Leitsatz (redaktionell)

1. Die plötzliche Erkrankung des Prozeßbevollmächtigten einer Partei am Tage vor der mündlichen Verhandlung ist ein "erheblicher Grund" für deren Verlegung.

2. ZPO § 227 ist nach SGG § 202 entsprechend anzuwenden.

Wenn erhebliche Gründe vorliegen, ist das Gericht zur Terminsverlegung regelmäßig verpflichtet, selbst dann, wenn es die Sache für entscheidungsreif hält.

 

Normenkette

SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 227 Fassung: 1950-09-12; SGG § 202

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Oktober 1962 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger beantragte bei der Beklagten, die Zeiten seiner Beschäftigung als Betriebsleiter von 1923 bis 1930 als Beitragszeiten zur Angestelltenversicherung anzuerkennen und die angeblich verlorengegangenen Versicherungskarten für diese Zeit zu ersetzen. Die Beklagte lehnte den Antrag ab. Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers waren ohne Erfolg.

Zur mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) waren der Kläger und sein Prozeßbevollmächtigter nicht erschienen. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hatte am Tage zuvor fernmündlich und schriftlich beantragt, den Termin aufzuheben, weil er bettlägerig erkrankt sei. Das LSG gab dem Vertagungsantrag nicht statt. Es führte in den Gründen seines Urteils aus, daß wesentliche neue Gesichtspunkte, die im Verlauf des Verfahrens nicht bereits schriftlich vorgetragen wurden oder vorgetragen werden konnten, nicht vorhanden seien. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers habe schon vor mehr als Jahresfrist Akteneinsicht genommen, sich gleichwohl aber nicht schriftsätzlich zur Sache geäußert. Im Hinblick auf die angespannte Geschäftslage des Berufungsgerichts und den soweit wie möglich geklärten Sachverhalt sei ein weiteres Hinausschieben der Entscheidung auch unter Berücksichtigung der plötzlichen Erkrankung des Prozeßbevollmächtigten des Klägers nicht geboten.

Mit der - vom LSG nicht zugelassenen - Revision beantragte der Kläger, die Urteile des Sozialgerichts und des LSG abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides in der Fassung des Widerspruchsbescheides zu verurteilen, bei ihm eine Beitragszeit zur Angestelltenversicherung von April 1923 bis Oktober 1930 anzuerkennen, hilfsweise, das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Der Kläger sieht einen wesentlichen Verfahrensmangel darin, daß das LSG dem Antrag auf Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung nicht entsprochen habe. Die Ablehnung des Vertagungsantrages stelle eine Versagung des rechtlichen Gehörs dar. Wenn der Gesetzgeber die mündliche Verhandlung als Voraussetzung für die Entscheidung anordne, dann müsse die Unmöglichkeit, in dieser Verhandlung zu erscheinen, als erheblicher Grund im Sinne des § 227 der Zivilprozeßordnung (ZPO) anerkannt werden.

Die Beklagte beantragte, die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist auch statthaft, weil der Kläger einen wesentlichen Mangel im Verfahren des Berufungsgerichts gerügt hat und der Mangel vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Das LSG durfte nach Lage des Falles den Antrag auf Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht ablehnen.

Wegen der Bedeutung, die auch im sozialgerichtlichen Verfahren der mündlichen Verhandlung zukommt (BSG 1, 277, 278 und 17, 44, 46), bedarf der Antrag eines Beteiligten auf Terminsverlegung einer sorgfältigen Prüfung. Ein derartiger Verlegungsantrag ist nach § 227 ZPO zu beurteilen. Diese Vorschrift ist für das sozialgerichtliche Verfahren entsprechend anzuwenden, weil das SGG hierzu keine eigenen Bestimmungen enthält und grundsätzliche Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen (§ 202 SGG).

Nach § 227 ZPO kann das Gericht "aus erheblichen Gründen" auf Antrag oder von Amts wegen einen Termin aufheben und verlegen. Die Ermessensfreiheit, die für das Gericht nach dem Gesetzeswortlaut insoweit besteht, darf jedoch nicht dazu führen, das rechtliche Gehör (§ 62 SGG) zu verkürzen. Wenn erhebliche Gründe vorliegen, so ist das Gericht zur Terminsverlegung nicht nur befugt, sondern zur Sicherung des rechtlichen Gehörs der Beteiligten regelmäßig auch verpflichtet. Das gilt selbst dann, wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält. Der Sinn des rechtlichen Gehörs besteht nicht allein darin, eine erschöpfende Aufklärung des Sachverhalts zu ermöglichen und eine richtige Entscheidung zu verbürgen; es dient vielmehr auch der Achtung vor der Persönlichkeit und der Würde der Rechtsgenossen (BSG, SozR SGG § 62 Bl. Da 2 Nr. 6 und SGG § 106 Bl. Da 5 Nr. 13).

Die plötzliche Erkrankung des Prozeßbevollmächtigten des Klägers war ein erheblicher Grund für eine Terminsaufhebung. Sie war durch ein ärztliches Zeugnis, das völlige Bewegungsunfähigkeit und Bettlägerigkeit wegen einer akut aufgetretenen Ischialgie mit einer voraussichtlichen Krankheitsdauer von etwa zwei Wochen bescheinigte, ausreichend belegt. Anhaltspunkte dafür, daß die Krankheit nicht oder nicht in der bescheinigten Schwere vorlag, bestehen nicht. Der Kläger brauchte an der Wahrnehmung der mündlichen Verhandlung nicht persönlich verhindert zu sein. Ein erheblicher Grund im Sinne des § 227 ZPO lag bereits in der Verhinderung seines Prozeßbevollmächtigten. Dem Kläger durfte nicht die Möglichkeit genommen werden, sich durch einen Rechtsanwalt in der mündlichen Verhandlung vertreten zu lassen. Das Recht des Beteiligten auf Wahrnehmung des Termins zur mündlichen Verhandlung und damit auf Gewährung des rechtlichen Gehörs soll ihm Gelegenheit nicht nur zur Äußerung, sondern zur sachlichen und ausreichenden Äußerung geben. Zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung dient aber im allgemeinen die Vertretung durch einen Rechtsanwalt.

Der Antrag auf Terminsverlegung mußte auch noch als begründet erscheinen, obwohl der Prozeßbevollmächtigte des Klägers von der Einsichtnahme in die Akten bis zur mündlichen Verhandlung mehr als ein Jahr Zeit gehabt hatte, sich schriftlich zur Sache zu äußern. Die Vorbereitung der mündlichen Verhandlung durch Schriftsätze ist zwar auch im sozialgerichtlichen Verfahren üblich und wäre auch im vorliegenden Rechtsstreit - vollends wenn der Kläger durch einen Rechtsanwalt als Prozeßbevollmächtigten vertreten war - sachgemäß gewesen; sie ist aber im Gesetz nicht zwingend vorgeschrieben (§ 108 SGG). Die Beteiligten sind berechtigt, ihre Ausführungen erst in der mündlichen Verhandlung zu machen. Deshalb durfte das LSG die Ablehnung des Vertagungsantrages nicht darauf stützen, daß sich der Prozeßbevollmächtigte des Klägers schon vor der mündlichen Verhandlung schriftsätzlich zur Sache äußern konnte, dies um so weniger, als es die Beteiligten in der Ladung zur mündlichen Verhandlung benachrichtigt hatte, daß die Versicherungsunterlagen eines Zeugen als Beweismittel beigezogen worden seien (§ 127 SGG).

Auch die angespannte Geschäftslage des Berufungsgerichts konnte es nicht rechtfertigen, den Antrag auf Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung abzulehnen. Wenn das Gericht einen Vertagungsantrag auch unter dem Gesichtspunkt der gebotenen Beschleunigung des Verfahrens zu prüfen hat, so darf es hierbei die Notwendigkeit des rechtlichen Gehörs nicht außer acht lassen. Der Grundsatz, daß der Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen ist (§ 106 Abs. 2 SGG), kann dem Gebot des rechtlichen Gehörs aus rechtsstaatlichen Gründen nicht vorgehen (BSG in SozR Da 5 Nr. 13 zu § 106 SGG).

Die Verletzung des - auch grundsätzlich geschützten (Art. 103 des Grundgesetzes) - Anspruchs auf das rechtliche Gehör bedeutet einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne von § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Der Mangel macht die Revision statthaft.

Die Revision ist auch begründet. Es ist nicht auszuschließen, daß eine fehlerfreie Verhandlung ein für den Kläger günstigeres Ergebnis gebracht haben könnte. Eine nochmalige Verhandlung vor dem LSG ist erforderlich (§ 170 Abs. 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324424

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