Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes. Überschreiten der Grenzen der freien Beweiswürdigung. Feststellung weiterer Gesundheitsstörungen

 

Orientierungssatz

Zur Verletzung der Amtsermittlungsgrundsatzes gem § 103 SGG und zum Überschreiten der Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung gem § 128 SGG durch das LSG hinsichtlich der Feststellung weiterer Gesundheitsstörungen beim Versicherten.

 

Normenkette

SGG §§ 103, 128

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 08.01.1957)

SG Karlsruhe (Urteil vom 08.11.1954)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. Januar 1957 wird aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger leistete von 1942 bis 1945 Wehrdienst; im Jahre 1942 erkrankte er an Ruhr; im Januar 1944 erlitt er eine Granatsplitterverletzung am Hinterkopf und am rechten Unterschenkel sowie Erfrierungen an beiden Füßen, die eine teilweise Amputation der Zehen zur Folge hatten; im August 1944 erkrankte er an Gelbsucht; nach seiner Entlassung aus dem Wehrdienst erlitt er am 19. Februar 1945 bei einem Luftangriff eine Gehirnerschütterung. Am 2. November 1945 beantragte er Versorgung wegen "Amputation beider Vorderfüße, Granatsplitterverletzung linker Unterschenkel, Kopfverletzung, chron. Magen- und Darmleiden". Aufgrund eines versorgungsärztlichen Kurzzeugnisses vom 1. März 1946 erkannte das Versorgungsamt (VersorgA.) Karlsruhe durch vorläufigen Bescheid vom 12. April 1946 "Verlust der 1. und 2. Zehe rechts, Teilverlust der 3., 4. und 5. Zehe rechts, der 1., 2., 4. und 5. Zehe links, Narben am linken Unterschenkel und am Hinterkopf" als Folgen des Wehrdienstes an, erklärte aber, daß dem Kläger nach den damals maßgebenden Anordnungen der Militärregierung eine Rente nicht zustehe. Wegen der gleichen Körperschäden gewährte die Landesversicherungsanstalt (LVA.) Baden durch Bescheid vom 16. Juni 1948 ab 1. Februar 1947 eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 30 v.H. gemäß dem württembergbadischen Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte vom 18. Juni 1947, ohne daß der Kläger vorher nochmals ärztlich untersucht worden wäre. Am 30. Juli 1949 bescheinigte Frau Dr. ... daß der Kläger "seit 2 Jahren fast ununterbrochen in ärztlicher Behandlung wegen Durchblutungsstörungen der Beine nach Erfrierung der Füße, trophischen Störungen der Füße, Kopfschmerzen und Schwindelanfällen" sei; die Beschwerden seien "Folgen der Kriegsverletzungen". Im August 1949 wurde der Kläger im Krankenhaus der LVA. Baden in Wiesloch chirurgisch, internistisch und neurologisch begutachtet; dabei gab er an, er habe nach Abheilung der Wunden an den Füßen weiterhin stets das Gefühl gehabt als ob ihm die Beine abstürben; dasselbe pelzige Gefühl habe sich dann auch im linken Arm eingestellt, seit Anfang 1947 habe er es auch in der rechten Hand bemerkte. Die Untersuchung ergab neben anderen Leiden das Vorliegen von Durchblutungsstörungen in Beinen und Armen im Sinne der Bürger'schen Krankheit. Durch Bescheid vom 17. Oktober 1949 erkannte die LVA. Baden zusätzlich "erhebliche Durchblutungsstörungen an beiden Beinen, Säuremangel des Magens und Leberfunktionsstörung "als Leistungsgrund an und gewährte dem Kläger ab 1. Januar 1948 Rente nach einer MdE. von 50 v.H. Durch Bescheid vom 7. August 1950 erhöhte die LVA. die Rente ab 1. April 1950 entsprechend einer MdE. von 70 v.H. Vom 1. Oktober 1950 an gewährte das VersorgA. Karlsruhe mit Bescheid vom 22. August 1951 auch nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) Rente nach demselben Grad der MdE.

Einen im Juni 1951 gestellten Erhöhungsantrag lehnte das VersorgA. durch Bescheid vom 26. Oktober 1951 ab, nachdem der Kläger in der Chirurgischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses Pforzheim im Oktober 1951 erneut begutachtet worden war. Die Berufung an das Oberversicherungsamt Karlsruhe ging am 1. Januar 1954 als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Karlsruhe über. Der Facharzt für innere Krankheiten Dr. ... führte in seinem Gutachten vom 4. März 1952 u.a. aus, es habe sich elektrokardiographisch eine mäßige Schädigung der Herzmuskulatur gefunden, die wahrscheinlich durch ein beginnendes Übergreifen des Gefäßleidens auf die Herzkranzgefäße bewirkt sei. Am 1. August 1952 wurde der Kläger durch Dr. ... und Dr. ... untersucht. Die Gutachter vertraten die Ansicht, daß die Gefäßspasmen in den Armen, im Herzen und im Gehirn keine Folge der Erfrierung während des Krieges seien. Auf Vorschlag des beratenden Arztes des OVA. wurde der Kläger im November 1952 in der L.-K.-Klinik in Heidelberg medizinisch und neurologisch nochmals begutachtet. Zur Vorgeschichte gab der Kläger bei der internistischen Untersuchung u.a. an, er habe seit etwa 1944 (bei der neurologischen Untersuchung: seit 1945) ein taubes Gefühl und Kribbeln in den Armen sowie Herzbeschwerden. In dem Gutachten der Medizinischen Abteilung der L.-K.-Klinik heißt es, die Durchblutungsstörungen der Arme und des Herzens seien keine Schädigungsfolge, denn sie seien erst 5 bzw. 7 Jahre nach der Entlassung aus dem Wehrdienst aufgetreten.

Das SG. wies die Klage durch Urteil vom 8. November 1954 ab. Mit der Berufung begehrte der Kläger weiterhin die Anerkennung von Durchblutungsstörungen der Arme und des Herzens als Schädigungsfolge. Das Landessozialgericht (LSG.) Baden-Württemberg wies durch Urteil vom 8. Januar 1957 die Berufung zurück: Nach dem überzeugenden Gutachten der Medizinischen Abteilung der L.-K.-Klinik sei die Bürger'sche Krankheit, an der der Kläger leide, vorwiegend anlagebedingt; die Durchblutungsstörungen der Beine seien zu Recht als Schädigungsfolgen anerkannt, weil zu ihrer Entstehung die Erfrierung im Jahre 1944 mitgewirkt habe; dagegen könnten die 5 Jahre später in den Armen und seit etwa 1951 am Herzen aufgetretenen Durchblutungsstörungen nicht als Schädigungsfolgen anerkannt werden, denn sie seien nicht auf äußere Einflüsse zurückzuführen; der abweichenden Ansicht von Dr. H. und der Gutachter der Neurologischen Abteilung des Krankenhauses der LVA. Baden könne nicht gefolgt werden, weil diese Gutachter den erheblichen zeitlichen Abstand zwischen der Erfrierung und dem Auftreten der Durchblutungsstörungen in den Armen und am Herzen nicht berücksichtigt hätten. Die Revision ließ das LSG. nicht zu.

Das Urteil wurde dem Kläger am 28. Januar 1957 zugestellt. Am 22. Februar 1957 legte er Revision ein und beantragte,

das Urteil des LSG. Baden-Württemberg vom 8. Januar 1957 aufzuheben und Rente für völlige Erwerbsunfähigkeit zu gewähren,

hilfsweise,

das Urteil des LSG. Baden-Württemberg vom 8. Januar 1957 aufzuheben und festzustellen, daß die Durchblutungsstörungen der Arme und am Herzen ursächlich auf den Wehrdienst zurückzuführen sind,

hilfsweise,

das Urteil des LSG. Baden-Württemberg vom 8. Januar 1957 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Am 18. März 1957 begründete er die Revision: Zu Unrecht gehe das LSG. davon aus, daß die Durchblutungsstörungen in den Armen und im Herzen 5 bzw. 7 Jahre nach Beendigung des Wehrdienstes aufgetreten seien; für diese Feststellung fehle jeder Anhalt; der Kläger habe bei der Untersuchung in der L.-K.-Klinik angegeben, er habe bereits seit 1944 bzw. 1945 ein taubes Gefühl und Kribbeln in den Armen sowie Herzbeschwerden gehabt; das Gutachten sei auf diese Angaben nicht eingegangen; auch das LSG. habe dazu nicht Stellung genommen, sondern die Beurteilung der Sachverständigen über den Zeitpunkt des ersten Auftretens der Beschwerden in den Armen und am Herzen ohne eigene Begründung übernommen; auch für die Feststellung, daß bei dem Kläger eine Anlage zu Gefäßspasmen bestehe, fehle eine Begründung; unter diesen Umständen habe das LSG. seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären (§ 103 SGG) und die für die richterliche Überzeugung leitenden Gründe anzugeben (§ 128 Abs. 1 Satz 2 SGG), verletzt.

Der Beklagte beantragte,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

sie als unbegründet zurückzuweisen.

Der Kläger und der Beklagte beantragten, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.

II

1.) Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; der Kläger rügt mit Recht, das Verfahren des LSG. leide an einem wesentlichen Mangel.

Das LSG. verneint den ursächlichen Zusammenhang der Durchblutungsstörungen an den Armen und am Herzen des Klägers mit wehrdienstlichen Einflüssen, weil zwischen der Entlassung des Klägers aus dem Wehrdienst und dem erstmaligen Auftreten dieser Durchblutungsstörungen 5 bzw. 7 Jahre verstrichen seien; es führt jedoch nicht aus, wie es zu der nach seiner Ansicht erheblichen tatsächlichen Feststellung, die Durchblutungsstörungen in den Armen seien erst 5 Jahre und die Durchblutungsstörungen am Herzen 7 Jahre nach der Entlassung entstanden, kommt.

a) Durchblutungsstörungen in den Armen des Klägers sind zwar erstmalig im Jahre 1949 in dem Gutachten des Krankenhauses der LVA. Baden in Wiesloch festgestellt worden; mit Recht weist aber die Revision darauf hin, daß nach den Angaben des Klägers solche Durchblutungsstörungen bereits früher aufgetreten seien. Wie aus den Akten ersichtlich ist, hat der Kläger bei der Untersuchung im Krankenhaus Wiesloch im Jahre 1949 behauptet, er habe nach Abheilung der Wunden an den Füßen weiterhin stets das Gefühl gehabt, als ob ihm die Beine abstürben, dasselbe pelzige Gefühl habe sich dann auch im linken Arm eingestellt, seit Anfang 1947 habe er dies auch in der rechten Hand bemerkt; bei der Untersuchung in der L.-K.-Klinik im Jahre 1952 hat der Kläger angegeben, er habe seit etwa 1944 bzw. 1945 ein taubes Gefühl und Kribbeln in den Armen. Das LSG. ist zwar befugt gewesen, diese Behauptungen des Klägers frei zu würdigen; da es sich aber seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu bilden hat, hätte es sich jedenfalls mit diesen Angaben auseinandersetzen und darlegen müssen, aus welchen Gründen es ihnen nicht gefolgt ist. Hierzu hat schon deshalb Anlaß bestanden, weil der Kläger im Krankenhaus W. im Jahre 1949 überhaupt zum ersten Male gründlich untersucht worden ist, während sich die Versorgungsbehörde bis dahin immer mit dem "versorgungsärztlichen Kurzzeugnis" vom 1. März 1946 begnügt hat; es haben also für die Jahre 1946 bis 1949 keine ärztlichen Befunde vorgelegen, die etwa zum Vergleich mit den Angaben des Klägers bei der Untersuchung im Jahre 1949 hätten herangezogen werden können; allein aus dem Umstand, daß die Durchblutungsstörungen in den Armen 1949 festgestellt worden sind, hat sich nicht schon herleiten lassen, daß sie vorher nicht bestanden haben; auch die Sachverständigen der L.-K.-Klinik haben dies ohne Angabe von Gründen unterstellt. Wenn das LSG. diese Feststellung ausschließlich an Hand des Gutachtens getroffen hat, so hat es damit die Grenzen seines Rechts, das Gesamtergebnis des Verfahrens frei zu würdigen (§ 128 SGG, vgl. dazu BSG. 2, S. 236 ff. und Urteil des erkennenden Senats vom 14.5.1958, 11/9 RV 1076/55) überschritten. Es hätte sich zu weiteren Ermittlungen über den Beginn dieser Durchblutungsstörungen gedrängt fühlen müssen. Die Ermittlung des Beginns einer Krankheit gehört zur Feststellung des Sachverhalts; diese ist nicht Aufgabe eines Sachverständigen, sondern Sache des Richters (Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Auflage S. 568). Angaben über den Beginn der fraglichen Durchblutungsstörungen hätte möglicherweise die Ärztin Dr. ... die den Kläger nach der Bescheinigung vom 30. Juli 1949 seit 1947 wegen "Durchblutungsstörungen" behandelt hat, machen können; es ist bisher auch nicht versucht worden, Unterlagen über die Lazarettaufenthalte des Klägers zu ermitteln und beizuziehen. Das LSG. hat deshalb, wenn es hinsichtlich des Krankheitsbeginns allein den Ausführungen der Gutachter gefolgt ist, die mit den Angaben des Klägers nicht übereinstimmen, auch seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären (§ 103 SGG), verletzt.

b) Entsprechendes gilt für die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen wehrdienstlichen Einflüssen und den Durchblutungsstörungen am Herzen. Durchblutungsstörungen am Herzen sind erstmals elektrokardiographisch bei der Untersuchung durch Dr. ... im Jahre 1952 festgestellt worden. Es ist aber nicht ersichtlich, inwiefern sich hieraus allein ein Schluß hinsichtlich des Beginns der Erkrankung ziehen läßt. Auch insoweit hätte sich das LSG. mit den Angaben, die der Kläger bei der Untersuchung in der Ludolf-Krehl-Klinik im Jahre 1952 über den Zeitpunkt der Entstehung seiner Herzbeschwerden gemacht hat, auseinandersetzen müssen.

2.) Die Revision, die auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden ist, ist hiernach zulässig.

3.) Die Revision ist auch begründet; es ist möglich, daß das LSG., wenn es sich bei der Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens in den Grenzen des § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG hält und seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 103 Satz 1 SGG) voll erfüllt, zu einer anderen Entscheidung kommt. Das angefochtene Urteil beruht mithin auf den gerügten Mängeln in dem Verfahren des LSG. (§ 162 Abs. 2 SGG, BSG. 2 S. 197 ff [201], Haueisen, NJW. 1955 S. 1857 ff. [unter IV 2]); es ist daher aufzuheben. Da weitere Ermittlungen erforderlich sind, kann das Bundessozialgericht nicht selbst entscheiden; die Sache ist vielmehr zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2180155

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge