Leitsatz (redaktionell)

Bezeichnet der Kläger die Schädigungsfolgen im einzelnen nicht, ist sein Begehren im Zweifel dahin auszulegen, daß er die Feststellung aller in Betracht kommenden Schädigungsfolgen begehrt.

 

Normenkette

SGG § 123 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 18. Dezember 1956 wird aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Durch Bescheid vom 20. November 1948 gewährte die Landesversicherungsanstalt (LVA.) Oldenburg-Bremen (Außenstelle Oldenburg) dem Kläger nach der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 wegen "Verlust sämtlicher Zehen des rechten Fußes" Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 30 v. H. Wegen der gleichen Körperschäden und nach demselben Grad der MdE. gewährte das Versorgungsamt (VersorgA.) Oldenburg dem Kläger durch Umanerkennungsbescheid vom 5. April 1951 Rente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Im Anschluß an eine Nachuntersuchung entzog das VersorgA. die Rente nach § 86 Abs. 3 BVG mit Bescheid vom 6. Mai 1953, weil die MdE. weniger als 25 v. H. betrage. Den Einspruch wies der Beschwerdeausschuß am 28. September 1954 zurück. Auf die Berufung, die am 1. Januar 1954 als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Aurich überging, erkannte das SG. durch Urteil vom 11. August 1955 auch die Hornhautbildung unter dem linken Fuß als Schädigungsfolge im Sinne des BVG an, im übrigen wies es die Klage ab. Mit der Berufung beantragte der Kläger, die Kontraktur der Strecksehnen des linken Fußes als Erfrierungsfolgen und somit als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen und den Beklagten zu verurteilen, ihm über den 30. Juni 1953 hinaus Rente nach einer MdE. um 30 v. H. zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG.) ließ den Kläger am Terminstag durch den Facharzt für Chirurgie Dr. P untersuchen und hörte diesen dann in der mündlichen Verhandlung vom 18. Dezember 1956 als Sachverständigen.

Durch Urteil vom 18. Dezember 1956 erkannte das LSG. "Verlust sämtlicher Zehen des rechten Fußes, Kontraktur der Strecksehnen sämtlicher Zehen des linken Fußes, Durchblutungsstörungen an beiden Füßen, Bewegungsbehinderung in den Sprunggelenken beider Füße, Schwielenbildung unter dem linken Fuß" als Schädigungsfolgen im Sinne des BVG an und verurteilte den Beklagten, dem Kläger Rente nach einer MdE. um 30 v. H. zu gewähren: Beide Füße des Klägers seien durch Kälteeinwirkungen im Kriege geschädigt worden; rechts seien wegen Erfrierungen 3. Grades sämtliche Zehen entfernt worden; links sei es durch Kälte zu einer Kontraktur der Strecksehnen sämtlicher Zehen gekommen; die Bewegung der Füße im Sprunggelenk sei behindert, die Durchblutung sei an beiden Füßen gestört. Das Urteil wurde dem Beklagten am 8. Februar 1957 zugestellt, am 7. März 1957 legte er Revision ein und beantragte,

das Urteil des LSG. Celle vom 18. Dezember 1956 und das Urteil des SG. Aurich vom 11. August 1955 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. Celle zurückzuverweisen.

Am 7. Mai 1957 - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 8. Mai 1957 - begründete er die Revision: Das LSG. habe zu Unrecht die Kontraktur der Strecksehnen sämtlicher Zehen des linken Fußes, die Durchblutungsstörungen an beiden Füßen und die Bewegungsbehinderung in den Sprunggelenken beider Füße als Schädigungsfolgen im Sinne des BVG anerkannt und dem Kläger eine Rente nach einer MdE. um 30 v. H. zugesprochen; die Anerkennung der Durchblutungsstörungen an beiden Füßen und der Bewegungsbehinderung in den Sprunggelenken beider Füße als Schädigungsfolgen habe der Kläger überhaupt nicht beantragt; das LSG. habe somit gegen § 123 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen, denn es habe über einen Anspruch entschieden, den der Kläger nicht erhoben habe; der Sachverständige Dr. P dem das LSG. offenbar gefolgt sei, habe sich nicht dahin geäußert, daß die Bewegungsbehinderung in den Sprunggelenken beider Füße auf die Erfrierungen zurückzuführen sei; auch über Durchblutungsstörungen an beiden Füßen habe er nichts gesagt; insoweit könne sich die Entscheidung des LSG. nicht auf das Gutachten des Dr. P stützen; eine Kontraktur der Strecksehnen könne gar nicht vorliegen, denn die Hammerzehenbildung, die unstreitig bei dem Kläger bestehe, werde durch eine Kontraktur der Beugesehnen verursacht; das LSG. habe unter diesen Umständen die Grenzen seines Rechts, die Beweise frei zu würdigen (§ 128 SGG), überschritten und seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 103 SGG) verletzt. Der Kläger beantragte,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

sie als unbegründet zurückzuweisen.

II

1.

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, der Beklagte hat mit Recht gerügt, das Verfahren des LSG. leide an einem wesentlichen Mangel.

Das LSG. hat u. a. "Durchblutungsstörungen an beiden Füßen" und "Bewegungsbehinderung in den Sprunggelenken beider Füße" als Schädigungsfolgen im Sinne des BVG anerkannt und bei der Bewertung der MdE. des Klägers berücksichtigt; es hat damit zwar nicht gegen § 123 SGG verstoßen, denn dem Vorbringen des Klägers ist zu entnehmen gewesen, daß die behaupteten Fußschäden als Schädigungsfolgen geltend gemacht werden; das LSG. hat daher auch insoweit entscheiden müssen; es hätte dies auch dann tun müssen, wenn der Kläger die Schädigungsfolgen im einzelnen nicht bezeichnet hätte, das Begehren des Klägers ist im Zweifel dahin auszulegen, daß er die Feststellung aller in Betracht kommenden Schädigungsfolgen begehrt (vgl. auch Urt. des BSG. vom 21.1.1959, 11/8 RV 181/57); das LSG. hat jedoch nicht ausreichend dargelegt, wie es zu der Annahme, auch diese Körperschäden seien Schädigungsfolgen, gekommen ist. Das LSG. hat zwar ausgeführt, der Facharzt für Chirurgie Dr. P habe in seinem Gutachten vom 18. Dezember 1956 die vom Kläger behaupteten "Erfrierungsfolgen" bestätigt, es hat aber seine Annahme, daß auch Durchblutungsstörungen an beiden Füßen und eine Bewegungsbehinderung in den Sprunggelenken beider Füße Schädigungsfolgen seien, nicht auf das Gutachten des Dr. P stützen können. Über Durchblutungsstörungen an beiden Füßen hat Dr. P in seinem Gutachten nichts gesagt; er hat auch insoweit keinen Befund erhoben; Dr. P hat zwar angenommen, bei dem Kläger sei eine Bewegungsbehinderung in den Sprunggelenken beider Füße vorhanden ; er hat sich aber nicht dazu geäußert, ob die Bewegungsbehinderung in den Sprunggelenken mit wehrdienstlichen Einflüssen im ursächlichen Zusammenhang stehe; aus dem allgemeinen Satz "durch Kälteeinwirkung ist eine Schädigung an beiden Füßen entstanden" hat das LSG. nicht ohne weiteres entnehmen dürfen, daß sämtliche Fußschäden des Klägers - einschließlich der Bewegungsbehinderung in den Sprunggelenken - auf die Kälteeinwirkungen, denen der Kläger im Kriege ausgesetzt gewesen ist, zurückzuführen seien. Das LSG. hat erkennen müssen, daß das Gutachten des Dr. P keine eindeutige, keine erschöpfende und auch keine ausreichend begründete Stellungnahme zu allen hier zu beurteilenden medizinischen Fragen enthalten hat; es hat daher entweder Dr. P veranlassen müssen, sein Gutachten zu vervollständigen, oder es hat den medizinischen Sachverhalt durch Einholung eines weiteren ärztlichen Gutachtens klären müssen. Das Krankheitsbild und seine Ursachen - insbesondere hinsichtlich der Bewegungsbehinderung der Sprunggelenke - hat nur durch eine eingehende Untersuchung des Klägers, zu der auch eine orientierende Röntgenuntersuchung der Füße, insbesondere der Sprunggelenke gehört hat, geklärt werden können, auf solche Untersuchungen hat Dr. P sein Gutachten nicht stützen können. Das Gutachten des Dr. P hat dem LSG. daher keine ausreichende und geeignete Beweisgrundlage bieten können (vgl. auch Urt. des BSG. v. 21.1.1959 - 11/9 RV 206/57). Das LSG. hat unter diesen Umständen die Grenzen seines Rechts, die Beweise frei zu würdigen (§ 128 SGG), überschritten und gleichzeitig auch seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (§ 103 SGG), verletzt,

2.

Die Revision ist auch begründet. Das Urteil beruht auf dem gerügten Mangel des Verfahrens; denn es ist möglich, daß das LSG. bei richtiger Anwendung der verfahrensrechtlichen Vorschriften zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre (BSG. 2, 197 (201)). Das Urteil ist daher aufzuheben. Der Senat kann nicht selbst entscheiden, da hierzu noch tatsächliche Feststellungen erforderlich sind. Die Sache ist daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Bei der erneuten Verhandlung wird das LSG. auch zu prüfen haben, ob ihm nicht insoweit ein Irrtum unterlaufen ist, als es - wie auch Dr. P - angenommen hat, es liege bei dem Kläger eine Kontraktur der Strecksehnen sämtlicher Zehen des linken Fußes vor; die bei dem Kläger unstreitig vorhandene Hammerzehenbildung wird offenbar nicht durch eine Kontraktur der Streck sehnen, sondern durch eine Kontraktur der Beuge sehnen verursacht.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des LSG. vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2387454

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