Leitsatz (redaktionell)
1. Zum Begriff der Unterhaltsverpflichtung "aus sonstigen Gründen" iS des AVG § 42 (Geschiedenenwitwenrente).
2. Eine privatschriftlich eingegangene Unterhaltsverpflichtung kann zwar einen "sonstigen Grund" iS des AVG § 42 (RVO § 1265) darstellen, jedoch kann eine solche Erklärung jederzeit formlos wieder aufgehoben oder durch eine wesentliche Änderung der Umstände wirkungslos werden.
Bei der Prüfung des Leistungsanspruchs für die geschiedene Ehefrau ist daher zu beachten, ob solche Umstände aus der Lebens- und Verhaltensweise der geschiedenen Ehefrau und des Versicherten nach der Scheidung entnommen werden können; dabei ist zu untersuchen, ob die vor der Scheidung abgegebene Unterhaltserklärung des Versicherten bis zu der Zeit seines Todes fortbestanden hat oder ob sie bereits vorher ihre Geltung verloren hatte.
Normenkette
AVG § 42 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 28. Oktober 1960 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. November 1956 werden aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin erstrebt die Gewährung einer Hinterbliebenenrente als geschiedene Frau des Versicherten. Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat zu dem Antrag der Klägerin folgendes festgestellt:
Der Versicherte und die Klägerin haben 1922 geheiratet. Der Versicherte war technischer Kaufmann und verdiente von 1939 an bis zum Kriegsende etwa 500.-- RM im Monat. Die Klägerin blieb während der Ehe erwerbstätig. 1941 verließ der Versicherte die Klägerin, weil er Beziehungen zu einer anderen Frau unterhielt und diese heiraten wollte. Die Scheidung wurde aber zunächst bis Kriegsende zurückgestellt. Der Versicherte überließ der Klägerin die Wohnungseinrichtung und veranlaßte, daß sie an seiner Stelle in den Mietvertrag eintrat. Am Tage der Trennung, dem 1. Oktober 1941, verpflichtete er sich privatschriftlich, der Klägerin - auch für den Fall einer Scheidung- 70.-- RM Unterhalt im Monat zu zahlen. Diese Abmachung sollte, wie es in der Verpflichtungserklärung hieß, eine Unterhaltsklage vermeiden. 1943 zog der Versicherte, der bei einem Bombenangriff seine neue Unterkunft verloren hatte, als Untermieter - ohne Lebensgemeinschaft - in die Wohnung der Klägerin. 1945 wurde die Ehe aus beiderseitigem Verschulden geschieden. Die Wohngemeinschaft blieb - bis zum Tode des Versicherten - bestehen. Der Versicherte heiratete nicht wieder. In den Jahren 1945 bis 1948 verdiente er als Arbeiter etwa 100.-- RM wöchentlich. In dieser Zeit war die Klägerin arbeitslos und wurde von dem Versicherten unterhalten. 1949 war der Versicherte arbeitsunfähig krank. Von 1950 an erhielt er eine Rente wegen Berufsunfähigkeit. Diese betrug zuletzt 116,90 DM monatlich. Während der Zeit des Rentenbezugs arbeitete der Versicherte in einer Fahrradreparaturwerkstatt als Hilfsmonteur. Sein Gesamteinkommen lag etwas unter dem Arbeitsverdienst der Klägerin, der zu dieser Zeit monatlich 365.-- DM netto erreichte. In den Jahren vor seinem Tode war der Versicherte infolge seines verschlechterten Gesundheitszustandes oft pflegebedürftig. Er starb im Dezember 1954. Im letzten Jahr vor seinem Tode leistete er der Klägerin keinen Unterhalt.
Die Klägerin beantragte, nachdem ein früherer Rentenantrag aufgrund der damaligen Gesetzeslage (§ 28 Abs. 3 AVG aF, § 1256 Abs. 4 RVO aF) 1955 abgelehnt worden war, erneut 1957, gestützt auf das inzwischen in Kraft getretene "Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten" (AnVNG), die Zuerkennung einer Hinterbliebenenrente. Die Beklagte lehnte auch diesen Antrag ab. Das Sozialgericht (SG) Berlin gab der Klage jedoch statt (Urteil vom 28. November 1958). Das LSG Berlin bestätigte das erstinstanzliche Urteil; der Versicherte hätte zur Zeit seines Todes der Klägerin "aus einem sonstigen Grund" im Sinne des § 42 AVG nF, nämlich aufgrund der Verpflichtungserklärung vom 1. Oktober 1941, Unterhalt zu leisten gehabt, womit der Anspruch auf Hinterbliebenenrente, weil auch alle übrigen Rentenvoraussetzungen vorliegen, begründet sei; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 28. Oktober 1960).
Die Beklagte legte gegen das Urteil des LSG Revision ein und beantragte, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie begründete die Revision mit der Rüge, das Berufungsgericht habe § 42 AVG nF nicht richtig angewandt.
Die Klägerin beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Die geschiedene Frau eines verstorbenen Versicherten erhält eine Hinterbliebenenrente, wenn die Wartezeit erfüllt ist und ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt tatsächlich geleistet hat. Diese Vorschrift gilt auch dann, wenn der frühere Ehemann bereits vor dem Inkrafttreten des AnVNG am 1. Januar 1957 gestorben ist (§§ 40, 42 AVG nF; Art. 2 § 18 AnVNG). Das LSG hat zu Recht entschieden, daß der Versicherte zur Zeit seines Todes der Klägerin keinen Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten hatte, weil die Ehe aus beiderseitigen Verschulden geschieden war und sich die Klägerin selbst unterhalten konnte (§ 60 EheG). Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, an die das Revisionsgericht gebunden ist (§ 163 SGG), hat der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode der Klägerin auch keinen Unterhalt geleistet. Damit entfallen zwei von den drei Alternativen des § 42 AVG nF. Die Beteiligten haben insoweit keine Bedenken gegen das Urteil des LSG vorgebracht. Umstritten ist allein, ob der Versicherte der Klägerin aus einem sonstigen Grund Unterhält zu leisten hatte. Als ein solcher Grund könnte. die privatschriftlich eingegangene Unterhaltsverpflichtung des Versicherten in Betracht kommen. Das Bedenken der Beklagten, daß dafür eine privatschriftliche Erklärung überhaupt ausscheide, ist, wie schon das LSG zutreffend angenommen hat, nicht berechtigt; weder das Gesetz noch die von der Beklagten in diesem Zusammenhang erwähnte Entscheidung des Bundessozialgerichts zur Frage, ob ein Vollstreckungstitel einen "sonstigen Grund" im Sinne des § 42 AVG nF bilden kann (BSG 8, 24), geben einen Anhalt dafür, daß in dieser Vorschrift nur bestimmte formgebundene Verpflichtungsurkunden gemeint seien. Voraussetzung für die Anerkennung einer früher einmal abgegebenen Unterhaltserklärung als Verpflichtungsgrund ist jedoch, daß diese zur Zeit des Todes des Versicherten noch wirksam war. Daran fehlt es im vorliegenden Fall.
Privatschriftlich abgeschlossene Unterhaltsverträge sind in weitem Umfang der Auslegung zugänglich; sie können auch - anders als etwa Vollstreckungstitel (§ 323 Absätze 1 und 4 ZPO) - formlos wieder aufgehoben oder durch eine wesentliche Veränderung der Umstände wirkungslos werden (vgl. Palandt/Lauterbach, Bürgerliches Gesetzbuch, 20. Aufl., § 72 EheG Anm. 2). Es sind deshalb auch die schlüssigen Willenserklärung, die in dem späteren Verhalten des Versicherten und der Klägerin liegen, zu beachten. Das hat das LSG bei seiner Entscheidung übersehen.
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Erklärung des Versicherten vom 1. Oktober 1941 überhaupt eine selbständige Unterhaltsverpflichtung begründen oder ob sie nur die Höhe des Unterhalts festlegen wollte. Für die letztere Auffassung spricht, daß sich die Unterhaltsverpflichtung selbst - zu jener Zeit bestand die Ehe noch und der Versicherte war unterhaltsfähig -unmittelbar aus dem Gesetz ergab (§ 1360 BGB aF); das gilt auch hinsichtlich des Unterhaltsversprechens für die Zeit nach der geplanten Scheidung, weil der Versicherte den Umständen nach davon ausgehen mußte, daß er allein für schuldig erklärt werden und deshalb unterhaltspflichtig bleiben würde. Selbst wenn aber die Erklärung dahin verstanden werden müßte, daß der Versicherte unabhängig von einer solchen Verpflichtung Unterhalt leisten wollte, so ist sie jedenfalls durch die in der späteren Lebensgestaltung liegenden Willenserklärungen des Versicherten und der Klägerin hinfällig geworden. Die Verpflichtungserklärung bezog sich seinerzeit auf die als endgültig angesehene Trennung der Eheleute. Später, als der Versicherte wieder bei der Klägerin wohnte und den Plan einer Wiederheirat aufgegeben hatte, richteten die - nunmehr - Geschiedenen ihr gegenseitiges Verhältnis so ein, daß dadurch die alte Unterhaltsregelung als überholt gelten mußte. Sie war fortan nicht mehr die Grundlage etwaiger Unterhaltsleistungen. Vielmehr wurde die Wohngemeinschaft so stark ausgebildet, daß sich beide Partner je nach den Bedürfnissen des einzelnen gegenseitig unterstützten. So hat der Versicherte die Klägerin in den Jahren ihrer Arbeitslosigkeit unterhalten, andererseits hat die Klägerin dem Versicherten Jahre hindurch Pflege und Hilfe zuteil werden lassen sie hat es auch ohne Widerspruch hingenommen, daß der Versicherte jahrelang keine Unterhaltsleistungen mehr - zumindest nicht in der vereinbarten Form und Höhe - erbrachte. Diese Umstände sprechen gegen eine fortdauernde einseitige Unterhaltspflicht des Versicherten und dafür, daß die beiden Partner die Verpflichtungserklärung aus dem Jahre 1941 für unwirksam betrachteten. Damit verlor diese ihre Geltung. Sie vermochte deshalb zur Zeit des Todes des Versicherten dessen Leistungspflicht nicht mehr zu begründen. Ein sonstiger Grund im Sinne des § 42 AVG nF liegt daher nicht vor.
Die Klägerin hat durch die Scheidung die Stellung als Ehefrau verloren und damit nach dem Tode des Versicherten das Anrecht auf eine Witwenrente eingebüßt. Die Wohngemeinschaft, die gegenseitigen Hilfeleistungen und die persönliche Fürsorge allein begründen keinen Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente.
Die Vorinstanzen hätten der Klägerin die Hinterbliebenenrente nicht zusprechen dürfen. Auf die Revision der Beklagten hin muß der Ablehnungsbescheid wieder hergestellt werden (§§ 170 Abs. 2, 193 SGG).
Fundstellen