Entscheidungsstichwort (Thema)
Härteausgleich. Maßkonfektion. Maßhosen. Mehrkosten. besondere Härte. Grundrente. Kleiderpauschale
Leitsatz (amtlich)
Es ist keine besondere Härte iS von § 89 BVG, daß die schädigungsbedingten Mehrkosten für die Anfertigung von Maßhosen nicht erstattet werden, sondern aus der Grundrente und der Kleiderpauschale bestritten werden müssen.
Normenkette
BVG § 89; OrthV § 38
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revisionen des Beklagten und der Beigeladenen wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. November 1993 geändert.
Die Klage gegen den Bescheid vom 2. April 1993 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 9. August 1993 wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in allen Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger ist Kriegsbeschädigter mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) unter Berücksichtigung einer besonderen beruflichen Betroffenheit um 70 vH. Als Folge der Verletzungen des linken Beines wird er mit einem hohen Schuh mit Verkürzungsausgleich und einem Schienenhülsenapparat versorgt. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) hat dies zur Folge, daß er keine Konfektionshosen tragen kann, sondern wegen der erforderlichen Beinweite auf die Anfertigung von Maß- oder Maßkonfektionshosen angewiesen ist. Die Kosten dafür betragen jeweils 300,00 DM bis 400,00 DM. Im April 1990 beantragte der Kläger die Übernahme von Mehrkosten für die Anfertigung von Maß- oder Maßkonfektionshosen. Dies lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 2. Mai 1990 idF des Widerspruchsbescheides vom 24. Juni 1990 mit der Begründung ab, daß nach § 38 der Orthopädieverordnung (OrthV) die Erstattung von Mehrkosten für Maßanfertigungen nur vorgesehen sei, wenn eine wesentliche Deformierung des Rumpfes auszugleichen sei. Diese Voraussetzung sei beim Kläger nicht erfüllt.
Mit der dagegen erhobenen Klage hatte der Kläger beim Sozialgericht (SG) Erfolg. Das SG vertrat die Auffassung, daß der Begriff “Rumpf” in der OrthV weit auszulegen sei und auch das Bein und den Fuß mitumfasse (Urteil vom 17. Dezember 1990). Während des anschließenden Berufungsverfahrens hat der Beklagte die Übernahme der Mehrkosten im Wege des Härteausgleichs abgelehnt, nachdem der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung seine Zustimmung versagt hatte (Bescheid vom 2. April 1993; Widerspruchsbescheid vom 9. August 1993). Das LSG hat auf die Berufung des beklagten Landes die Klage abgewiesen, soweit der Kläger die Übernahme der Mehrkosten als Leistung der Heilbehandlung begehrt hat. Auf die erweiterte Klage hin hat es dagegen den Beklagten unter Aufhebung der im Berufungsverfahren erteilten Bescheide verurteilt, bezüglich des Härteausgleichs einen neuen Bescheid unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu erteilen (Urteil des LSG vom 16. November 1993). Das Berufungsgericht hat die Auffassung vertreten, daß der Kläger nach den Vorschriften über die Heilbehandlung in Form der Versorgung mit Hilfsmitteln oder Ersatzleistungen keinen Anspruch auf Übernahme der Mehrkosten für Maßhosen habe, weil der Wortlaut des § 38 OrthV eindeutig sei und auch keine analoge Anwendung auf Beinkleidung erlaube. Der Ausschluß der Übernahme von Mehrkosten sei aber im Falle des Klägers eine besondere Härte iS des § 89 Bundesversorgungsgesetz (BVG). Dabei komme es auf seine wirtschaftliche Lage nicht an, weil auch die Leistung nach § 38 OrthV unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen gewährt werde.
Dagegen richten sich die vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revisionen des Beklagten und der Beigeladenen. Sie rügen eine Verletzung des § 89 Abs 1 BVG. Das LSG habe den Begriff “besondere Härte” verkannt. Eine solche besondere Härte sei im Falle des Klägers nicht gegeben. Der Verordnungsgeber habe in der OrthV bewußt geregelt, für welchen umgrenzten Personenkreis und in welcher Höhe Leistungen zu gewähren seien. Der Kläger könne keinem Beschädigten gleichgestellt werden, der wegen einer Rumpfdeformation zu seinen Maßanfertigungen einen jährlichen Zuschuß bis zu 480,00 DM erhalte. Die Gewährung des Härteausgleichs müsse auf krasse Ausnahmefälle beschränkt werden, die aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit eine Entschädigung verlangten. Das sei beim Kläger nicht der Fall. Seine schädigungsbedingten Mehraufwendungen würden durch die gewährte Grundrente pauschal abgegolten.
Der Beklagte und die Beigeladene beantragen,
das Urteil des Landessozialgerichts abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
II
Die Revisionen des Beklagten und der Beigeladenen sind begründet. Das LSG hat den Beklagten zu Unrecht verurteilt, einen erneuten Bescheid über die Gewährung eines Härteausgleichs zu erteilen.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nicht mehr die Gewährung eines Zuschusses als Ersatzleistung im Rahmen der orthopädischen Versorgung gemäß § 38 OrthV idF der Bekanntmachung vom 4. Oktober 1989 (BGBl I 1834), der für die Anfertigung von Maßkonfektionskleidung und Maßkleidung die Übernahme von Mehrkosten im notwendigen Umfang bis zu 480,00 DM jährlich vorsieht, wenn eine Änderung von Konfektionskleidung nicht ausreicht, um eine wesentliche Deformierung des Rumpfes auszugleichen; das Tragen eines Hilfsmittels am Rumpf kann dabei kraft ausdrücklicher Anordnung einer wesentlichen Deformierung gleichgesetzt werden. Der Kläger hat gegen das Urteil des LSG, das die Klage auf Gewährung dieser Leistung abgewiesen hat, kein Rechtsmittel eingelegt, so daß das Urteil insoweit rechtskräftig geworden ist. An einer revisionsrechtlichen Überprüfung wäre das BSG nur dann nicht gehindert, wenn es sich bei der sog Pflichtleistung und dem Härteausgleich nach § 89 BVG um denselben Streitgegenstand handelte. Dann wäre das klägerische Begehren unter allen in Betracht kommenden materiellen Gesichtspunkten unabhängig von erhobenen Sachrügen zu prüfen (so BSGE 74, 109, 110 = SozR 3-3100 § 1 Nr 14 zum Verhältnis von “Pflicht- und Kannleistung”). Es handelt sich aber um zwei verschiedene Streitgegenstände, die zwar sachlich voneinander abhängen in der Weise, daß der Härteausgleich nur dann in Betracht kommen kann, wenn ein Anspruch auf die sog Pflichtleistung nicht besteht. Das ändert aber nichts daran, daß es sich um verschiedene Ansprüche handelt, über die selbständig mit bindender Wirkung entschieden werden kann und regelmäßig auch nacheinander entschieden wird in der Weise, daß über den Härteausgleich erst dann zu entscheiden ist, wenn bindend festgestellt ist, daß kein Anspruch auf die sog Pflichtleistung besteht.
Das LSG hat allerdings nicht den bezüglich der sog Pflichtleistung entscheidungsreifen Rechtsstreit entschieden, sondern die Sache vertagt, um den später ergangenen Bescheid über die Gewährung eines Härteausgleichs und den anschließenden Widerspruchsbescheid in das laufende Verfahren einzubeziehen. Es kann offenbleiben, ob diese Verfahrensweise – wie vom LSG angenommen (anders BSG SozR 3100 § 89 Nr 1) – durch § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) geboten war. Der Verfahrensfehler einer unzulässigen Klageänderung ist im Revisionsverfahren nicht gerügt worden (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG).
Härteausgleich gemäß § 89 Abs 1 BVG ist dem Kläger nicht zu gewähren, weil sich sein Ausschluß von der Erstattung der Mehrkosten für die Anfertigung von maßgeschneiderten Hosen nicht als “besondere Härte” darstellt. Diese Voraussetzung für eine Ermessensentscheidung des Beklagten ist von den Gerichten in vollem Umfange nachzuprüfen (BSGE 36, 143, 144 f = SozR Nr 9 zu § 89 BVG; BSG SozR 3100 § 89 Nr 7).
Einen Härteausgleich soll die Verwaltung allgemein gewähren können, sofern der Gesetzgeber besondere Einzelfälle oder auch Gruppen mit ihren Besonderheiten übersehen oder nicht vorausgesehen oder nicht genügend differenziert geregelt hat (BSGE 27, 75, 76 f; BSG SozR 3100 § 89 Nr 7). Zum Gesetzgeber im weiteren Sinne gehört auch der Verordnungsgeber. Diese Voraussetzung eines Härteausgleichs liegt für Beschädigte wie den Kläger, die nicht am Rumpf deformiert sind und deswegen auf individuelle Maßanfertigung ihrer Kleidung angewiesen sind, sondern Konfektionskleidung wegen Deformierungen der Gliedmaßen oder der Notwendigkeit von Gliedmaßenprothesen nicht tragen können, im allgemeinen nicht vor. Der Verordnungsgeber hat mit § 38 OrthV eine Regelung getroffen, die sich bewußt auf Beschädigte mit Rumpfdeformationen beschränkt, also in Kauf genommen, daß Beschädigten mit anderweitigen Deformationen keine besonderen Zuschüsse für die Anfertigung von Maßkleidung gewährt werden. Das ergibt sich schon daraus, daß § 38 OrthV mehrfach geändert worden ist und insbesondere die früher bestehende Beschränkung auf Deformierungen des Brustkorbes oder Schultergürtels durch die Zweite Änderungsverordnung zu § 11 Abs 3 und § 13 BVG vom 4. Juli 1986 (BGBl I 998) ersetzt worden ist durch das Merkmal einer wesentlichen Deformierung des Rumpfes. Der naheliegenden Überlegung, die Übernahme der Mehrkosten allen Beschädigten zu gewähren, die aus Schädigungsgründen keine Konfektionskleidung tragen können, ist der Verordnungsgeber, die Bundesregierung, nicht nachgegangen. Dies ist nach den Ausführungen der Beigeladenen, die von dem für die OrthV federführenden Bundesminister vertreten wird, geschehen, weil davon ausgegangen worden ist, daß es dem Personenkreis, der nicht von § 38 OrthV erfaßt wird, zuzumuten ist, eventuelle Mehraufwendungen aus der Grundrente zu begleichen. Dabei sei berücksichtigt worden, daß die Anfertigung von Maßkleidung für den Bereich des Rumpfes im Regelfall wesentlich höhere Kosten verursacht als die Fertigung sonstiger Kleidungsstücke. Auch dem von § 38 OrthV begünstigten Personenkreis werde im Einzelfall eine Eigenbeteiligung, die aus der Grundrente zu bestreiten sei, zugemutet, weil die Mehrkostenerstattung auf einen jährlichen Betrag von 480,00 DM begrenzt worden sei. Diese “gesetzgeberischen” Erwägungen sind nachvollziehbar. Es mag sein, daß bei Deformationen der Gliedmaßen allgemein angenommen worden ist, eine relativ wenig aufwendige Änderung von Konfektionskleidung sei ausreichend, um den Beschädigten angemessen auszustatten, daß also die Notwendigkeit einer Maßanfertigung einer ganzen Hose mit im Vergleich zu Konfektionshosen etwa doppelt so hohen Kosten nicht gesehen worden ist. Die Beigeladene bestreitet auch im Revisionsverfahren noch, daß der Kläger auf die vollständige Fertigung von Maßhosen angewiesen ist. Indessen ist dies vom LSG so festgestellt worden, ohne daß dagegen beachtliche Rügen (§ 163 SGG) erhoben worden sind.
Aber auch wenn davon auszugehen ist, daß ein besonders gelagerter Fall wie der des Klägers, der mit einer entsprechenden Änderung von Konfektionskleidung nicht angemessen ausgestattet werden kann, nicht vorausgesehen worden ist, fehlt es für einen Härteausgleich an der Voraussetzung, daß eine “besondere” Härte vorliegen muß (BSG SozR 3100 § 89 Nr 7). Eine solche Härte ist zu verneinen, auch ohne auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers im einzelnen einzugehen, die vom Tatsachengericht nicht festgestellt worden sind. Es steht aber fest, daß der Kläger neben der Grundrente auch eine Kleiderpauschale für den schädigungsbedingten erhöhten Kleiderverschleiß erhält. Dem Kläger ist zuzumuten, aus diesen Leistungen die Mehrkosten für die Maßanfertigung von Hosen zu tragen, die im Vergleich zu Konfektionshosen mit etwa 100,00 DM bis 200,00 DM zu veranschlagen sind. Ein solcher Betrag kann zwar nicht ohne weiteres als so geringfügig angesehen werden, daß er für eine gesonderte Erstattung im Rahmen der orthopädischen Versorgung ausscheidet, zumal nach der OrthV auch geringerwertige Gegenstände als Hilfsmittel geliefert werden (vgl §§ 7 und 8 OrthV). Dennoch ist die Selbsttragung dieser Kosten noch keine Härte, die den Kläger im Vergleich zu den Beschädigten, die von § 38 OrthV erfaßt werden, “besonders” trifft. Bei diesen Beschädigten kann im Regelfall angenommen werden, daß sie erheblich höhere Mehraufwendungen haben durch die Maßanfertigung einer Jacke oder gar eines ganzen Anzuges, als es beim Kläger der Fall ist. Aber auch bei ihnen hat – worauf die Beigeladene zu Recht hinweist – der Verordnungsgeber in Kauf genommen, daß wegen der Begrenzung durch den jährlichen Höchstbetrag die anfallenden Mehrkosten nicht voll ausgeglichen werden, sondern ein vom Beschädigten zu tragender Eigenanteil verbleibt. Diesen restlichen Mehraufwand aus der Grundrente zu bestreiten, ist den Beschädigten zuzumuten. Die einkommensunabhängige Grundrente wird gerade auch wegen solcher schädigungsbedingter Mehraufwendungen gewährt (BSGE 30, 21, 25 = SozR Nr 39 zu § 30 BVG; BSGE 33, 112, 117 = SozR Nr 43 zu § 62 BVG; SozR 3100 § 30 Nr 13; SozR 3614 § 4 Nr 3). Geringfügige wirtschaftliche Folgen der Schädigung werden bei einer MdE von unter 25 vH überhaupt nicht durch Geldleistungen ausgeglichen (vgl § 31 Abs 1 und 2 BVG). Dann ist es auch gerechtfertigt, gewisse wirtschaftliche Nachteile aus einer gewährten Grundrente finanzieren zu lassen.
Die Kostenentscheidung entspricht § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 955694 |
SozSi 1998, 78 |