Orientierungssatz
Zum Begriff der "groben Nachlässigkeit" iS von SGG § 109 Abs 2.
Normenkette
SGG § 109 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 23. Februar 1965 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin, geboren am 9. November 1901, beantragte im Dezember 1961 Rente wegen Berufsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 4. Juni 1962 ab, sie hielt die Klägerin noch nicht für berufsunfähig. Die Klage blieb ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - Berlin vom 13. Januar 1964). Im Berufungsverfahren zog das Landessozialgericht (LSG) Berlin noch das nervenfachärztliche Gutachten der Frau Dr. B vom 1. Dezember 1964 bei; dieses Gutachten ging der Klägerin nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt "Anfang Dezember 1964" zu. Am 11. Januar 1965 bestimmte das LSG Termin zur mündlichen Verhandlung auf 23. Februar 1965, die Ladung ging der Klägerin am 21. Januar 1965 zu. Am 3. Februar 1965 beantragte die Klägerin nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), ein Gutachten von Obermedizinalrat Dr. S einzuholen. Mit Urteil vom 23. Februar 1965 wies das LSG die Berufung der Klägerin zurück; den Antrag nach § 109 SGG lehnte es ab, weil die Klägerin den Antrag aus grober Nachlässigkeit nicht früher gestellt habe; die Klägerin habe den Antrag umgehend nach Erhalt des Gutachtens von Frau Dr. B, mindestens aber innerhalb eines Monats danach, stellen müssen. Das Urteil wurde der Klägerin am 24. März 1965 zugestellt.
Am 17. April 1965 legte die Klägerin Revision ein mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Berlin zurückzuverweisen.
Innerhalb der verlängerten Revisionsbegründungsfrist trug sie zur Begründung der Revision vor: Das LSG habe gegen § 109 SGG verstoßen, es habe den Begriff der groben Nachlässigkeit verkannt und es auch unterlassen, den Sachverhalt hinreichend aufzuklären; die Klägerin habe das Gutachten von Frau Dr. B durch ihren damaligen Rechtsbeistand Tausch am 16. Dezember 1964 zugleich mit der Mitteilung erhalten, daß der Rechtsbeistand seine Tätigkeit erst nach den Weihnachtsfeiertagen wieder aufnehme und die Klägerin dann bei ihm vorsprechen solle; der Rechtsbeistand sei aber erkrankt und habe seine Tätigkeit erst am 6. Januar 1965 wieder aufgenommen; am gleichen Tage habe die Klägerin ihn aufgesucht, sie sei dabei erstmals auf die Möglichkeit eines Antrags nach § 109 SGG hingewiesen worden mit dem Vorschlag, Obermedizinalrat Dr. S als Gutachter zu benennen; die Klägerin habe noch am 6. Januar 1965 Dr. S aufgesucht, dieser Arzt habe zunächst noch verschiedene ärztliche Befunde einsehen wollen, diese Unterlagen habe ihm die Klägerin spätestens am 8. Januar 1965 zugehen lassen; Dr. S habe dann die Klägerin am 18. Januar 1965 untersucht, aber noch eine EEG-Untersuchung für erforderlich gehalten, diese Untersuchung habe Dr. L am nächsten Tag vorgenommen, seinen Bericht über das Ergebnis habe dieser Arzt am 26. Januar 1965 an Dr. S gesandt; Dr. S habe sich daraufhin am 3. Februar 1965 gegenüber der Klägerin bereit erklärt, als Gutachter tätig zu werden; noch am gleichen Tag sei von der Klägerin der Antrag nach § 109 SGG beim LSG gestellt worden.
Die Beklagte stellte keinen Antrag.
Der Senat zog noch Äußerungen des Obermedizinalrats Dr. S (vom 3. Juli 1965) und des Rechtsbeistands Tausch (vom 5. Oktober 1965) bei; beide Erklärungen wurden den Beteiligten mitgeteilt. Dr. S und Rechtsbeistand T bestätigten im wesentlichen die Darstellung der Klägerin.
II
Die Revision der Klägerin ist statthaft (§§ 162 Abs. 1 Nr. 2, 164 Abs. 2 Satz 2 SGG) und auch zulässig. Die Klägerin rügt mit Recht wesentliche Mängel in dem Verfahren des LSG.
Der vom LSG ermittelte Sachverhalt hat nicht ausgereicht, um festzustellen, die Klägerin habe den Antrag nach § 109 SGG "aus grober Nachlässigkeit" nicht früher gestellt. Grobe Nachlässigkeit ist das Außerachtlassen jeder zur ordnungsgemäßen Prozeßführung erforderlichen Sorgfalt (BSG 2, 261; 7, 221; Urteil des Senats vom 23. Juni 1965 - 11 RA 372/64 -). Ein solches Maß mangelnder Sorgfalt ergibt sich noch nicht aus der Tatsache, daß zwischen der Verfügung des LSG vom 9. Dezember 1964, mit der das Gutachten dem damaligen Prozeßbevollmächtigten der Klägerin übersandt und mitgeteilt worden ist, die Einholung eines weiteren Gutachtens sei nicht beabsichtigt, und der Antragstellung ein Zeitraum von mehr als einem Monat liegt. Das Schreiben vom 9. Dezember 1964 ist nach den Akten des LSG am 10. Dezember 1964 abgesandt und dem Prozeßbevollmächtigten jedenfalls nicht vor 11. Dezember 1964 zugegangen. Ob der Antrag vom 3. Februar 1965, der etwa 7 1/2 Wochen nach dem Eingang des Gutachtens gestellt worden ist, aus grober Nachlässigkeit nicht früher gestellt worden ist, hat das LSG erst beurteilen dürfen, wenn die Gründe für die späte Antragstellung geklärt gewesen sind; nur wenn die Klägerin keine ausreichenden oder gar triftigen Gründe für die Verzögerung des Antrags hätte geltend machen können, hätte das LSG eine grobe Nachlässigkeit bejahen dürfen. Die Klägerin hat, wie dies nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG für die Statthaftigkeit der Revision erforderlich ist, mit der Revisionsbegründung Tatsachen und Beweismittel angegeben, die im vorliegenden Falle eine grobe Nachlässigkeit ausschließen. Der von ihr vorgetragene Sachverhalt, der im wesentlichen durch die vom erkennenden Senat beigezogenen Äußerungen des Obermedizinalrats Dr. S und des Rechtsbeistands Tausch sowie den vorgelegten Befundbericht des Dr. L bestätigt wird und im übrigen glaubhaft erscheint, schließt eine grobe Nachlässigkeit aus, Die Klägerin hat sich alsbald nach Eingang des Gutachtens und schon mehrere Wochen vor Zugang der Ladung um rechtliche und medizinische Beratung bemüht. Da der damalige Prozeßbevollmächtigte am 15. Dezember 1964 sein Büro - zunächst - bis nach Weihnachten geschlossen hat, hat er - was sich die Klägerin gegebenenfalls als eigenes Verschulden anrechnen lassen müßte - nicht jede zur ordnungsgemäßen Prozeßführung gebotene Sorgfalt außer acht gelassen, wenn er die Klägerin zu einer Rücksprache erst nach den Weihnachtsfeiertagen bestellt hat. Daß die Rücksprache wegen der Erkrankung des Rechtsbeistandes dann erst am 6. Januar 1965 stattgefunden hat, ist nicht auf grobe Nachlässigkeit des Rechtsbeistandes oder der Klägerin zurückzuführen; der Klägerin hat nicht zugemutet werden können, allein deshalb, weil diese Besprechung sich verzögert hat, während des noch schwebenden Verfahrens einen anderen Rechtsbeistand, der sich in die Sache erneut hätte einarbeiten müssen, in Anspruch zu nehmen. Nach dieser Besprechung hat die Klägerin ohne schuldhaftes Zögern und erst recht ohne grobe Nachlässigkeit laufend alle weiteren Schritte unternommen, die für den ordnungsgemäßen Fortgang des Verfahrens geboten gewesen sind. Wie der Senat bereits in dem Urteil vom 23. Juni 1965 dargelegt hat, hat der Klägerin vor der Entschließung über einen Antrag nach § 109 SGG auch die Möglichkeit einer ausreichenden ärztlichen Beratung verbleiben müssen; eine solche Beratung hat vorausgesetzt, daß der Arzt, zumal wenn er - wie dies hier offenbar der Fall gewesen ist - die Klägerin vorher nicht behandelt hat, erforderlichenfalls auch noch weitere Untersuchungen hat anstellen können; was insoweit nach Ansicht von Obermedizinalrat Dr. S noch hat geschehen müssen, ist sowohl von Seiten des Arztes als auch von Seiten der Klägerin ohne Verzug geschehen. Daß die Klägerin darauf bedacht gewesen ist, einen Antrag nach § 109 SGG nur dann zu stellen, wenn von dem Gutachten medizinisch erhebliche und bisher möglicherweise nicht hinreichend gewürdigte Ergebnisse zu erwarten gewesen sind, spricht nicht für, sondern gegen eine grobe Nachlässigkeit bei der Prozeßführung der Klägerin, zumal sie damit hat rechnen müssen, daß die Beiziehung des Gutachtens für sie Kosten verursachen werde. Die Klägerin hat nicht schon deshalb, weil Dr. S für eine sachgemäße Beratung noch eine gewisse Vorprüfung für erforderlich gehalten hat, einen anderen Arzt als Gutachter benennen müssen; sie hat den Antrag nach § 109 SGG am gleichen Tage, an dem Dr. S sich ihr gegenüber zur Erstattung eines Gutachtens bereit erklärt hat, gestellt. Es kommt hinzu, daß der Antrag drei Wochen vor dem Termin beim LSG eingegangen ist. Unter den hier gegebenen Umständen kann damit von einem grob nachlässigen prozessualen Verhalten der Klägerin nicht gesprochen werden. Das LSG hat, da es den Antrag ohne weitere Sachaufklärung abgelehnt hat, sowohl gegen § 109 als auch gegen § 103 SGG verstoßen.
Die Revision der Klägerin ist auch begründet; es ist nicht auszuschließen, daß das LSG zu einem anderen Urteil gekommen wäre, wenn es die Gründe für die späte Antragstellung geklärt und dem Antrag stattgegeben hätte. Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben. Das BSG kann in der Sache nicht selbst entscheiden, die Sache ist an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten auch des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen