Orientierungssatz

Der Grundwehrdienst in der Bundeswehr ist kein militärischer oder militärähnlicher Dienst iS der BVG §§ 2 und 3 (RVO § 1252 Nr 2).

 

Normenkette

RVO § 1252 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 21 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1957-02-23; BVG § 2 Fassung: 1964-02-21, § 3 Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 31. Mai 1963 und des Sozialgerichts Lüneburg vom 26. September 1962 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Ehemann und Vater der Klägerinnen, der Angestellte P L (L.), verunglückte als Wehrpflichtiger im Grundwehrdienst der Bundeswehr am 11. November 1960 tödlich. Das Versorgungsamt V stellte fest, daß L. an den Folgen einer Schädigung im Sinne des § 80 des Soldatenversorgungsgesetzes (SVG) gestorben ist, es gewährte den Klägerinnen Witwen- und Waisenrente seit dem 1. Dezember 1960.

Die Klägerinnen begehrten auch Hinterbliebenenrenten aus der Angestelltenversicherung des L.; Beiträge zur Angestelltenversicherung sind für die Zeit vom 1. April 1957 bis zum 31. März 1960 von dem früheren Arbeitgeber des L. und für die Zeit vom 4. April 1960 bis 11. November 1960 von der Standortverwaltung L abgeführt worden.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 10. August 1961 die Gewährung von Witwenrente und Waisenrente ab, weil die Wartezeit von 60 Kalendermonaten nicht erfüllt sei und auch nicht nach § 29 Nr. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - (idF vor dem Rentenversicherungs-Änderungsgesetz - RVÄndG - vom 9. Juni 1965) als erfüllt gelte; die "Wartezeitfiktion" des § 29 Nr. 2 AVG erfasse den Dienst in der Bundeswehr nicht, weil er kein militärischer Dienst im Sinne der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sei.

Das Sozialgericht (SG) Lüneburg hob den Bescheid der Beklagten auf und verurteilte die Beklagte, den Klägerinnen Hinterbliebenenrenten ab 1. November 1960 zu gewähren (Urteil vom 26. September 1962).

Die Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen durch Urteil vom 31. März 1963 mit der Maßgabe zurück, daß die Witwenrente - der Klägerin W. K, die am 29. März 1963 wiedergeheiratet hat - mit Ablauf des Monats März 1963 wegfällt.

Das LSG war ebenso wie das SG der Auffassung, § 29 Nr. 2 AVG idF vor dem RVÄndG erfasse sinngemäß auch den Dienst in der Bundeswehr. Das LSG ließ die Revision zu.

Die Beklagte legte fristgemäß und formgerecht Revision ein; sie beantragte,

die Urteile des SG Lüneburg vom 26. September 1962 und des LSG Niedersachsen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Sie rügte, das LSG habe § 29 Nr. 2 AVG unrichtig angewandt.

Die Klägerinnen beantragten,

die Revision zurückzuweisen.

Mit Schreiben vom 4. August 1965 erkannte die Beklagte auf Grund der Änderung des § 29 Nr. 1 AVG durch das RVÄndG vom 9. Juni 1965 (Art. 1 § 2 Nr. 13) den Anspruch der Klägerin Ute L. auf Waisenrente für die Zeit ab 1. Juli 1965 an.

Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II

Die Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist auch begründet.

Streitig sind Ansprüche der Klägerinnen aus der Angestelltenversicherung ihres am 11. November 1960 verunglückten Ehemannes bzw. Vaters, und zwar der Anspruch der Klägerin W. K. auf Witwenrente bis zu ihrer Wiederverheiratung (März 1963) und der Anspruch der Klägerin U L. auf Waisenrente für die Zeit vor dem 1. Juli 1965.

Da der Versicherte die Wartezeit von 60 Kalendermonaten nicht zurückgelegt hat (§ 40 Abs. 2 AVG), hängt die Entscheidung über die streitigen Ansprüche davon ab, ob die Wartezeit nach § 29 AVG als erfüllt gilt. Nach Nr. 2 dieser Vorschrift, die hier allein in Betracht zu ziehen ist, gilt die Wartezeit als erfüllt, wenn ein Versicherter während oder infolge eines militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 BVG, der auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht ... geleistet worden ist, berufsunfähig geworden oder gestorben ist. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind hier nicht erfüllt. Der Versicherte hat den Grundwehrdienst in der Bundeswehr, bei dem er tödlich verunglückt ist, zwar auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht, nämlich auf Grund des Wehrpflichtgesetzes vom 21. Juli 1956 geleistet, dieser Dienst ist aber kein militärischer oder militärähnlicher Dienst im Sinne der §§ 2 und 3 BVG. Der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat in seinem Urteil vom 29. April 1964 (BSG 21, 68) bereits entschieden, daß die Vorschrift des § 1252 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO), die dem § 29 Nr. 2 AVG entspricht, den Dienst in der Bundeswehr nicht erfaßt. Er hat ausgeführt, das BVG erfasse nur Tatbestände, die beim Erlaß des Gesetzes abgeschlossen gewesen seien oder deren Ursprung - wie bei der Kriegsgefangenschaft - in der Vergangenheit gelegen habe; Dienstverrichtungen in der späteren Bundeswehr hätten außerhalb der Vorstellungswelt des Gesetzgebers, der im Jahre 1950 das BVG erlassen hat, gelegen; auch die Änderungen des BVG, die nach der Schaffung der Bundeswehr ergangen seien, ließen nicht erkennen, daß das BVG den Ausgleich von Schäden, die auf den Dienst in der Bundeswehr zurückgehen, regeln solle; die Versorgungsregelung für die Soldaten der Bundeswehr sei in einem - späteren - besonderen Gesetz, dem Soldatenversorgungsgesetz, enthalten; nach diesem Gesetz werde Versorgung gewährt "in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit in diesem Gesetz - dem SVG - nichts anderes bestimmt ist" (§ 80 SVG); wenn aber der Wehrdienst in der Bundeswehr nicht von dem BVG erfaßt werde, so falle er auch nicht unter § 1252 Nr. 2 RVO (§ 29 Nr. 2 AVG), weil diese Vorschrift nur auf das BVG, nicht aber auf die Versorgungsregelung für die Bundeswehr verweise; dem Gesetz sei nicht zu entnehmen, daß die durch § 1252 Nr. 2 RVO (§ 29 Nr. 2 AVG) angeführte rentenversicherungsrechtliche Vergünstigung der alten Soldaten auch für die Soldaten der Bundeswehr gelte.

Der 4. Senat hat auch geprüft, ob es auf einem Versehen des Gesetzgebers der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze beruhe, daß die während oder infolge einer Wehrdienstleistung in der Bundeswehr eingetretene Berufsunfähigkeit (oder der Tod) nicht in die Fiktion der Wartezeiterfüllung nach § 1252 Nr. 2 RVO (§ 29 Nr. 2 AVG) einbezogen sei, und ob deshalb insoweit eine Gesetzeslücke vorliege, die vom Richter auszufüllen sei; er ist zu der Auffassung gelangt, es sei nicht anzunehmen, daß das Gesetz nur aus Versehen, nicht aber bewußt, davon abgesehen habe, den Dienst in der Bundeswehr in die Vergünstigung des § 1252 Nr. 2 RVO (§ 29 Nr. 2 AVG) einzubeziehen; es sei daher insoweit weder eine analoge Anwendung des § 1252 Nr. 2 RVO (§ 29 Nr. 2 AVG) noch eine Fortbildung des Rechts durch abändernde Rechtsfindung zulässig.

Der erkennende Senat schließt sich nach erneuter Prüfung der Rechtslage unter Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerinnen der Rechtsauffassung des 4. Senats an.

Daß die Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze insoweit, als sie in § 1252 Nr. 2 (§ 29 Nr. 2 AVG) die Vergünstigung (Wartezeitfiktion) nicht auch auf die Soldaten der Bundeswehr ausdehnen, keine "unbeabsichtigte und der Ausfüllung fähige Lücke" gelassen haben, ist auch dem RVÄndG vom 9. Juni 1965 zu entnehmen. Auch nach diesem Gesetz ist der Dienst in der Bundeswehr kein militärischer Dienst im Sinne des BVG; es sind zwar die Vorschriften der §§ 1252 Nr. 1 RVO und 29 Nr. 1 AVG über die fiktive Erfüllung der Wartezeit durch Art. 1 § 1 Nr. 16 und Art. 1 § 2 Nr. 13 RVÄndG über den Fall des Arbeitsunfalls hinaus auch auf die Fälle ausgedehnt worden, in denen infolge einer Wehrdienstbeschädigung in der Bundeswehr oder infolge einer Ersatzdienstbeschädigung eine vorzeitige Erwerbsminderung bzw. der Tod eingetreten ist; diese Ergänzung gilt aber nicht - wie es bei einigen anderen Vorschriften des RVÄndG ausdrücklich bestimmt ist (vgl. Art. 5 § 10 Abs. 1 Buchst. a RVÄndG) - rückwirkend vom 1. Januar 1957 an (dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze), sie gilt vielmehr erst mit Wirkung vom 1. Juli 1965 (vgl. Art. 5 § 10 Abs. 1 Buchst. e RVÄndG); nur insoweit bezieht sie sich auf Versicherungsfälle, die vor dem 1. Juli 1965, aber nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten sind (vgl. Art. 5 § 4 Abs. 2 Buchst. a u. b RVÄndG). Wird hiernach - wie es hier der Fall ist - durch das RVÄndG der Anspruch auf eine Leistung erst begründet, so ist diese Leistung frühestens vom 1. Juli 1965 an zu gewähren (Art. 5 § 6 RVÄndG). Der Gesetzgeber selbst hat entschieden, von welchem Zeitpunkt an Soldaten der Bundeswehr oder ihre Hinterbliebenen unter den erleichterten Voraussetzungen der Wartezeiterfüllung einen Rentenanspruch aus der Rentenversicherung haben; seine Regelung hält sich im Rahmen der ihm zustehenden Gestaltungsfreiheit und läßt keine willkürliche Differenzierung erkennen; sie läßt es nicht zu, daß die Wehrdienstbeschädigung nach §§ 80, 81 SVG für die Wartezeiterfüllung schon für die Zeit vor dem Inkrafttreten der Ergänzungsvorschrift des Art. 1 § 2 Nr. 13 einem Arbeitsunfall im Sinne des § 29 Nr. 1 AVG gleichgestellt wird.

Wenn der Gesetzgeber im Zuge einer allgemeinen "Überholung" des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung nunmehr mit der Einbeziehung der Wehrdienstbeschädigung nach §§ 80, 81 SVG und der Ersatzdienstbeschädigung in die "Wartezeitfiktion" eine ihm zweckmäßiger und gerechter erscheinende Lösung gewählt hat, so ergibt sich daraus nicht, daß die frühere Regelung grundgesetzwidrig gewesen ist; es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, den Zeitpunkt für die Beseitigung von Härten durch Erleichterungen in den Anspruchsvoraussetzungen oder durch Leistungsverbesserungen zu bestimmen. Es ist auch mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -) vereinbar, daß der Gesetzgeber in der Sozialversicherung neu eingeführte Erleichterungen von Anspruchsvoraussetzungen oder Leistungsverbesserungen nicht auch für die Vergangenheit wirksam werden läßt; die Festlegung eines Stichtages für die von den Leistungsverbesserungen erfaßten Tatbestände ist sachgerecht und entspricht in der Regel dem Sinn und Zweck einer solchen Neuregelung (vgl. u. a. BSG 11, 278, 287; 14, 95; 15, 46, 51).

Die streitigen Ansprüche, mit denen die Klägerinnen Renten für die Zeit vor dem 1. Juli 1965 geltend machen, sind somit nicht berechtigt. Die Revision der Beklagten ist begründet.

Da das LSG und das SG von einer unrichtigen Rechtsauffassung ausgegangen sind, sind diese Urteile aufzuheben; die Klage ist abzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324542

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