte dies ab (Bescheid vom 8. März 1971). Zur Begründung führte sie aus: Nach Art. 2 des Gesetzes zur Änderung sozial- und beamtenrechtlicher Vorschriften über Leistungen für verheiratete Kinder vom 25. Januar 1971 - LeistungsÄndG (BGBl I 65) seien allerdings u.a. Waisenrenten für verheiratete Kinder bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen unter denselben Bedingungen zu gewähren wie für unverheiratete Kinder. Dies gelte aber nicht für den Kläger, der Waisenrente bis zum 28.Februar 1970 beanspruche, da nach Art. 12 des genannten Gesetzes dieses erst am 1. Juni 1970 in Kraft getreten sei und Leistungen erst von diesem Zeitpunkt beansprucht werden könnten.
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 23. September 1971), das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat die Waisenrente für die Zeit vom 1. Juli 1969 bis 28. Februar 1970 zuerkannt; es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 11. Mai 1973).
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 1267 Satz 2 RVO i.d.F. des Art. 2 LeistungsÄndG und des Art. 12 Abs. 2 LeistungsÄndG.
Die Beklagte beantragt (sinngemäß),
das Urteil des LSG Berlin vom 11. Mai 1973 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Berlin vom 23.September 1971 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des LSG Berlin vom 11. Mai 1973 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben; die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG ist zurückzuweisen. Dem Kläger steht keine Waisenrente aus der Rentenversicherung des Versicherten Ernst M für die Zeit vom 1. Juli 1969 bis 28.Februar 1970 zu.
Das Berufungsgericht hat die Verurteilung der Beklagten, dem Kläger vom 1. Juli 1969 bis zum 28. Februar 1970 Waisenrente zu gewähren, auf Art. 12 Abs. 2 Satz 1 LeistungsÄndG gestützt. Dort heißt es: "Die durch dieses Gesetz vorgenommenen Änderungen gelten auch für die Zeit vor dem 1. Juni 1970, wenn der Anspruch auf die Leistung vor diesem Zeitpunkt geltend gemacht und darüber nicht auf Grund des damals geltenden Rechts bereits eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung getroffen worden ist." Den rechtlich entscheidenden Mangel in der Behandlung der Sache hat das LSG darin gesehen, daß die Beklagte durch eine interne Verwaltungsverfügung angeordnet hätte, die Waisenrente des Klägers einzustellen. Es hat die Beklagte wegen der damaligen unsicheren Rechtslage - beim BVerfG waren Normenkontrollklagen darüber anhängig, ob die gesetzlichen Regelungen bei Waisenrenten, daß bei Heirat der Waise die Waisenrente nicht mehr zu gewähren war - und aus "fürsorgerechtlichen Gründen gegenüber ihren Versicherten" für verpflichtet gehalten, einen Einstellungsbescheid zu erteilen, um so dessen gerichtliche Überprüfung zu ermöglichen. Indem die Beklagte dem Kläger keinen Einstellungsbescheid erteilt habe, habe sie - bewußt oder unbewußt - offengelassen, ob nach damaligem Recht ein nicht mehr anfechtbarer Verwaltungsakt vorgelegen habe. Dem Kläger, der die Weitergewährung der Waisenrente nach dem LeistungsÄndG beantragt habe, könne zu Recht nicht entgegengehalten werden, er habe sich seiner Rechte nach der damaligen Rechtslage begeben wollen, fehle es doch dafür an jedem tatsächlichen Anhalt. § 66 SGG setze die Bekanntgabe des Bescheids voraus, nicht aber ein bloß tatsächliches Verhalten des Versicherungsträgers. Wenn der Kläger sein Recht weiter geltend mache, verstoße er damit nicht gegen Treu und Glauben; er habe sein Recht auch nicht verwirkt, da nicht zu erkennen sei, daß er sich seines Anspruchs habe begeben oder auf ihn habe verzichten wollen. Die Beklagte sei verpflichtet gewesen, dem Kläger gemäß § 1633 RVO einen Bescheid zu erteilen; sie könne sich daher nicht mit Erfolg darauf berufen, der Waisenrentenbescheid sei bindend geworden.
Der Entscheidung des Berufungsgerichts ist weder in der Begründung noch im Ergebnis zu folgen. Der Anspruch des Klägers, ihm die Waisenrente für die streitige Zeit zu gewähren, läßt sich entgegen der Auffassung des LSG nicht aus Art. 12 Abs. 2 Satz 1 LeistungsÄndG herleiten. Der Anspruch auf diese Leistung ist nämlich nicht vor dem 1. Juni 1970 geltend gemacht worden.
Mit dem Begriff "Leistung" in Art. 12 Abs. 2 Satz 1 LeistungsÄndG ist schon nach dem Wortlaut dieser Vorschrift nur eine solche Leistung gemeint, die durch dieses Gesetz geschaffen worden ist, nicht aber eine solche, die es bereits vor dessen Inkrafttreten (1. Juni 1970; Art. 12 Abs. 1 LeistungsÄndG) gegeben hat (vgl. Urteil des 11. Senats des Bundessozialgerichts - BSG - vom 6. Juli 1972 - 11 RA 68/72 - SozR Nr. 1 zu Art. 12 LeistungsÄndG). Einen derartigen Anspruch, nämlich den Anspruch auf Waisenrente für eine verheiratete Waise, hat der Kläger vor dem 1. Juni 1970 nicht geltend gemacht, wie dies Art. 12 Abs. 2 Satz 1 LeistungsÄndG ausdrücklich verlangt. Dies ist erst nach dem Inkrafttreten des LeistungsÄndG mit Schreiben vom 10. Februar 1971 geschehen.
Ergibt schon der Wortlaut der Vorschrift des Art. 12 Abs. 2 Satz 1 LeistungsÄndG, daß dem Kläger für die streitige Zeit keine Waisenrente einer verheirateten Waise zusteht, wird dieses Ergebnis zusätzlich auch noch vom Sinn und Zweck dieser Vorschrift getragen. Dies ergibt sich aus der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Änderung sozial- und beamtenrechtlicher Vorschriften über Leistungen für verheiratete Kinder (BT-Drucks. VI/1316 zu Art. 12 Abs. 2 - S. 6), wo es heißt:
"Soweit noch Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren anhängig sind, in denen die Notwendigkeit der Verheiratetenklauseln für die Zeit vor dem 1.Juni 1970 in Frage steht, muß sichergestellt werden, daß die Entscheidungen auf verfassungskonformer Grundlage ergehen können. Es ist dagegen nicht geboten, unanfechtbar gewordene Bescheide, die auf der Anwendung verfassungswidriger Vorschriften (hier: der Verheiratetenklauseln) beruhen, rückwirkend aufzuheben (vgl. BVerfGE 20/230 ff).
Ein Anspruch ist geltend gemacht worden, wenn seine Erfüllung unter Wahrung der für den Rechtsbereich allgemein geltenden Vorschriften so eindeutig begehrt worden ist, daß nach Lage der Dinge hierüber in Form eines sog. rechtsmittelfähigen Bescheides zu entscheiden war. Dennoch (gemeint ist: "Demnach"; vgl. auch SozR Nr. 1 zu Art. 12 LeistungsÄndG, Bl. A a 1 Mitte) sind die Voraussetzungen des Absatzes 2 nicht erfüllt, wenn lediglich eine auf den konkreten Fall bezogene Rechtsauskunft über die Gewährung einer Leistung für oder an einen Verheirateten eingeholt worden ist und der um die Auskunft Nachsuchende sich mit einer negativen Auskunft abgefunden hat.
Absatz 2 ist eine abschließende Regelung in dem Sinne, daß in anderen als den dort umschriebenen Fällen Leistungen für die Zeit vor dem 1. Juni 1970 nicht gewährt werden können. Dies ist auch nicht auf Grund von Regelungen möglich sowie sie z.B. in §§ 627 und 1300 RVO sowie in § 40 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung enthalten sind".
Nachdem sich der Gesetzgeber, dem das BVerfG es überlassen hatte, die von ihm mit Beschluß vom 27.Mai 1970 - 1 BvL 22/63 und 27/64 - (BVerfGE 28, 324 = SozR Nr.10 zu Art. 6 GG) für verfassungswidrig erklärten Verheiratetenklauseln zu streichen oder nur verfassungskonform aufzulockern (vgl. Begründung des o.a. Gesetzentwurfs unter A., Allgemeiner Teil, S. 4), dahin entschieden hatte, die Verheiratetenklauseln überhaupt zu streichen, war es sachgerecht, der in Art. 12 Abs. 2 Satz 1 LeistungsÄndG verfügten Rückwirkung enge Grenzen zu setzen. Im Hinblick auf die eingeschränkte Rückwirkung verbietet sich von selbst eine Auslegung, die dem Kläger, der erst nach dem 1. Juni 1970 seinen Antrag gestellt hat, den Waisenrentenanspruch für die streitige Zeit zuerkennen würde.
Das Begehren des Klägers ist entgegen der Auffassung des LSG auch nicht deshalb begründet, weil die Beklagte wegen der durch die damals noch ausstehende Entscheidung des BVerfG bedingten unsicheren Rechtslage sowie aus Gründen der Fürsorge gegenüber den Waisen verpflichtet gewesen sei, die Zahlung der Waisenrente nicht, wie geschehen, durch interne Verwaltungsverfügung, sondern durch einen Bescheid gemäß § 1633 RVO einzustellen. Mit dieser Auffassung hat das LSG nicht hinreichend beachtet, daß die RVO für ausgelaufene Waisenrenten keine Vorschrift enthält, die einen Einstellungsbescheid verlangt. Ein solcher wäre auch überflüssig und widersinnig. Das gilt besonders in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Waise in Kenntnis der damaligen Rechtslage und gerade aus dieser Kenntnis die Annahme der Zahlung der Waisenrente durch die Post verweigert und sich nach der Zahlungseinstellung unmittelbar nicht gemeldet hat (vgl. hierzu auch für den Bereich des Bundeskindergeldgesetzes - BKGG - BSG Urteil vom 16. März 1973 - 7 Kg 10/71 -). Nach § 1292 RVO fällt die Waisenrente mit Ablauf des Monats weg, in dem die Voraussetzungen weggefallen sind. Diese Rechtsfolge tritt kraft Gesetzes ein. Die Beklagte handelte rechtsfehlerfrei, als sie ohne Einstellungsbescheid in ihrem inneren Geschäftsbereich die Zahlungseinstellung anordnete; ein anfechtbarer Verwaltungsakt über die Zahlungseinstellung war also nicht erforderlich (vgl. BSG SozR Nrn. 1 und 2 zu Art. 12 LeistungsÄndG).
Soweit sich eine verheiratete Waise damit abgefunden hat, daß ihr nach früherem Recht vor dem 1. Juni 1970 keine Waisenrente mehr gezahlt wurde, hat sie nach Art. 12 Abs. 2 Satz 1 LeistungsÄndG keinen Anspruch auf Waisenrente (vgl. auch BSG SozR Nr. 2 zu Art. 12 LeistungsÄndG).
Wie bereits der 11. Senat des BSG in dem o.a. Urteil (SozR Nr. 1 zu Art. 12 LeistungsÄndG) ausgesprochen hat, verstößt die Übergangsvorschrift des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 LeistungsÄndG nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Diese Übergangsvorschrift schließt an die Regelung des § 79 Abs. 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) an, die der Nichtigkeitserklärung von Normen durch das BVerfG nur eine begrenzte Rückwirkung zuschreibt. § 79 Abs. 2 BVerfGG ist insoweit Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes, der bei abgewickelten und abgeschlossenen Rechtsbeziehungen bewußt der Rechtssicherheit gegenüber der Einzelfallgerechtigkeit den Vorrang einräumt. Die Rechtsbeziehungen der Beteiligten dieses Falles waren mit der letzten Rentenzahlung für den Monat Juni 1969 abgewickelt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1648898 |
BSGE, 34 |