Entscheidungsstichwort (Thema)

Notwendige Beiladung des Abzweigungsbegünstigten

 

Orientierungssatz

Der durch die Abzweigungsverfügung begünstigte Dritte, an den eine der Sicherung des Lebensunterhalts dienende Geldleistung in angemessener Höhe ausgezahlt wird, ist zu dem Verfahren, in dem sich der Sozialleistungsberechtigte gegen die Auszahlung an den Dritten wehrt, notwendig beizuladen.

 

Normenkette

SGG § 75 Abs 2; SGB 1 § 48 Abs 1

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 25.04.1985; Aktenzeichen L 3 Ar 123/84)

SG Itzehoe (Entscheidung vom 01.10.1984; Aktenzeichen S 2 Ar 38/84)

 

Tatbestand

Der Rechtsstreit betrifft die Auszahlung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) an Dritte (Abzweigung).

Die Beklagte gewährte dem Kläger nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) Alhi in Höhe von 208,20 DM wöchentlich, von der sie ab 23. September 1983 nach Anhörung des Klägers 55,26 DM wöchentlich an das Amt Kirchspiellandgemeinde H auszahlte, das die getrenntlebende Ehefrau des Klägers und dessen minderjährige Kinder aus Mitteln der Sozialhilfe unterstützte. Den gegen die Auszahlung der Alhi an das Amt gerichteten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte zurück (Bescheid vom 13. Januar 1984, Widerspruchsbescheid vom 7. März 1984). Während des Rechtsstreits änderte die Beklagte den Auszahlungsbetrag, nämlich ab 2. April 1984 in 21,72 DM wöchentlich (Bescheid vom 6. April 1984), ab 7. Juni 1984 bei gleichzeitiger Erhöhung der Alhi auf 218,40 DM wöchentlich in 28,68 DM (Bescheid vom 22. Juni 1984), ab 19. Oktober 1984 in 28,02 DM (Bescheid vom 22. Oktober 1984) und ab 1. Dezember 1984 bei gleichzeitiger Herabsetzung der Alhi auf 195,-- DM wöchentlich auf 4,62 DM wöchentlich (Bescheid vom 30. Januar 1985 idF des Widerspruchsbescheides vom 13. März 1985). Seit dem 1. Januar 1985 findet eine Abzweigung nicht mehr statt.

Das Sozialgericht (SG) hat die Bescheide vom 13. Januar und 7. März 1984 aufgehoben (Urteil vom 1. Oktober 1984). Die vom SG zugelassene Berufung der Beklagten hat das LSG zurückgewiesen und ferner die Bescheide vom 6. April, 22. Juni, 22. Oktober 1984, 30. Januar und 13. März 1985 insoweit aufgehoben, als die Beklagte darin die Abzweigung angeordnet hat (Urteil vom 25. April 1985). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, eine Auszahlung der Alhi an die Stelle, die dem Ehegatten und den Kindern Unterhalt gewähre, setze nach § 48 Abs 1 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB 1) voraus, daß der Kläger einer seiner Ehefrau und seinen Kindern gegenüber bestehenden Unterhaltspflicht nicht nachkomme. Das sei hier nicht der Fall, weil der Kläger weniger als das habe, was ihm nach bürgerlichem Recht zum eigenen notwendigen Unterhalt verbleiben müsse. Die Beklagte greife hierzu auf die sogenannte Düsseldorfer Tabelle zurück, die für 1984 monatlich 825,-- DM und für 1985 monatlich 910,-- DM als Selbstbehalt zubillige, doch sei das Zurückgreifen auf diese Tabelle weder zwingend noch mit Rücksicht auf die erforderliche Gleichbehandlung geboten. Regionale Besonderheiten dürften nicht außer Betracht bleiben, denen die modifizierten Tabellen der einzelnen Oberlandesgerichte Rechnung trügen, so daß in deren Anwendung nicht von vornherein ein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot gesehen werden könne. Regionale Tabellen verdienten vor allem deswegen Beachtung, weil sie im Falle eines Unterhaltsrechtsstreits zugrunde gelegt würden, wozu das LSG nähere Ausführungen gemacht hat. Für den im Bezirk des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts wohnhaften Kläger seien daher die Tabellenwerte zugrunde zu legen, die dieses Gericht festgesetzt habe, dh für 1984 der Mindestselbstbehalt von 950,-- DM monatlich und für 1985 1.000,-- DM monatlich. Die Bezüge des Klägers aus der Alhi seit Beginn der Abzweigung erreichten diese Freibeträge nicht, so daß der Kläger nicht zu Unterhaltsleistungen verpflichtet gewesen sei.

Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 48 Abs 1 SGB 1 und § 75 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Abgesehen davon, daß die notwendige Beiladung des Amtes Kirchspielslandgemeinde H unterblieben sei, seien die Arbeitsämter berechtigt, bei der Ermittlung des unterhaltsrechtlichen Selbstbehalts des Leistungsempfängers von den Werten der Düsseldorfer Tabelle auszugehen. Regionale Besonderheiten seien nicht zu berücksichtigen. Die Abzweigung führe zu einer materiell-rechtlichen Änderung der Sozialleistung. Für bürgerlich-rechtliche Vorfragen müßten bei regional unterschiedlicher Rechtsprechung deshalb entweder eigene Maßstäbe entwickelt oder die Vorfrage anhand der am weitest verbreiteten Rechtsmeinung beantwortet werden. Die Anwendung der Düsseldorfer Tabelle sei geboten, um der Tendenz zu einer Vereinheitlichung der Unterhaltspraxis nicht entgegenzuwirken. Diese Tabelle habe zudem den Vorteil, daß sie sich in besonderer Weise für die summarische Unterhaltsfeststellung eigne, ohne die das gesetzgeberische Ziel des § 48 SGB 1 nicht zu erreichen sei. Wären regionale Besonderheiten im Einzelfalle zu berücksichtigen, müßte jedes Arbeitsamt die Abzweigungen anhand der Tabelle "seines" Oberlandesgerichts durchführen. Das sei nicht vertretbar. Der Grundsatz der Gleichbehandlung erfordere ein gleiches Vorgehen aller Arbeitsämter.

Die Beklagte beantragt,

die ergangenen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er nimmt auf das angefochtene Urteil Bezug und weist ergänzend darauf hin, daß es der Gerechtigkeit nicht diene, ausschließlich auf Verwaltungspraktikabilität abzustellen, wie dies die Beklagte ausweislich ihrer Revisionsbegründung tue. Der Beklagten entstehe nur ein geringerer Mehraufwand, wenn die Arbeitsämter die unterschiedlich hohen Selbstbehaltssätze zugrunde legten, die die verschiedenen Oberlandesgerichte entwickelt hätten.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG, ohne daß der Senat letztlich zur Sachentscheidung Stellung zu nehmen vermag.

Bei einer zulässigen Revision sind, bevor sachlich-rechtlich über den streitigen Anspruch entschieden werden kann, die Voraussetzungen zu prüfen, von denen die Rechtswirksamkeit des Verfahrens als Ganzes abhängt. Mängel, die zur Unwirksamkeit des Urteils führen, hat das Revisionsgericht von Amts wegen zu berücksichtigen. Zu diesen Mängeln zählt nach inzwischen ständiger Rechtsprechung die Unterlassung einer (echten) notwendigen Beiladung (vgl für viele BSG SozR 1500 § 75 Nr 1 mwN). Ein solcher Mangel liegt hier vor. Die Vorinstanzen haben übersehen, daß zu dem Rechtsstreit das Amt, an das aufgrund der mit der Klage angefochtenen Auszahlungsverfügungen Teile der Alhi des Klägers auszuzahlen sind, notwendig beizuladen ist.

Nach § 75 Abs 2 SGG sind Dritte beizuladen, wenn sie an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, daß die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Eine Beiladung ist in diesem Sinne notwendig, wenn die in dem Rechtsstreit mögliche Entscheidung zugleich in die Rechtssphäre eines Dritten unmittelbar eingreift, also durch Stattgabe der Klage oder durch deren Abweisung unmittelbar Rechte oder Rechtsbeziehungen des Dritten gestaltet, bestätigt oder verändert werden (vgl BSGE 11, 262, 265 = SozR Nr 17 zu § 75 SGG; BSGE 46, 232, 233; BSG SozR 1500 § 75 Nr 34). Das ist hier der Fall. Mit seiner Klage erstrebt der Kläger die Aufhebung der Verwaltungsakte, durch die die Beklagte Alhi an das Amt "abgezweigt" hat. Die Abzweigung, dh die Verfügung, eine Sozialleistung nicht an den Sozialleistungsberechtigten, sondern an den Ehegatten, Kinder oder andere Personen oder Stellen auszuzahlen, die dem Ehegatten oder den Kindern Unterhalt gewähren, ändert zwar nichts an der Anspruchsberechtigung des Sozialleistungsberechtigten (BSGE 49, 243, 246 = SozR 2200 § 205 Nr 32); jedoch verfügt der Sozialleistungsträger mit der Abzweigung anstelle des Sozialleistungsberechtigten (BSG SozR 1200 § 48 Nr 4), in dem er die Auszahlung der Leistung dem Dritten zuwendet (vgl Loytved SGb 1984, 510, 511). In dem gleichen Umfange, in dem die Sozialleistung infolge der Abzweigungsverfügung nicht mehr an den Sozialleistungsberechtigten auszuzahlen ist, erwirbt der Dritte das Recht auf Auszahlung der Sozialleistung (Auszahlungs- oder Bezugsberechtigung, vgl BSGE 20, 91, 92). Adressat des die Abzweigung anordnenden Verwaltungsaktes ist daher nicht nur der Sozialleistungsberechtigte, in dessen Rechtskreis die Abzweigung eingreift, sondern auch der begünstigte Dritte, an den die Leistung ausgezahlt werden soll (Schellhorn in Burdenski ua, Gemeinschaftskommentar zum SGB AT, 2. Aufl 1981, § 48 Rdz 25; Heinze in Bochumer Kommentar zum SGB AT, § 48 Rdz 16). Dies hat zwingend zur Folge, daß das Gericht unmittelbar Rechtsbeziehungen des Abzweigungsbegünstigten, nämlich den Auszahlungsanspruch bestätigt, wenn es die Klage des Sozialleistungsberechtigten gegen die Abzweigung abweist, und solche verändert, wenn es der Klage des Sozialleistungsberechtigten stattgibt und eine Abzweigungsverfügung aufhebt. Der durch die Abzweigungsverfügung begünstigte Dritte, an den eine der Sicherung des Lebensunterhalts dienende Geldleistung in angemessener Höhe ausgezahlt wird, ist daher zu dem Verfahren, in dem sich der Sozialleistungsberechtigte gegen die Auszahlung an den Dritten wehrt, notwendig beizuladen (Kocher in Jahn, SGB für die Praxis, Stand August 1985, § 48 SGB 1 Rdz 20; Loytved SGb 1984, 510, 513; vgl Grüner ua, Kommentar zum SGB, Stand November 1985, § 48 SGB 1 Anm 3).

Entgegen der Ansicht des Klägers ist es dem Senat verwehrt, die unterlassene Beiladung nach § 75 Abs 2 SGG nachzuholen. Beiladungen sind im Revisionsverfahren grundsätzlich unzulässig; das gilt lediglich für die in § 75 Abs 1 Satz 2 SGG vorgesehene Beiladung der Bundesrepublik Deutschland in Angelegenheiten der (von der Bundesrepublik zu tragenden) Kriegsopferversorgung nicht (§ 168 SGG). Ein solcher Ausnahmefall ist hier indes nicht gegeben. Der Verfahrensmangel führt daher ohne weiteres zur Zurückverweisung der Sache an das LSG, damit dieses die Beiladung nachholen kann.

Mangels Beteiligung aller vom Verfahren Betroffenen ist es dem Senat verwehrt, abschließend zur materiell-rechtlichen Seite Stellung zu nehmen. Das LSG wird indes darauf hingewiesen, daß der Senat in dem zur Veröffentlichung vorgesehenen Urteil vom 23. Oktober 1985 - 7 RAr 32/84 - an seiner bisherigen Rechtsprechung (BSGE 57, 59 = SozR 1200 § 48 Nr 8) festgehalten hat, derzufolge der Sozialleistungsträger grundsätzlich nicht verpflichtet ist, bei der Abzweigungsentscheidung zur Deckung des eigenen Bedarfs des Sozialleistungsberechtigten den Betrag zugrunde zu legen, den im Unterhaltsrechtsstreit das zuständige Zivilgericht anwenden würde, es im Regelfalle vielmehr genügt, wenn der zugrunde gelegte schematisierte Wert geeignet ist. Abschließend wird die Beklagte darauf aufmerksam gemacht, daß die Abzweigung bis zum 1. April 1984 im Ansatz (vgl Widerspruchsbescheid vom 7. März 1984) und rechnerisch und die weiteren Abzweigungen bis zum 18. Oktober 1984 rechnerisch den Selbstbehalt von 825,-- DM, den die Beklagte dem Kläger einzuräumen bereit ist, dem Kläger nicht belassen haben dürften.

Das LSG wird bei seiner erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661906

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