Entscheidungsstichwort (Thema)
Dienstunfall bei der Bundeswehr
Leitsatz (redaktionell)
Hätte der Gesetzgeber den Dienst in der Bundeswehr entgegen der Entscheidung des BSG vom 1964-04-29 4 RJ 179/61 = BSGE 21, 68 als militärischen Dienst iS des VG § 2 angesehen, so hätte er dies durch eine klarstellende Neufassung des RVO § 1252 Nr 2 zum Ausdruck gebracht.
Normenkette
RVO § 1252 Nr. 2 Fassung: 1957-02-23; BVG § 2 Abs. 1 Buchst. a Fassung: 1950-12-20
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 4. April 1963 und das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 23. März 1964 werden aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der im Jahre 1941 geborene Kläger war 45 Monate als Schlosser versicherungspflichtig beschäftigt gewesen, bevor er im Januar 1960 zur Bundeswehr kam; er hatte sich verpflichtet, freiwillig 4 Jahre zu dienen. Im April 1960 verlor er infolge eines Dienstunfalls das rechte Bein. Er wurde deswegen aus der Bundeswehr entlassen und von Oktober 1960 bis Juli 1962 in einer Versehrtenfachschule zum Maschinenbautechniker umgeschult. Wegen seiner Wehrdienstbeschädigung bezieht der Kläger eine Rente nach den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 70 v. H.
Den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Versichertenrente lehnte die beklagte Landesversicherungsanstalt durch Bescheid vom 28. November 1960 ab, weil er die Wartezeit von 60 Kalendermonaten nicht erfüllt habe, vielmehr für ihn - einschließlich der Beiträge, welche die Bundeswehr für die Zeit von Januar bis Juni 1960 nachentrichtet hat - Beiträge nur für 49 Monate erbracht seien.
Die hiergegen erhobene Klage hat der Kläger damit begründet, daß die Wartezeit entweder nach § 1252 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (Berufsunfähigkeit infolge eines Arbeitsunfalls) oder nach Nr. 2 dieser Vorschrift (Berufsunfähigkeit infolge militärischen Dienstes) als erfüllt zu gelten habe. Er hat beantragt, den Ablehnungsbescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Zeit vom 24. Oktober 1960 bis 21. Juli 1962 (Ende der Umschulung) zu gewähren.
Das Sozialgericht (SG) Koblenz hat der Klage durch Urteil vom 4. April 1963 stattgegeben. Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg gehabt. Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat in seinem Urteil vom 23. März 1964 die Wartezeit - ebenso wie das SG - nach Nr. 2 des § 1252 RVO als erfüllt angesehen. Es hat den Dienst in der Bundeswehr dem Begriff des militärischen Dienstes i. S. des § 2 BVG untergeordnet, weil das Soldatenversorgungsgesetz (SVG) bestimme, daß eine Schädigung eines Angehörigen der Bundeswehr eine Schädigung im Sinne des BVG sei. Es könne also - so führt das LSG weiter aus - nur noch fraglich sein, ob der Kläger den unfallbringenden Dienst in der Bundeswehr "auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht" geleistet habe. Diese Frage sei zu bejahen, obwohl der Kläger sich freiwillig zu einer Dienstleistung auf Zeit verpflichtet habe. Nach § 4 des Wehrpflichtgesetzes vom 28. November 1960 hätten nämlich die auf Grund einer freiwilligen Verpflichtung Dienenden die Rechtsstellung eines Soldaten, der auf Grund der Wehrpflicht Wehrdienst leiste. Im übrigen sei der Kläger nach der gegebenen Sachlage auch deshalb einem Wehrpflichtigen gleichzustellen, weil der Unfall sich in den ersten vier Monaten seiner Zugehörigkeit zur Wehrmacht ereignet habe, also zu einer Zeit, während der erfahrungsgemäß freiwillig Dienende in gleicher Weise wie Wehrpflichtige Grundwehrdienst leisteten.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und zu deren Begründung auf das Urteil des erkennenden Senats vom 29. April 1964 (BSG 21, 68) hingewiesen.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er bezieht sich auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils und führt weiter aus: Seine Auffassung, daß der Gesetzgeber den Dienst in der Bundeswehr ursprünglich übersehen habe, daß man diesen Dienst aber im Wege der Lückenausfüllung dem § 1252 RVO schon in seiner bisherigen Fassung unterordnen müsse, finde in der - allerdings immer noch unzulänglichen - Neufassung dieser Vorschrift durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 eine Bestätigung, wenn auch der umstrittene Tatbestand nicht in Nr. 2, sondern in Nr. 1 des § 1252 RVO aufgenommen worden sei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt. Der Senat hat von dieser Befugnis (§§ 165, 153, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) Gebrauch gemacht.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Der Streitfall ist nach dem vor dem RVÄndG geltenden Recht zu beurteilen. Die Neufassung des § 1252 RVO gilt allerdings auch für Versicherungsfälle, die vor dem 1. Juli 1965, aber nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten sind (Art. 5 § 4 Abs. 2 Buchst. a RVÄndG), demnach auch für den vorliegenden - im Jahre 1960 eingetretenen - Versicherungsfall; jedoch kann, wenn ein Anspruch auf eine Leistung erst durch das RVÄndG begründet wird, diese Leistung - mit einer hier nicht in Betracht kommenden Ausnahme - frühestens vom 1. Juli 1965 an beansprucht werden (Art. 5 § 6 Satz 1 und 3 RVÄndG). Da der Kläger Rente nur für die Zeit vor 1965 verlangt, bietet die Neufassung des Gesetzes der Klage keine Stütze.
Nach § 1252 RVO aF gilt, sofern eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten - wie im Falle des Klägers - nicht erreicht ist, die Wartezeit ua als erfüllt, wenn der Versicherte
1. infolge eines Arbeitsunfalls oder
2. während oder infolge eines militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 BVG, der auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht ... geleistet worden ist,
berufsunfähig geworden oder gestorben ist.
Das LSG hat mit Recht die Anwendbarkeit der vorstehenden Nr. 1 auf den vorliegenden Sachverhalt verneint. Dem Kläger ist zwar ein Unfall zugestoßen, aber kein "Arbeitsunfall". Der Begriff des Arbeitsunfalls ist in § 1252 Nr. 1 RVO genauso zu verstehen wie im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG 7, 159); er umfaßt nur solche Unfälle, die ein Versicherter bei den der gesetzlichen Unfallversicherung unterliegenden Tätigkeiten erleidet. Als Soldat der Bundeswehr mit Anspruch auf Versorgung nach dem SVG i. V. m. dem BVG war der Kläger versicherungsfrei in der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 541 Nr. 2 idF vor dem Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 30. April 1963); sein Dienstunfall vom April 1960 war demnach kein bei einer versicherten Tätigkeit erlittener Unfall und somit auch kein Arbeitsunfall. Gegen diese Rechtsauffassung hat der Kläger im Revisionsverfahren auch keine Bedenken mehr erhoben.
Unter Nr. 2 des § 1252 RVO aF läßt sich der Dienst in der Bundeswehr, bei dem der Kläger verunglückt ist, ebenfalls nicht einordnen; er ist kein militärischer oder militärähnlicher Dienst i. S. der §§ 2 und 3 BVG. Dies hat - im Gegensatz zur Rechtsauffassung des Berufungsgerichts - sowohl der erkennende Senat in dem bereits erwähnten, in BSG 21, 68 veröffentlichten Urteil als auch der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in einem - nicht veröffentlichten - Urteil vom 19. Januar 1966 - 11/1 RA 196/63 - entschieden. Das im Jahre 1950 erlassene BVG erfaßt als Teil des sog. Kriegsfolgenrechts nur abgeschlossene oder wenigstens ihrem Ursprung nach in der Vergangenheit liegende Tatbestände; Dienstverrichtungen in der - späteren - Bundeswehr hat der Gesetzgeber des Jahres 1950 in seine Vorstellung von der Tragweite der von ihm getroffenen Regelung nicht einbezogen. Auch Änderungen des BVG nach der Schaffung der Bundeswehr lassen nicht erkennen, daß der Ausgleich von Schädigungen im Dienst der Bundeswehr als im BVG geregelt gelten soll. Im Gegenteil, § 80 SVG billigt einem Soldaten der Bundeswehr, der eine Wehrdienstbeschädigung erleidet, Versorgung zu "in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes". Die Auffassung des Klägers, es beruhe auf einem Versehen des Gesetzgebers des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes, daß er in die Nr. 2 des § 1252 RVO im Jahre 1957 den Dienst in der Bundeswehr nicht ausdrücklich einbezogen habe, und es liege deshalb eine vom Richter auszufüllende Gesetzeslücke vor, fand schon in der bisherigen Fassung des Gesetzes keine hinreichende Stütze; die Neufassung der Vorschrift durch das RVÄndG entzieht dieser Annahme vollends den Boden. Nach ihr gilt die Wartezeit auch dann als erfüllt, wenn der Versicherte "als Wehrdienstleistender nach § 4 Abs. 1 des Wehrpflichtgesetzes oder als Soldat auf Zeit infolge einer Wehrdienstbeschädigung (§§ 81, 81 a SVG) oder als Ersatzdienstleistender ..." berufsunfähig geworden oder gestorben ist. Daß es sich hierbei nicht etwa um eine Klarstellung des früheren Rechtszustandes, sondern um eine Rechtsänderung zugunsten von Versicherten mit kurzen Versicherungszeiten handelt, läßt schon die Begründung zum RVÄndG erkennen; denn nach ihr soll "die Wartezeiterfüllung auf die Fälle ausgedehnt werden, in denen infolge einer Wehrdienst- oder Ersatzdienstbeschädigung eine vorzeitige Erwerbsminderung bzw. der Tod eingetreten ist" (BT-Drucks. IV/2572 S. 25 zu Art. 1 § 1 Nr. 9). Für die Auffassung des Senats spricht vor allem aber die Einordnung der Dienstbeschädigung im Bundeswehrdienst in die Nr. 1 - nicht Nr. 2 - des § 1252 RVO. Hätte der Gesetzgeber den Dienst in der Bundeswehr entgegen der Entscheidung in BSG 21, 68 als militärischen Dienst i. S. des § 2 BVG angesehen, so hätte er dies durch eine klarstellende Neufassung der Nr. 2 des § 1252 RVO zum Ausdruck gebracht.
Hat der Kläger somit die Wartezeit nicht mit der erforderlichen Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten erfüllt und gilt sie auch nicht nach § 1252 RVO als erfüllt, so besteht kein Anspruch auf eine Versichertenrente.
Die auf einer unrichtigen Rechtsauffassung beruhenden Urteile der Vorinstanzen müssen aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Fundstellen