Leitsatz (amtlich)
Eine verheiratete Waise hat für die Zeit vor dem 1970-06-01 keinen Anspruch auf Waisenrente, wenn sie sich vor diesem Zeitpunkt nicht gegen den Wegfall der Waisenrente gewandt hat (Anschluß an BSG 1972-07-06 11 RA 68/72 = SozR Nr 1 zu Art 12 LeistungsG verheiratete Kinder vom 1971-01-25).
Normenkette
RVO § 1267 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1965-06-09; GG Art. 6 Abs. 1; VerhKindLeistG Art. 12 Fassung: 1971-01-25
Tenor
Die Sprungrevision der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 22. Juli 1971 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin für die Zeit vom 1. Juni 1969 bis zum 31. Mai 1970 die Waisenrente aus der Versicherung ihres verstorbenen Vaters zusteht.
Die am 13. Januar 1949 geborene Klägerin ist die Tochter des am 7. September 1964 verstorbenen Versicherten Hans-Jürgen A. Die Beklagte gewährte der Klägerin auf ihren Antrag vom 14. September 1964 mit Bescheid vom 2. November 1964 für die Zeit vom 1. September 1964 an die Waisenrente für Halbwaise. Da sich die Klägerin zunächst als Lehrling und vom 1. April 1968 an als Verwaltungsinspektor-Anwärterin in der Berufsausbildung befand, gewährte die Beklagte ihr mit Bescheid vom 9. November 1966 die Waisenrente über den 31. Januar 1967 hinaus und mit Bescheid vom 29. März 1968 über den 31. März 1968 hinaus. Die Klägerin heiratete am 2. Mai 1969. Die Beklagte stellte daraufhin zum 1. Juni 1969 die Rentenzahlung ein und teilte dies der Klägerin mit. Die Klägerin beantragte am 26. November 1970 die Weitergewährung der Waisenrente über den 31. Mai 1969 hinaus. Die Beklagte gewährte ihr mit Bescheid vom 6. April 1971 die Waisenrente für die Zeit vom 1. Juni 1970 an.
Diesen Bescheid hat die Klägerin mit der Klage angefochten. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 24. Juli 1971 abgewiesen und die Berufung zugelassen. Das SG hat zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, nach § 1267 Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der bis zum 1. Juni 1970 geltenden Fassung sei die Waisenrente mit Ablauf des Monats Mai 1969 weggefallen, weil die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen, daß sie unverheiratet sei, nicht mehr erfüllt habe. Zwar habe das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 27. Mai 1970 diese Vorschrift insoweit für mit dem Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) unvereinbar erklärt, als verheiratete Waise über 18 Jahre in jedem Falle von dem Anspruch auf Waisenrente ausgeschlossen seien. Diese Entscheidung könne jedoch keine Anspruchsgrundlage bilden, denn das Bundesverfassungsgericht habe die Heiratsklausel nicht in vollem Umfang für nichtig erklärt, sondern eine verfassungskonforme Regelung durch den Gesetzgeber für nötig gehalten. Das sei auch durch das Gesetz zur Änderung sozial- und beamtenrechtlicher Vorschriften über Leistungen für verheiratete Kinder vom 25. Januar 1971 (BGBl I, 65) geschehen. Nach Art. 2 in Verbindung mit Art. 12 dieses Gesetzes bestehe für die Zeit vor dem 1. Juni 1970 für verheiratete Waise ein Anspruch auf Waisenrente nur dann, wenn der Anspruch auf die Leistung vor diesem Zeitpunkt geltend gemacht und darüber nicht aufgrund des damals geltenden Rechts bereits eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung getroffen worden sei. Da die Klägerin in der Zeit vom Wegfall ihrer Waisenrente bis zum 1. Juni 1970 die Gewährung von Waisenrente nicht beansprucht habe, seien diese Voraussetzungen nicht erfüllt.
Die Klägerin hat dieses Urteil mit der Sprungrevision angefochten und eine Einverständniserklärung der Beklagten beigefügt. Sie ist der Ansicht, ihr stehe die Waisenrente für die streitige Zeit nach dem Gesetz vom 25. Januar 1971 zu. Die Mitteilung über den Wegfall der Waisenrente, die als Verwaltungsakt anzusehen sei, habe in der Zeit bis zum 1. Juni 1970 deshalb nicht verbindlich werden können, weil sie ihr nicht zugestellt worden sei. Das rechtfertige die Anwendung des Gesetzes vom 25. Januar 1971 für die Zeit vor dem 1. Juni 1970.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, des Bescheides der Beklagten vom 6. April 1971 sowie des Schreibens der Beklagten vom 16. April 1969 zu verurteilen, der Klägerin Waisenrente über den 31. Mai 1969 hinaus bis zum 31. Mai 1970 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 22. Juli 1971 als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und trägt zusätzlich vor, die Mitteilung an die Klägerin vom 16. April 1969 über den Rentenwegfall habe keine Entscheidung über den Rentenanspruch enthalten, sondern nur eine Bekanntgabe der kraft Gesetzes eingetretenen Rechtsfolge des Rentenwegfalls. Mit diesem ordnungsgemäßen Abschluß des Leistungsverfahrens sei der frühere Waisenrentenantrag erfüllt und damit verbraucht. Bis zum 1. Juni 1970 sei demnach der Anspruch auf die Leistung nicht geltend gemacht worden oder anhängig gewesen.
II
Die nach § 161 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Sprungrevision der Klägerin ist zulässig. Sie hat jedoch keinen Erfolg, denn das SG hat die Klage mit Recht abgewiesen. Die Klägerin hat für die streitige Zeit keinen Anspruch auf die begehrte Waisenrente.
Nach § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO in der bis zum 1. Juni 1970 geltenden Fassung bestand ein Anspruch der Klägerin auf die Waisenrente für die Zeit vom 1. Juni 1969 an nicht, weil die Klägerin inzwischen geheiratet hatte. Der bindend gewordene Rentengewährungsbescheid vom 29. März 1968 verpflichtete die Beklagte nicht, die Rente über den 1. Juni 1969 hinaus zu zahlen. Nach § 1292 RVO fällt die Waisenrente mit Ablauf des Monats weg, in dem die Voraussetzungen für ihre Gewährung weggefallen sind. Diese Rechtsfolge tritt kraft Gesetzes ein, so daß es der Aufhebung oder Abänderung des früheren, die Waisenrente bewilligenden Bescheides oder des Erlasses eines besonderen Entziehungsbescheides nicht bedarf (vgl. BSG in SozR Nr. 15 zu § 79 SGG). Aus dem Rentengewährungsbescheid kann die Verpflichtung der Beklagten zur Weitergewährung der Waisenrente nicht hergeleitet werden.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat zwar mit Beschluß vom 27. Mai 1970 entschieden, daß die Heiratsklauseln bei den Waisenrenten in der sozialen Rentenversicherung mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar seien, soweit sie in der Ausbildung stehende Waise mit der Heirat auch dann vom Bezug der Rente ausschlössen, wenn ihr Ehegatte zur Unterhaltsleistung außerstande sei (vgl. SozR Bl. Ab 6 Nr. 10 zu Art. 6 GG). Diese Entscheidung kann den Anspruch der Klägerin jedoch nicht stützen. In ihr kommt deutlich zum Ausdruck, daß die mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbare typisierende Heiratsklausel nicht einfach als nichtig und nicht vorhanden anzusehen ist, sondern daß sie vom Gesetzgeber durch eine differenzierende Regelung ersetzt werden soll. Die Frage, ob und in welchen Fällen eine verheiratete Waise über das 18. Lebensjahr hinaus einen Anspruch auf die Waisenrente haben soll, hat das BVerfG also einer gesetzlichen Regelung überlassen. Diese Regelung ist in dem Gesetz zur Änderung sozial- und beamtenrechtlicher Vorschriften über Leistungen für verheiratete Kinder vom 25. Januar 1971 (BGBl I, 65) getroffen worden. Nach Art. 2 dieses Gesetzes ist die Heiratsklausel in § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO ersatzlos gestrichen worden. Das gilt jedoch nur für die Zeit nach dem 1. Juni 1970, da dieses Gesetz nach Art. 12 Abs. 1 erst mit diesem Zeitpunkt in Kraft getreten ist. Eine Ausnahme davon macht Art. 12 Abs. 2. Danach gelten die durch dieses Gesetz vorgenommenen Änderungen auch für die Zeit vor dem 1. Juni 1970, wenn der Anspruch auf die Leistung vor diesem Zeitpunkt geltend gemacht und darüber nicht aufgrund des damals geltenden Rechts bereits eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung getroffen worden ist. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber den vom BVerfG zu § 79 Abs. 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) entwickelten Grundsätzen Rechnung getragen. Er hat mit der begrenzten Rückwirkung des Änderungsgesetzes sicherstellen wollen, daß die im Zeitpunkt des Inkrafttretens noch ausstehenden Entscheidungen auf verfassungskonformer Grundlage ergehen können (vgl. Bundestagsdrucksache VI/1316 S. 6, Begründung zu Art. 12 des Gesetzentwurfs). Die Rückwirkung sollte demgemäß auf solche Fälle beschränkt bleiben, in denen im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Änderungsgesetzes noch Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren anhängig waren. Dabei hat der Gesetzgeber an solche Fälle gedacht, in denen bei Inkrafttreten des Änderungsgesetzes noch nicht abschließend über den Rentenantrag entschieden war. Solche Fälle, in denen über den ursprünglichen Antrag positiv und bindend entschieden war, in denen aber die Waisenrente infolge der Heirat bereits vor dem 1. Juni 1970 weggefallen war, hat der Gesetzgeber kaum in seinem Blickfeld gehabt. Unter Berücksichtigung der für ihn maßgebenden Grundgedanken kann man aber nicht annehmen, daß er diese Fälle - hätte er sie gesehen - in die Rückwirkung einbezogen hätte. Nach der Zielvorstellung des Gesetzgebers, die aus der bereits zitierten Begründung des Entwurfs erkennbar ist, soll die Leistung für die Zeit vor dem 1. Juni 1970 dann nicht gewährt werden, wenn zu diesem Zeitpunkt eine Entscheidung über den Anspruch nicht mehr zu ergehen hatte, wenn also zu dieser Zeit weder ein Verwaltungs- noch ein Gerichtsverfahren schwebte, für das eine verfassungskonforme Entscheidung ermöglicht werden sollte. Im vorliegenden Fall war aber am 1. Juni 1970 weder ein Verwaltungs- noch ein Gerichtsverfahren über den Waisenrentenanspruch der Klägerin anhängig. Das Verfahren über die früheren Anträge war bereits durch die Bewilligung der Waisenrente seit längerer Zeit abgeschlossen. Zum 1. Juni 1969 war die Waisenrente wegen der Verheiratung der Klägerin nach § 1292 RVO weggefallen, ohne daß es einer Entscheidung darüber bedurfte (vgl. BSG in SozR Nr. 15 zu § 79 SGG). Die Klägerin hat vor dem 1. Juni 1970 gegen den Rentenwegfall nichts unternommen und insbesondere keine für sie positive Entscheidung begehrt. Im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Änderungsgesetzes war daher weder bei der Beklagten noch bei einem Gericht ein Verfahren anhängig, in dem über den Anspruch auf Waisenrente zu entscheiden gewesen wäre. Unter diesen Umständen kommt es nicht darauf an, ob in der Mitteilung der Beklagten über den Rentenwegfall ein Verwaltungsakt zu sehen ist und ob die Klägerin am 1. Juni 1970 noch dagegen vorgehen konnte. Hat die Waise vor dem 1. Juni 1970 nichts gegen den Wegfall der Waisenrente unternommen, hat sie weder eine Verwaltungs- noch eine Gerichtsentscheidung beantragt, so muß es für die Zeit vor dem 1. Juni 1970 bei dem Rentenwegfall bleiben. Da die Klägerin im vorliegenden Fall den Anspruch für die streitige Zeit erst nach dem Stichtag geltend gemacht hat, liegen die Voraussetzungen des § 12 Abs. 2 des Gesetzes vom 25. Januar 1971 also nicht vor (vgl. im Ergebnis ebenso BSG in SozR Nr. 1 zu Art. 12 Leistungsänderungsgesetz vom 25.1.1971).
Der Senat hat die danach unbegründete Sprungrevision der Klägerin zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1670406 |
BSGE, 45 |