Leitsatz (amtlich)
Schwerbehinderte mit einer MdE um wenigstens 80 vH müssen auch dann, wenn ihnen das Merkzeichen "G" vor der Einführung der gesetzlichen Rechtsvermutung im Schwerbehindertenrecht zum 1. Oktober 1979 zuerkannt worden war, seit dem 1. April 1984 für eine Kraftfahrzeugsteuerermäßigung nachweisen, daß sie im Straßenverkehr erheblich bewegungsbehindert sind (Ergänzung zu BSG 24.4.1985 9a RVs 11/84 = BSGE 58, 72 = SozR 3870 § 58 Nr 1).
Normenkette
SchwbG § 58 Abs 1 S 1 Fassung: 1983-12-22, § 58 Abs 1 S 2 Fassung: 1979-10-08, § 58 Abs 1 S 2 Fassung: 1983-12-22, § 3 Abs 1 Fassung: 1976-06-14, § 3 Abs 4 Fassung: 1976-06-14; StEntlG 1984 Art 10 § 3a Abs 2 Fassung: 1983-12-22; KraftStGÄndG 1978 § 3 Nr 11 Fassung: 1978-12-22; StEntlG 1984 Art 10 Nr 1; StEntlG 1984 Art 13 Abs 2; SchwbG § 3 Abs 5; HBegleitG 1984
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 23.04.1985; Aktenzeichen L 4 Vs 11/85) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 12.12.1984; Aktenzeichen S 8 Vs 114/84) |
Tatbestand
Das Versorgungsamt hat bei der Klägerin verschiedene Behinderungen (Sklerose, Coronarinsuffizienz, Hypertonie, Varicosis, Wirbelsäulenveränderung, Fußmißbildung, Lungen- und Bronchialleiden) nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 vH anerkannt (Bescheid vom 24. Februar 1978). Außerdem stellte es "erhebliche Gehbehinderung/Geh- und Stehbehinderung/erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Merkzeichen: G)" fest. Im September 1979 erhielt die Klägerin erstmals einen Schwerbehindertenausweis mit orangefarbenem Flächenaufdruck, der zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personenverkehr berechtigte. Mit Bescheid vom 31. Januar 1984 stellte das Versorgungsamt fest, die Klägerin sei nicht iS des § 58 Abs 1 Satz 1 SchwbG im Straßenverkehr erheblich bewegungsbehindert. Das Sozialgericht (SG) hat unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides festgestellt, daß das Merkzeichen "G" nur mit der Vergünstigung Kraftfahrzeugsteuerermäßigung gewährt wird (Urteil vom 12. Dezember 1984). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten als unbegründet angesehen und auf die Anschlußberufung der Klägerin den Beklagten verurteilt, die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkmals "G" über den 31. März 1984 hinaus ohne Einschränkungen festzustellen und einen entsprechenden Änderungsvermerk im Schwerbehindertenausweis der Klägerin einzutragen (Urteil vom 23. April 1985): Eine Neufeststellung nach § 48 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) zu Lasten der Klägerin sei nicht berechtigt. Zwar sei mit dem 1. April 1984 die gesetzliche Rechtsvermutung, daß alle Behinderten mit einer MdE um mindestens 80 vH als im Straßenverkehr erheblich bewegungsbehindert galten, fortgefallen. Diese Rechtsänderung beschränke sich aber auf die am 1. Oktober 1979 in Kraft getretene Rechtsvermutung des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG. Die Klägerin habe jedoch die darauf beruhende Freifahrtvergünstigung durch Art 3 Abs 2 des Gesetzes vom 9. Juli 1979 erworben, weil ihr schon vorher das Merkzeichen "G" zuerkannt gewesen sei. Demgegenüber sei es auf die festgestellte MdE um mindestens 80 vH nicht angekommen. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" seien schon seit 1978 uneingeschränkt verbindlich festgestellt. Diese Rechtsstellung könne nicht nachträglich auf eine bestimmte Vergünstigung - wie die Kraftfahrzeugsteuer - eingeschränkt werden. Die tatsächlichen Verhältnisse hätten sich nicht geändert.
Der Beklagte vertritt mit der - vom LSG zugelassenen - Revision die Rechtsansicht, die Zuerkennung des Merkmals "G" sei bis 1979 auf den Bereich des Steuerrechts beschränkt gewesen, könne aber seit dem 1. April 1984 nur noch dann wirksam sein, wenn der Behinderte tatsächlich im Straßenverkehr erheblich bewegungsbehindert sei.
Der Beklagte beantragt, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben, die Anschlußberufung der Klägerin zurückzuweisen und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie tritt der Rechtsauffassung des LSG bei.
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung vertritt die Rechtsauffassung, die Übergangsvorschrift von 1979 komme den Schwerbehinderten, die wegen einer MdE von wenigstens 80 vH als erheblich bewegungsbehindert angesehen worden seien, nach dem neuen Kraftfahrzeugsteuerrecht nicht zugute.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist erfolgreich. Die Vorinstanzen halten zu Unrecht den Beklagten für verpflichtet, über den 31. März 1984 hinaus der Klägerin das Merkzeichen "G" uneingeschränkt oder beschränkt auf das Kraftfahrzeugsteuerrecht zuzuerkennen.
Die vom Beklagten beanstandeten Urteile stützen sich im wesentlichen auf die Grundsätze über die Verbindlichkeit von Verwaltungsakten (§ 77 Sozialgerichtsgesetz -SGG-, jetzt §§ 44 ff SGB X). Indes kommt es auf die Bestandskraft der früheren Entscheidung, daß die Klägerin in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sei, ab 1. April 1984 nicht mehr an. Die Feststellung, die für das genannte Merkzeichen in einem Ausweis vorausgesetzt wird (§ 3 Abs 4 iVm Abs 1 SchwbG idF des Art 2 Nr 1 Buchstabe b des 8. Anpassungsgesetzes -KOV vom 14. Juni 1976 - BGBl I 1481; vgl dazu BSGE 52, 168, 170 = SozR 3870 § 3 Nr 13; § 3 Abs 5 SchwbG; dazu Abschnitt IV Abs 1 Nr 3 der Ausweisrichtlinien idF vom 11. Oktober 1965 -GMBl 402-/Stand: 1977 BVBl 1977 Beil zu Nr 3/4; § 3 Abs 2 Ausweisverordnung Schwerbehinderter vom 15. Mai 1981 -BGBl I 431-/3. April 1984 -BGBl I 509-), ist bei denjenigen Behinderten, bei denen bisher eine MdE um 80 vH oder mehr anerkannt war, neu zu treffen. Sie galten seit 1979 kraft einer unwiderlegbaren Rechtsvermutung im Schwerbehindertenrecht für die unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personenverkehr und im Kraftfahrsteuerrecht als erheblich bewegungsbehindert (§ 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG idF des Gesetzes über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr vom 9. Juli 1979 - BGBl I 989 - -UnBefG- und des § 3 Nr 11 Kraftfahrzeugsteuergesetz -KraftStG- idF des Art 1 Nr 3 Buchstabe d des Änderungsgesetzes vom 22. Dezember 1978 -BGBl I 2063 - Bekanntmachung vom 1. Februar 1979 - BGBl I 132). Diese gesetzliche Vergünstigung ist mit Wirkung ab 1. April 1984 entfallen (§ 58 Abs 1 SchwbG idF des Art 20 Nr 1 Buchstabe a und Nr 2 Haushaltsbegleitgesetz -HBegleitG 1984 vom 22. Dezember 1983 -BGBl I 1532- -SchwbG 1983-; § 3a Abs 2 KraftStG idF des Art 10 Nr 2 Steuerentlastungsgesetz -StEntlG- 1984 vom 22. Dezember 1983 -BGBl I 1583-KraftStG 1983-; dazu ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats seit BSGE 58, 72 = SozR 3870 § 58 Nr 1; Art 10 Nr 1, Art 13 Abs 2 StEntlG 1984). Durch diesen gesetzgeberischen Eingriff ist auch jede frühere Entscheidung, durch die einem Behinderten mit einer MdE um mindestens 80 vH eine erhebliche Bewegungseinschränkung im Straßenverkehr und deshalb das Merkzeichen "G" zuerkannt worden war, für die Zeit ab 1. April 1984 wirkungslos geworden. Dies hat der Senat bisher in der zitierten ständigen Rechtsprechung allerdings nur für die Voraussetzung zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personenverkehr entschieden. Gleiches gilt aber für das Kraftfahrzeugsteuerrecht. In diesem Rechtsgebiet hat der Gesetzgeber ebenso wie in jenem die unwiderlegbare Rechtsvermutung beseitigt, die ab 1. Juni 1979 für das Kraftfahrzeugsteuerrecht (Art 6 des Änderungsgesetzes vom 22. Dezember 1978) und ab 1. Oktober 1979 für das Beförderungsrecht (Art 10 Abs 1 UnBefG) eingeführt worden war. Gleichzeitig sind für beide Rechtsbereiche neue Regelungen geschaffen worden.
Die Klage kann ebensowenig ganz oder teilweise zum Erfolg führen, wenn allein auf den bisherigen Inhalt des Ausweises (§ 3 Abs 5 SchwbG) mit dem darin vermerkten "G" abgestellt wird, wie es die Vorinstanzen in ihrer Entscheidung getan haben.
Der Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personenverkehr hängt nach § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG 1983 bei einer MdE um wenigstens 80 vH von einem neuen Ausweis mit halbseitigem orangefarbenen Flächenaufdruck und eingetragenem Merkzeichen "G" ab. Für die Kraftfahrzeugsteuerermäßigung müssen Schwerbehinderte durch einen Ausweis iS des SchwbG oder des Art 3 UnBefG 1979 mit dem Merkzeichen "G" "nachweisen, daß sie in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind" (§ 3a Abs 2 Satz 1 KraftStG 1983). Die frühere Verwaltungsentscheidung über das Merkzeichen "G" ist aber ergangen, ohne daß eine erhebliche Bewegungsbehinderung (§ 3 Abs 4 SchwbG) nachgewiesen worden wäre. Mithin kann die Klägerin die Ausstellung eines Ausweises mit dem Merkzeichen "G" für die Zeit ab 1. April 1984 erst beanspruchen, wenn eine entsprechend positive Entscheidung über die tatsächliche Bewegungsbehinderung vorliegt.
Ein vor dem 1. Juni 1979 mit dem Merkmal "G" ausgestellter Ausweis ist kein solcher iS des Art 3 UnBefG 1979, wie ihn § 3a Abs 2 Satz 1 KraftStG 1983 fordert. Gleiches gilt für derartige Ausweise aus der Zeit zwischen dem 1. Juni 1979 und dem 30. September 1979.
Nach der genannten Übergangsvorschrift war ab dem Inkrafttreten des UnBefG 1979 - 1. Oktober 1979 (Art 10 Abs 1) - ein bisher gültiger Ausweis mit dem Merkmal "G", der keinen orangefarbenen Flächenaufdruck enthielt, durch einen Ausweis mit einem Aufdruck der bezeichneten Art, der zur Freifahrt berechtigte, zu ersetzen. Das Merkmal "G" war aber der Klägerin vor dem 1. Oktober 1979 allein auf Grund der festgestellten MdE um wenigstens 80 vH zuerkannt worden. Das beruhte ursprünglich auf einer ministeriellen Weisung, die den § 3 Abs 1 Nr 2 KraftStG vom 1. Dezember 1972 (BGBl I 2209) für die Verwaltung verbindlich ausgelegt hatte. Der BMA hatte für die Versorgungsbehörden angeordnet, die Behinderten mit einer MdE um mindestens 80 vH sollten "in jedem Fall" als iS des § 3 Abs 1 Nr 2 KraftStG (aF) im Straßenverkehr erheblich bewegungsbehindert gelten (Rundschreiben vom 11. Juli 1975, BVBl 1975, S 107 Nr 63). Das war von den Finanzbehörden anerkannt worden (zB Verwaltungsvorschriften des Bremischen Finanzsenators vom 14. Mai 1976, LSt-Kartei BR S 2286 Karte 4). Ab 1. Juni 1979 wurde das Merkmal "G" für diese Personen auf Grund der nunmehr in § 3 KraftStG 1978 enthaltenen Rechtsvermutung anerkannt. Diese Regelungen, die die Vorinstanzen nicht genügend berücksichtigt haben, führten dazu, daß diese Behinderten ab 1. Oktober 1979 ohne weitere Sachprüfung, die vorher für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" entfallen war, in den Genuß der unentgeltlichen Beförderung kamen. Die Prüfung und Entscheidung, ob der Behinderte tatsächlich im Straßenverkehr erheblich bewegungsbehindert war, war wegen der Rechtsvermutung, die sich auf die MdE von mindestens 80 vH gründete, ausgeschlossen. Soweit sie in einzelnen Fällen vorgenommen wurde, hatte sie keine rechtliche Bedeutung. Dann kann auch für jenen Personenkreis die durch eine Vermutung erworbene Rechtsstellung über den 31. März 1984 hinaus nicht mehr wirken, nachdem der Gesetzgeber unmittelbar diese Vergünstigung, die Rechtsvermutung, für die Zukunft beseitigt hat. Die Rechtslage kann nunmehr nicht günstiger sein als für solche Schwerbehinderte, denen das Merkmal "G" erstmals nach dem 1. Oktober 1979 allein wegen einer MdE von mindestens 80 vH zuerkannt worden ist. Mit Ausweisen der bezeichneten Art aus der Zeit vor dem 1. Oktober 1979 läßt sich nicht iS des § 3a Abs 2 Satz 1 KraftStG 1983 "nachweisen", daß die Inhaber "in ihrer Bewegungsfähigkeit ... beeinträchtigt sind". Diese Ausweise lassen klar erkennen, daß das Merkmal "G" auf Grund der damals geltenden Rechtsvermutung einer erheblichen Bewegungsbehinderung ausgestellt worden ist. Das folgt zwingend aus der außerdem eingetragenen MdE von mindestens 80 vH. Damit war und ist offensichtlich, daß der Inhaber wegen dieses Grades der MdE auf Grund der gesetzlichen Vermutung, die am 1. Juni 1979 in Kraft getreten war, oder vorher kraft der ministeriell angeordneten Vermutung als im Straßenverkehr erheblich behindert galt. § 3a Abs 2 Satz 1 KraftStG in der jetzt geltenden Fassung erfordert jedoch den Nachweis der tatsächlichen Bewegungsbehinderung. Nur so ist diese Vorschrift nach ihrem Wortlaut bei gebotener widerspruchsfreier Auslegung zu verstehen.
Allein die einheitliche Behandlung der Schwerbehinderten mit einer MdE um wenigstens 80 vH im Bereich der unentgeltlichen Personenbeförderung und bei der Kraftfahrsteuerermäßigung ab 1. April 1984 entspricht dem erklärten Ziel des StEntlG 1984, die bis dahin eingetretene "Ausuferung" abzubauen, als welche der Gesetzgeber die unwiderlegbare Rechtsvermutung wertete (Begründung des Entwurfes des StEntlG 1984 -BT-Drucks 10/336, S 32-). In dieser Gesetzesbegründung ist gerade die Angleichung an das HBegleitG betont worden, das für Behinderte mit einer MdE um mindestens 80 vH eine völlig neue Rechtslage eingeführt hat (aaO). Ausweise iS des Art 3 UnBefG 1979 können für die Zukunft dann noch bedeutsam sein, wenn in ihnen das Merkzeichen "G" und eine MdE von weniger als 80 vH unter der Herrschaft der Rechtsvermutung bescheinigt worden waren.
Das LSG hat nun aufzuklären, ob die Klägerin tatsächlich erheblich bewegungsbehindert ist. Es hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen
Haufe-Index 1656765 |
BSGE, 242 |